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Die Ewigkeit ist das Mass aller Dinge

Therese Bichsel

Therese Bichsel porträtiert in ihrem neuesten historischen Roman Anna Seiler, die durch die Stiftung des Seiler-Spitals zur eigentlichen Gründerin des späteren Inselspitals in Bern wurde.

Von Regula Weber
12. Januar 2021

Bern, Juni 1339: Die Stadt ist voll von Kämpfern, die siegreich aus der Schlacht bei Laupen zurückkehren; viele sind verletzt und benötigen Pflege. Das Heiliggeistspital und das Niedere Spital sind komplett überfüllt, auch die Klöster können nicht alle aufnehmen. Als die junge, wohlhabende Witwe Anna Seiler die angespannte Situation erkennt, beschliesst sie, ihr Haus Verletzten zu öffnen und sie mit den Mitteln, die ihr zur Verfügung stehen, pflegen zu lassen. Mit dieser Entscheidung beginnt eine Entwicklung, die zur Gründung des Seiler-Spitals führen wird.

Tochter aus gutem Hause

Anna wächst als intelligente, behütete Tochter des Berner Burgers Peter ab Berg auf. Sie darf als geliebtes Kind des verwitweten Kaufmanns lesen und schreiben lernen und bekommt Einblick in die Geschäfte ihres Vaters. Ein Privileg, das ihr später zugutekommt, als sie – selbst früh verwitwet – gezwungen ist, ihr Leben möglichst selbstständig zu führen. Anders als ihre Cousine Anna von Kiental, die durch die äusseren Umstände bedingt in einem Kloster lebt, wird Anna im Alter von knapp 16 Jahren mit dem viel älteren Heinrich Seiler verheiratet, der ein Geschäftspartner ihres Vaters ist. Als junge Ehefrau lebt sie fortan mit ihm und der Magd Grit in seinem Haus. Annas Ehe wird überschattet von der Totgeburt ihres einzigen Sohnes und der sich daran anschliessenden Kinderlosigkeit. Sie sucht zunächst Trost in der Religion, bis sie durch die Tätigkeit ihres Mannes, der als Spitalvogt des Niederen Spitals in Bern amtiert, mit den Nöten der Armen und Kranken direkt konfrontiert wird.

Zur Person

Therese Bichsel, aufgewachsen im Emmental, studierte Germanistik und Anglistik an der Universität Bern und arbeitete von 2001 bis 2018 als Redaktorin beim Schweizer Parlament. 1997 erschien ihr Romandebüt «Schöne Schifferin» heraus, bis heute folgten acht weitere Romane, darunter «Catherine von Wattenwyl» (2004),  «Ihr Herz braucht einen Mann» (2006, eine Romanbiographie Marianne Ehrmanns), «Die Walserin» (2015) und «Überleben am Red River» (2018). Bichsel lebt in Unterseen und Bern.
Foto: © Bettina Brun

Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung

Nach Heinrichs Tod weist Anna Seiler einige Heiratskandidaten erfolgreich ab. Sie wählt auch nicht den Weg ins Kloster, den ihre Cousine Anna von Kiental eingeschlagen hat, sondern richtet ihr Handeln auf die diesseitige Welt aus. Nicht nur der Laupenkrieg, sondern vor allem auch die Pest, die 1349 in Bern wütet, unterstreichen die Notwendigkeit, die vorhandenen Ressourcen aktiv für die Mitmenschen einzusetzen. Selbstständiges, vorausschauendes Denken, Empathie und Zivilcourage zeichnen die kleine Gemeinschaft aus, die die Erkrankten während der Pestwelle in Annas Haus betreut.

Das Seiler-Spital – eine ewig währende Stiftung

Während die Räte von Bern ihr Testament und eine Stiftungsurkunde besprechen, die einen grossen Teil ihres Vermögens in eine Stiftung für ein ewiges Spital überführt, lässt Anna ihr Leben Revue passieren. Sie beschreibt sich als «ein neugieriges Mädchen, eine junge, unbedarfte Ehefrau an der Seite ihres älteren Mannes, eine reiche, noch junge Witwe, die keinen Sinn sah im Leben, ausser dem Sinn in Gott». Durch ihre Stiftung gelingt es Anna auch im weltlichen Bereich, ihr Geld umsichtig und nachhaltig zum Wohle anderer einzusetzen.

Therese Bichsel hat ihr Vorhaben, sich dem Leben Anna Seilers zu nähern und auf der Basis der bekannten Fakten die mögliche innere Entwicklung ihrer Hauptfigur nachzuzeichnen, konsequent ausgeführt. Die Stiftungsurkunde und das Testament Anna Seilers dienen als Ausganspunkt für die Beschäftigung mit dem möglichen Leben einer aussergewöhnlichen Frau, die in der mittelalterlichen Gesellschaft Berns ihren Weg zwischen Fremd- und Selbstbestimmung findet. Die Darstellung des Alltagslebens aus der Perspektive Annas ist anschaulich gelungen. In einer eingängigen Sprache, mithilfe eines klar strukturierten Aufbaus und dank historisch präzis und umfassend recherchierter Details wird es der Leser*in in vielen Dialogen und Schilderungen nahegebracht. Der Roman fügt sich damit in die von Therese Bichsel begonnene Reihe historischer Frauenporträts ein, die sie mit bekannteren Kolleginnen wie Eveline Hasler verbindet.

In einer von Männern dominierten Welt verwirklicht sich Anna Seiler als erwachsene Frau innerhalb ihres möglichen Handlungsrahmens, und zwar nach ihren altruistischen Werten. Mit ihrem Verhalten wird sie damit zum zeitlosen Vorbild «für mutige Frauen gestern und heute» – ganz im Sinne der Widmung Therese Bichsels.

Therese Bichsel: Anna Seilerin. Stifterin des Inselspitals. Roman, 300 Seiten. Basel: Zytglogge Verlag 2020, ca. 37 Franken.

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