Farbenfrohes Chaos der Gefühle

Anlässlich des 150. Geburtstags von Iwan Bunin, dem russischen Literaturnobelpreisträger, gab der Dörlemann Verlag unter dem Titel Leichter Atem ausgewählte Werke heraus. Bei einer Frühstücksmatinee hauchten die Schauspielerin Graziella Rossi und der Schauspieler Helmut Vogel sowie der Klarinettist Heinrich Mätzener Bunins Texten Leben ein. Die drei Kunstschaffenden standen hinter der Theke im Café Odeon – ein ungewöhnliches Bild. Sie formten ein eingespieltes Trio und verliehen den Erzählungen Charakter.

Die Lesung entführte die Besucher*innen auf eine Reise. Die erste Erzählung spielte im Jahre 1911 in Colombo und handelte von einem hochaktuellen Thema: Die Hauptfigur war unterwegs zum Bahnhof geblendet von all dem Weiss, das sie umgab. Sie suchte als Weisser Kontakt zu «Farbigen» und begab sich dafür auf eine Zugfahrt in der dritten Klasse. Die Geschichte schilderte das brandaktuelle Problem von unbewussten Privilegien, Unverständnis und Rassismus gegenüber anderen Menschengruppen.

«Der Sohn», die zweite Erzählung, nahm uns mit nach Constantine in Algerien. Sie steckte voller Leidenschaft und Gefühlschaos. Auch diese Geschichte schien äusserst zeitgemäss, denn sie erinnerte mich an das Modewort «friendzone» – Madame Mareau wies ihren Verehrer ab. Sie katapultierte ihn zwar nicht auf die Position eines Freundes, aber meinte zu ihm, er sei lediglich wie ein Sohn für sie. Schliesslich kam es zwischen den beiden Hauptfiguren dann doch zur Affäre, was ein tragisches Ende nahm.

Die Klarinettenklänge untermalten die Lesung virtuos. Mal vertonten sie einen warmen Luftzug oder den Streit mit einem verständnislosen Kassierer, mal erinnerten sie an das nervöse Stottern eines seltsamen Gesprächspartners oder an das Trippeln leichter Kinderfüsse. Der Musiker spielte passend zu den Texten Strawinsky und Ausschnitte aus Werken romantischer Komponisten. Insgesamt war es ein schöner Sonntagmorgen, bevölkert von Figuren und Eindrücken aus Bunins Geschichten, die uns zeigen, dass sich in unserer Gesellschaft und unseren Beziehungen vielleicht weniger verändert hat, als man meinen möchte.

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