Fest des Sinnlichen

Die algerische Küste, der Geruch von Meersalz in der Luft und ein brausendes Meer, das in rhythmischer Gleichmässigkeit an den Felsen zerschellt. In der aufgebrachten See spiegelt die Sonne wie in tausendfachen Scherben wieder. Es blendet.

Michel Voïta kneift im grellen Scheinwerferlicht die Augen zusammen und blickt auf einen imaginären Punkt über dem im Dunkeln sitzenden Publikum. Als stünde er am Rand dieser Küste und schaute hinaus auf das tosende Meer, durchfährt es ihn: quelle splendeurs du monde!

Mit einem Mal befinden wir uns nicht mehr in dem komplett in Schwarz gehaltenen Saal im Theater Neumarkt, sondern in der grell-blendenden Welt Albert Camus‘. In einer faszinierenden, szenischen Darbietung beschwört der Waadtländer Schauspieler Michel Voïta die Stimme des grossen Existenzialisten des 20. Jahrhunderts herauf. Die Texte, derer er sich dabei bedient, sind die autobiographischen Essaysammlungen Noces (dt. Titel: Hochzeit des Lichts) und L‘été, die in einer gewaltigen lyrischen Sprache der Absurdität unseres Daseins die Schönheit dieser Welt gegenüberstellt.

Es ist ein Fest des Sinnlichen, das in der Beschreibung einer algerischen Küstenstadt im Frühling in Versen gefeiert wird. Fast überschlägt sich Voïtas Stimme an der hyperbolischen Sprache, und immer wieder endet ein Satz in einem dramatischen Ausruf: les femmes! la mer! la nature! le désir de vivre!! Als versuchten sie die Schönheit dieser Welt auf ihrem Höhepunkt für immer zu bewahren und in Worte zu bannen. Das lyrische Ich nämlich weiss um die Vergänglichkeit und seinen eigenen Tod, der ewigen Dunkelheit danach und beschliesst sich gerade deshalb zu einer radikal gegenwärtigen Lebensweise. Camus schrieb Noces bereits 1938 im zarten Alter von 23 Jahren und die Zeilen zeugen bereits von seiner später so populär gewordenen existenzialistischen Philosophie als einer Philosophie des Absurden. Bei Camus ist das menschliche Leben von fundamentaler Sinnlosigkeit, aber le monde est beau – und das Leben trotz allem lebenswert, ja glücklich. Damit bricht er gleichwohl mit der christlichen Weltanschauung und folgt Friedrich Nietzsche in der häretischen Annahme, dass genau wie das Leben der Tod sinnlos ist und nach dem Tod nichts auf uns wartet.

Michel Voïta vermittelt die Tragik dieser Worte, offenbart auch die politische Subversion, die in ihnen mitschwingt, der Aufruf zur inneren Revolte, dieses Leben zu leben trotz ihrer Absurdität. Und so schliesst Voïta mit den Worten: Au milieu de l’hiver, j’apprends enfin qu’il y avait en moi un été invincible.

 

Zürich liest hin und wieder auch französisch. Mit dem welschen Schrifstellerkollektiv AJAR, der senegalesischen Schriftstellerin Mariètou Mbaye Biléoma, die unter dem Pseudonym Ken Bugul schreibt, und dem Comédien und Schauspieler Michel Voïta vertreten dieses Jahr drei Veranstaltungen die zweite Landessprache.

Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Ihre Bewegungen sind unaufgeregt, ruhig. Keine hastig ins Publikum geworfene Worte, als sie die Bühne des neuen Kulturzentrums Kosmos betritt. Kein nervöses Lächeln, als sie sich setzt. Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Behutsam legt sie ihre Brille vor sich aufs Pult, schlägt sie ihr neues Buch auf.

Das erste, was das Publikum zu hören bekommt – nach den zaudernd-einführenden Worten Bruno Deckerts vom Kosmos –, sind die dumpfen Klänge eines Kontrabasses, begleitet vom rhythmischen Spiel auf Perkussionsobjekten aus Konserven, Aludosen und Petflaschen. Mit auf der Bühne sind die beiden Musiker Mich Gerber und Balts Nill.

Der Auftakt zur Buchpremiere im überfüllten Saal ist eine Aufforderung, die Hektik der Langstrasse hinter sich zu lassen, anzukommen. Das Erste, was das Publikum von Melinda Nadj Abonji zu hören bekommt, sind ungarische Worte. Zuerst Worte, die sie begleitend zur Musik ins Mikrofon spricht. Dann Gesang.

