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So rede mer be eus nid

Tom Kummer

Madeleine Buess' Autofiktion «Gross werden» vereint vieles: Kindheitserzählung, Frauenbiographie, Sozialanamnese und Sprachreflexion.

Von Laura Barberio
16. Januar 2020

Erst vor Kurzem ist Paula mit ihrer Familie von der Aargauer Kleinstadt in das Baselbieter Dorf gezogen und dabei noch nicht richtig angekommen. Wie alle Zugezogenen im Dorf fühlt sie sich fremd. Zu den offensichtlichen dialektalen Unterschieden kommt auch noch die Tatsache, dass Paula aus der Pfarrerfamilie stammt. Alle kennen ihren Vater, wodurch sie eigentlich mittendrin ist, aber richtig beachtet wird sie trotzdem von niemandem. Sie spürt, dass die Sprache gleichzeitig identitäts- und gesellschaftsstiftend sein kann und lernt deshalb die im Dorf übliche Aussprache der Wörter: «Paula hat auch eine Scheube an mit einem Nastuch drin, aber Fräulein Vogel sagt dem Schuurz.» Die typographisch nicht markierten Mundartwörter erschweren als viele kleine Irritationsmomente den Einstieg in den Text. Trotzdem gewinnt die Protagonistin die Sympathien ab der ersten Seite für sich. Die Familie und Mundart als wichtige Themen des Buches reihen sich ein in den momentanen Themenkanon der Schweizer Literatur. Nach Eidechsenkind, Bald und Schildkrötensoldat bringt Gross werden eine weitere Kinderperspektive ein.

Zurück in die 50er

Das Leben der Autorin und Pfarrerstocher Madeleine Buess, die selber als Fünfjährige mit den Eltern ins Baselbiet umgezogen ist, weist viele biografische Ähnlichkeiten zu Paula auf, welche sie in diesen Text als autofiktionale Elemente hat einfliessen lassen. Buess hat sich beispielsweise stark für Frauenrechte eingesetzt und war Teil der Zürcher Frauenbewegung. Auch im Roman werden durch Paula immer wieder Fragen nach Gleichberechtigung und Geschlechtlichkeit aufgeworfen. Zu einer Zeit, in der das Frauenstimmrecht an der Urne noch abgeschmettert wird, werden in der jungen Paula feministische Gedanken laut, ohne sie in ihrer politischen Dimension zu erkennen. «Das war komisch, dass die Frauen nichts dazu sagen durften, auch wenn es sie selber anging. Das ist wie bei uns Kindern, denkt Paula, wir dürfen auch nichts dazu sagen, wenn die Grossen über uns bestimmen.»

Zur Autorin

Madeleine Buess, geboren 1948 in Strengelbach (AG), wuchs im Basel-Biet in einer Pfarrersfamilie auf und lebt heute in Zofingen. Sie studierte Philosophie Tübingen, Heidelberg und Paris. Während ihres Studiums der Psychologie in Zürich engagierte sie sich in der Frauenbewegung und wirkte redaktionell an der Zeitschrift Frauezittig mit. Nach ihrem Studienabschluss arbeitete sie in einer Frauenberatungsstelle, machte sich daraufhin als Psychotherapeutin selbständig und betreibt heute ihre eigene Praxis in Zofingen. 1984 erschien Buess' erster Roman «Gangwechsel», der von ihren Erfahrungen in der Zürcher Frauenbewegung inspiriert ist. Nebst Prosa schreibt Buess auch Lyrik, so zuletzt der Gedichtband «Habseligkeiten» (2015).

Durch Paulas Erlebnisse in der Schule und ihre feinfühlige Beobachtungsgabe gelingt es Paula eines der aktuell bedeutendsten politischen Themen in den traditionellen Strukturen der 50er-Jahre aufzudecken. Sie nimmt gesellschaftliche Ungerechtigkeiten wahr, ohne sie zu banalisieren und behält dabei trotzdem die unschuldige Perspektive eines jungen Mädchens bei. Dadurch wird der Fokus auf das gesellschaftliche Ausmass gelenkt und gezeigt, dass der Kampf für die Gleichberechtigung im Kleinen beginnen muss.

Tiefe durch Simplifizierung

Buess ist es in ihrem neuen Roman gelungen, die Welt der 50er-Jahre aus den Augen und mit dem Wortschatz eines Kindes zu beschreiben. Durch diese oberflächliche Simplifizierung öffnet sich gleichzeitig eine neue Tiefe, auf die man sich bereitwillig einlässt. Denn dieser Perspektivenwechsel ist eine bereichernde Erfahrung, die es einem ermöglicht, selber mit Paula in ein Verhältnis zu treten. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklungen sowie der rasch steigende Lebensstandard werden durch die kindliche Sicht von Paula gezeichnet: «Das Dorf verändert sich. Überall an den Rändern explodiert eine neue Zeit. Das Neue macht Paula gwundrig und macht ihr Angst. Am Ende ist vielleicht der Rebberg überbaut, die Bauern reich, aber das Land, die Wiesen, die Bäume, die Reben, die Vögel: verschwunden.»

Gross werden reflektiert Sprache als Mittel der Assimilation und zeigt die damit einhergehenden Schwierigkeiten auf, wenn die Enge der Schweiz gleichzeitig dazu führt, dass man mit sehr vielen Dialekten in Kontakt kommt und in dieser Umgebung die eigene Identität und den Platz in der Gesellschaft finden muss. In der Beschreibung dieser Entwicklung und im Umgang mit Sprache, der Paulas Probleme fassbar macht, liegt die grosse Stärke dieses Romans. Paulas Geschichte ist eine lohnenswerte Lektüre, weil sie dem Schrei nach Gleichberechtigung eine neue, unschuldige Stimme verleiht, der man gerne zuhört.

Madeleine Buess: Gross werden. 239 Seiten. Basel: Zytglogge 2019, ca. 32 Franken.

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