Während rund einer Stunde liest die Autorin aus ihrem neuen Roman Der Schildkrötensoldat mit klarer, deutlicher Stimme. Ohne Pause. Im Saal herrscht beinahe andachtsvolle Stille. Die Geschichte von Zoltan Kertesz, dem stotternden Soldaten, der mit seinen himmelblauen Augen voller Poesie auf die Welt blickt, vermag das ausverkaufte Haus zu fesseln. Ihr neues Buch sei aber nicht eigentlich ein Roman – erläutert die Preisträgerin des Deutschen und Schweizer Buchpreises in ihrem Schlusswort –, sondern ein Requiem. Ein Abgesang auf einen verstorbenen Soldaten, der denselben Vornamen trug wie der Titelheld.

Die Premierenlesung von Melinda Nadj Abonjis drittem Roman endet, wie sie begonnen hat: Mit musikalischen Klängen und Sprechgesang. Das Tempo, in dem sich nach dem letzten Satz der Autorin auf einmal alles auflöst, kontrastiert gewaltig mit der geruhsamen Inszenierung der Lesung. Ich für meinen Teil bin noch nicht wieder ganz zurück aus meiner Zuhörertrance, als ich noch rasch mein Handy zücke, um den Moment des Aufbruchs festzuhalten. Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Eine wie keine

Wer hat ihre Bücher nicht gelesen? Gerade der Klassiker der Jugendbuch-Literatur Der rote Seidenschal? Jede Frau kennt das Buch und die Autorin dahinter. Federica de Cesco, die Schriftstellerin, die sich mit ihren sehnsuchtsvollen und abenteuerversprechenden Romanen in unsere Herzen geschrieben hat. Die Frauenfiguren ihrer Romane, die angetrieben sind von Freiheit, Eigensinn und Mut, haben Generationen von Jugendlichen geprägt. Alle jungen Mädchen wollten plötzlich reiten lernen und sich in einen Indianer verlieben und mit ihm Abenteuer erleben.

Ja, wir Frauen haben ihre Bücher verschlungen. Und tun es immer noch. Denn mit fast 80 Jahren schreibt Federica de Cesco noch immer. Das Literaturhaus Zürich lud in Kooperation mit Kaufleuten Kultur an eine Hommage an diese aussergewöhnliche Schriftstellerin ein. Die Moderatorinnen des Abends, Gesa Schneider und Corina Freudiger, bezeichnen sich selber als grosse de Cesco-Fans. Auf die erstaunte Feststellung Corinas, dass sich auch einige Männer unter dem Publikum befanden, meinte Federica de Cesco schlicht: «Ich schreibe Bücher für Menschen, und da gehören die Männer auch dazu.»

Federica de Cesco bezeichnet sich selber als Feministin. Tatsächlich sind die Figurengestaltung und Handlungsführung ihrer ersten Romane fast schon von einem revolutionären Charakter, bedenkt man, dass sie ihre ersten Romane in den 50er Jahren geschrieben hat, in denen die Rolle der Frau noch ganz anderen Normen unterworfen war. Gerade diese Unbefangenheit war es wohl, die ihr zum Erfolg verholfen hat. Sie war jung und hat nicht darüber nachgedacht, sondern einfach geschrieben: «Ich habe das geschrieben, was ich empfand.»

Ihren ersten Roman Der rote Seidenschal, den sie mit 15 geschrieben hat, erfand sie auf dem Schulweg. Sie hat die Geschichte schliesslich niedergeschrieben, um ihn ihren Mitschülern zum Lesen zu geben. Dass es schliesslich zu einer Publikation kam, ist einer Berufsberaterin zu verdanken. Auf deren Vorwurf, Federica habe nicht viel Fantasie, präsentierte diese ihr Roman-Manuskript, worauf das Ganze an einen Verlag geschickt wurde. Und der Rest ist Geschichte.

Was Federica de Cescos Romane nicht zuletzt auszeichnet, ist das fundiert recherchierte Hintergrundwissen. So hat sie sich bereits in jungen Jahren ein erstaunliches ethnologisches Wissen angeeignet. «Ich war entsetzlich belesen», sagt sie und fügt hinzu, dass sie in der Bibliothek alles verschlungen habe, bevorzugt Philosophie und Geschichte. Immer, wenn sie den Namen eines ihr unbekannten Ortes gelesen hat, fragte sie sich: «Wo liegt das, was macht man da? Und voilà.» Ihre Bücher spielen in der Camargue, in Tokio, in der Sahara oder bei den Indianern.

«Wenn ich über die Apachen schreibe, dann sind sie so», stellt Federica de Cesco klar. «Okay, vielleicht ein bisschen idealisiert», fügt sie noch lächelnd hinzu. «Die Grundstruktur stimmt aber», betont sie nochmals, «ich will den LeserInnen schliesslich nichts vormachen.»

Dass es trotzdem dazu kommen kann, beweist eine Anekdote. Als eines ihrer Jugendbücher 1973 unter dem deutschen Titel Sterne über heissem Sand erschien, fragte bei einem Schulbesuch ein Schüler bei ihr nach, wie denn die Temperaturen in der Sahara seien. Als sie antwortete, am Tag werde es sehr heiss bis über 50 Grad und in der Nacht sehr kalt bis unter 0, hakte der Schüler weiter nach, warum dann der Titel, bitteschön, Sterne über heissem Sand laute?

Dass sie dennoch lieber in Deutsch als in Französisch schreibt, hat damit zu tun, dass sie die deutsche Sprache bewundere: «Mit der deutschen Sprache ist man freier im Schreiben, im Gegensatz zum Französischen. Es ist einfacher, neue Welten heraufzubeschwören, neue Wörter können leichter erfunden werden.»

Seit den 90er Jahren schreibt Federica de Cesco auch Bücher für Erwachsene. Solche Bücher seien leichter zu schreiben, meint sie. Jugendliche haben (noch) nicht die klassische Formation und einen weniger ausgeprägten Wortschatz, deswegen müssten Jugendbücher entsprechend «reduziert» geschrieben werden.

Ihr neues Buch für Erwachsene – Der englische Liebhaber – erscheint nächstes Jahr. Aus dem Manuskript liest de Cesco einige Seiten vor. Es sei das erste Mal, dass sie aus einem Manus – wie sie sagt – vorliest. Mit klarer und präzis eingesetzter Stimme beginnt sie vorzulesen, man merkt, wieviel Lesungserfahrung sie hat. Die Erzählung, die im ersten Eindruck doch deutlich misanthropische Züge trägt, handelt von einer deutschen Frau in der Nachkriegszeit, die als Dolmetscherin bei der englischen Besatzungsmacht arbeitet und sich in einen Hauptmann verliebt. Es ist die Geschichte einer grossen, einer ehrlichen Liebe – die Federica de Cesco auch in ihrem Privatleben gefunden hat. (Seit 47 Jahren ist sie mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, verheiratet.)

Auf die Frage, ob Federica de Cesco noch etwas ihren jüngeren LeserInnen auf den Weg mitgeben möchte, sagt sie, was sie immer wieder erstaune, sei, dass so viele Angst haben vor dem Verlust der Schönheit. Das Leben sei nun mal ein biologischer Abbau, alles sei in dieser Welt vergänglich. Auch im Verwelken und in der verwelken Blume liegt – Poesie.

Populismus mal ganz entspannt

«Mutig, aber nur manchmal».

Diese Kritik blieb Res Strehle am meisten von seiner Zeit als Chefredakteur des «Tages-Anzeigers» in Erinnerung. So lässt sich auch die Podiumsdisukussion von Strehle und Kuckhart über Populismus und Medien charakterisieren. Im Karl der Grosse diskutierten beide unter der Leitung von Manfred Papst, Feuilletonredakteur der «NZZ am Sonntag». Oder, besser gesagt, sie einigten sich; denn in den meisten Fällen war ihr Gespräch keine Diskussion, sondern ein Austausch gleichgesinnter Meinungen.
Die Merkmale des Populismus, dies sie anfangs diskutieren – Fremdenfeindlichkeit, Unterkomplexität, emotionale Manipulation – sollten jedem bekannt sein, der die Thematik in irgend einer Weise verfolgt hat. Anschliessend wird noch die Unterscheidung zwischen linkem und rechtem Populismus gezogen und die Frage gestellt, ob Populismus manchmal notwendig oder gar etwas Positives an sich haben könnte. Ganz selbstkritisch gab sich Strehle, indem er auch den Hang der Medien zum Populismus thematisierte. Er zog zudem in Erwägung, dass in der Zeit von Clickbaits und ausufernder Likes-Abhängigkeit sich auch die Medien auf einer Gratwanderung befinden. In der zweiten Hälfte der Diskussion faserte der Fokus jedoch aus und wandte sich für ein breites Publikum eher weniger interessanten Themen wie Medienstrategien und Leserbindung zu. Abschliessend nahmen sich Strehle, Kuckhart und Papst noch viel Zeit, um einige Fragen des interessierten Publikums zu aufzunehmen. Am Ende war es an Papst, die Quintessenz des Abends zu ziehen: «Wir wissen auch vieles nicht».
Enrico Ehmann, Theresa Pyritz und Sascha Wisniewski

Ein kurzes Stelldichein

Der Zürcher Chreis Cheib ist im Niedergang. Wobei diese Aussage nur mit einer ausreichenden Prise Ironie zu geniessen ist. Denn eigentlich könnte sich ja jede Stadt glücklich schätzen,  ihren ehemals grössten Sündenpfuhl langsam in Richtung Szeneviertel gentrifiziert zu sehen.

Vor diesem Hintergrund mutet die Entscheidung, die Lesung aus Michèle Binswangers neuem Buch, Fremdgehen – Ein Handbuch für Frauen, im ehemaligen Stundenhotel Hotel Rothaus abzuhalten, dann doch als ziemlich bürgerliche Trockenübung an: Verrucht ja, aber bitte nicht schmutzig.

Bemüht verschämt wurde das Publikum auf das Zimmer geführt, wo die Autorin bereits auf dem Bett sass und das Licht schummrig gedämmt war. Während durch die offenen Fenstern das Krakeelen eines vom Leben Überforderten drang, nahm ein eher unbefriedigendes Vorleseerlebnis seinen Lauf. Steril wie das Zimmer, das in der Vergangenheit gewiss Schauplatz manchen Seitensprungs war Zeuge, doch nun durch eine karge Einrichtung, falschem Stuck und stickige Luft sich auszeichnete. Ziemlich lustlos las dann auch Frau Binswanger aus ihrem Buch vor, das die vielen Vorteile des Fremdgehens anpreist. Das Publikum erfuhr, wie überaus befreiend es sein kann, in Swingerclubs zu gehen, oder dass eine immer stärker um sich greifende Monogamie-Müdigkeit an der Existenzberechtigung der Schweizer Ehebetten sägt.

An und für sich wäre einem anregendem Abend ja nichts im Wege gestanden, um zu klären was Affären mit sexueller Befreiung und  Emanzipation zu tun haben. Dazu wäre jedoch zumindest ein Mindestmass an Interaktion zwischen Autorin und Publikum vonnöten gewesen. Stattdessen wurde man jedoch nach knapp 40 Minuten aus dem Zimmer hinauskomplimentiert und durfte auf der mässig besuchten Langstrasse noch ein wenig darüber sinnieren, was dieser Ausflug in ein literarisches Randgebiet denn nun eigentlich gebracht hat.

 

Tag IV

Das Wochenende startet und damit die traditionelle Zürcher Ganztagsbelesung: Von morgens bis abends, von Nora Gomringer zum Frühstück im Odeon bis zu Jurczok 1001 in der Nacht des Kosmos, zu Wasser und zu Land, im Tram und auf dem Sofa, im Ernst und zum Spass  lässt sich Zürich an diesem Wochenende belesen, betören, bespielen, belehren, beehren. Seien Sie dabei, live und in Farbe, gehen Sie raus und lassen Sie sich wenigstens etwas nicht entgehen. Das Internet ist auch in der nächsten Woche noch da. Und unsere Beiträge sogar noch ein paar Wochen länger. Viel Vergnügen.

Mord mit Morf, Musik und Hund

Die Stimmung ist gut, der Platz beengt, als die Krimiautorin Isabel Morf am Donnerstagabend in der Buchhandlung Bodmer aus ihren Werken vorliest. Direkt neben den Kriminalromanen im Regal lässt sie die Figuren aus einer Kurzgeschichte und ihrem neuen Roman Selbsanft lebendig werden. Mit Hörbuchstimme, unterstützt von passender Mimik und Gestik, erzählt Morf in der Kurzgeschichte von Cassandra Buchstab, einer mittelmässig erfolgreichen Krimiautorin. Gebannte Stille, immer wieder unterbrochen von kurzen Lachern, als Buchstab vom perfekten Mord berichtet, den sie begangen hat. Oder sollte man sagen, der ihr widerfahren ist? Denn eher zufällig wird Buchstab zu einer mordenden Krimiautorin, deren Bücher sich durch den Vorfall viel besser verkaufen. Nach dieser gelungenen Pointe wechselt Morf zur Premierenlesung ihres aktuellen Romans Selbsanft, der im Glanerland spielt. In Auszügen begleitet das Publikum Kommissar Melchior Zwicki zu seinen Ermittlungen, nachdem ein Toter am Selbsanft gefunden wurde. Wie bei den Kurzgeschichten zuvor freut sich das Publikum über die feine Ironie in Morfs Text und ihre überzeugende Leseweise. Atmosphärisch untermalt werden diese Schauergeschichten von Beat de Roche, der sich trotz vielversprechender Karriere als Strassenmusikant für einen «richtigen» Beruf (Arzt) entschied, und nun seiner Halszither geheimnisvolle Klänge entlockt.

Im Anschluss an die Lesung über ihre Arbeitsweise befragt, sagt Morf im Hinblick auf ihren neuen Roman: «Ich bin im Glarnerland aufgewachsen und wollte immer mal einen Krimi schreiben, der dort spielt. Der Selbsanft sollte auch vorkommen. Was mache ich? Ich lege einen Toten an den Selbsanft.» Morf erklärt auch, dass sie ihre Geschichten beim Schreiben entwickle. «Vorher weiss ich nur das Skelett der Handlung: wer bringt wen warum um. Im Schreiben füge ich das Fleisch an den Knochen hinzu.» So endet die Lesung und das Publikum strebt dem Apéro zu, damit es nicht selbst vom Fleisch fällt.

Isabel Morf beim anschliessenden Signieren

Eine angeklagte Kröte, eine Kiste voll Sinnlosigkeit und die kleinste Mundharmonika der Welt

Was nach dem Inventar eines Kuriositätenkabinetts klingt, ist tatsächlich die gestrige Benefiz-Veranstaltung im Zürcher Tanzhaus in a nutshell. Vier ungleiche Autoren – Rolf Lappert, Henriette Vásárhelyi, Daniel Illger und Peter Weber – lasen im Tanzhaus  aus ihren Romanen und noch in Arbeit befindlichen Manuskripten. Der Erlös der von Dana Grigorcea und Gunda Zeeb monatlich veranstalten Leseabende geht zur Gänze an die Schweizer Soforthilfe in Flüchtlingscamps am Mittelmeer. Der Zweck einigte in diesem Fall die Mittlerinnen und Mittler, die unterschiedlicher eigentlich nicht hätten sein können.

Die Kiste fand sich in Henriette Vasarhelyis neuem Roman Seit ich fort bin. Im Roman geht es um den Verlust eines geliebten Menschen und das Ansammeln, Archivieren und Anschreiben gegen das Vergessen. In einem Karton bewahrt Anis den ganzen Staub der Wohnung, in der sie selbst noch bis vor kurzem mit ihrer nun verstorbenen Mutter gelebt hatte. Die Ich-Erzählerin sieht «Flusen, Fussel, Krümel und Körner“, Anis hingegen eine versteckte, verschlüsselte Botschaft der Mutter, die sonst nichts zurückliess, «keinen Brief, keine Notiz – keine Erleichterung».

In Rolf Lapperts Lesung muss sich eine Kröte vor einem vierköpfigen Kindergericht verantworten. Sein noch im Entstehen begriffenes Buch Leben ist ein unregelmässiges Verb strickt die Geschichte von vier Geschwistern, die in einer Kommune aufwachsen. Überzeugt von der gefährlichen Ideologie der Gesellschaft, beschliessen die Eltern, ihre Söhne und ihre Tochter davon zu bewahren. Die «Winnipegs» wachsen auf einem abgelegenen Bauernhof auf, werden zuhause unterrichtet und lernen, bis zum Einschreiten der Behörden Jahre später, keine anderen Kinder kennen. Zwischen kindlich-naiver Glückseligkeit ahnen sie doch ihre beschränkte Freiheit. In der gelesenen Passage spielen sie draussen auf dem Feld, um der Langeweile zu entrinnen. Die dunkle, feuchte Haut und Warzen einer Kröte sind in ihren Augen Indizien eines Lebens in der Verborgenheit, doch auf diese Anklage reagiert die Kröte freilich nicht. Die Richter werden selbst zu Henkern.

Die kleinste Mundharmonika der Welt schliesslich brachte Peter Weber zur Freude der Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur erzählerisch mit: Seine humorvollen Texte über Zürich und über die Musik interludierte er gleich selbst mit dem Mini-Instrument. Dazwischen veranstaltete er so etwas wie ein Wortdomino, bei dem Doppel- und Kofferworte den Text kurzerhand in ein völlig neues Bedeutungsfeld überführten. So wird etwa die Schaltstelle im Hirn, die gleichermassen für Sprache wie für Musik verantwortlich ist, von einem Hirnforscher als kirschgross beschrieben, wobei die Äste zwischen den Hemisphären bei regelmässigem Praktizieren zu regelrechten Baumstämmen erwachsen können. Während sich dieser weiter über die Verwandtschaft von Sprache und Musik auslässt, sinniert der Gesprächspartner über Kirschbäume, bis schliesslich aller «Sinn in Klang zergeht» und noch ein letztes Mal die Mundharmonika erklingt.

Nicht so recht in die Reihe des unerwartet Kuriosen passen wollte ausgerechnet der Fantasy-Roman Daniel Illgers. Im Gegensatz zu den anderen Romanen schien dieser geradezu mimetisch real, wenn er von zwei flüchtende Schwestern erzählt, die etwas sehr melodramatisch erkennen müssen, dass «Hunger und Not nicht vor der Strafe des Diebstahls retten».

Den Einblick in vier so unterschiedliche Werke konnte man im Anschluss bei einer Schüssel selbstgemachter Suppe diskutieren, denn wie die veranstaltende Autorin Dana Grigorcea betonte, soll der «Lesesalon» ein Ort des Austausches sein.

 

Augen wie blaue Diamanten

Auch wenn das diesjährige Zürich liest noch nicht einmal vorbei ist, hat Nadia Brügger bereits ihren Lieblingsort gefunden: Er liegt unweit des Paradeplatzes, an der Bärengasse 20. Das Junge Literaturlabor ist bereits zum dritten Mal Teil des Literaturfestivals. Es wird von Richard Reich, Gerda Wurzenberger und Irene Eichenberger geleitet und bietet Kinder und Jugendlichen aus Primar- und Sekundarschulen den Raum, mit der Sprache experimentierfreudige Spiele zu treiben. Dabei entstehen Geschichten über die Eifersucht, präzise Stadtbeobachtungen und sogar ein Hörspiel.

 «Schrei doch no lüter», tönt es von der Seite, wenn die Schülerinnen und Schüler der Oberstufen-Kleinklasse aus Schlieren ihre Geschichten  zum Thema Wie das Schicksal tickt lesen. Anlass des Aufruhrs ist, möchte man meinen, eigentlich der brisante Inhalt: Trisa und Sandro lernen sich auf einer Party kennen, gehen zusammen nach Hause, wenn die Eltern weg sind, Trisa wird schwanger und von Sandro verlassen (er hat sich immerhin schon um den Spitznamen «Fuckboy» verdient gemacht). Das Kind kommt im Triemlispital zur Welt und trägt den Namen Sonja. So weit, so gut. Die Klassenkameradinnen, von denen einige am Rand sitzen, werden immer wieder mit Kommentaren in die Lesung eingreifen oder es vor Lachen kaum aushalten, wenn es in der Kurzgeschichte Drei Minuten ihres Schreibcoaches Anita Siegfried eine zerklüftete Zunge gibt, die wie eine Schnecke einer Schulter entlanggleitet: Sie machen ihre Lesung kurzerhand zu einer Aufführung. Die aufgeregte Stimmung hält schon lange an, und sie ist ansteckend (ich werde noch Stunden nach der Lesung eifriger als sonst durch die Strassen streifen): Bei der ersten Cola noch vor der Lesung strömen von überall her Kinder und Jugendliche, die A4-Blätter in klammen Fingern, ihre Coaches und Grosseltern stürmisch begrüssend. Ein Mädchen neben mir, das später lesen wird, hat Bauchweh, und als ihre Angehörige besänftigend meint, das sei bloss die Aufregung, meint sie fast frohlockend: Ich habe es bereits seit einer Woche!
Anita Siegfried hat mit den «Schlieremer Chind», wie sie Richard Reich in seiner Einführung lachend nennt, ein Langzeitprojekt begleitet, aus dem nun der JuLl-Print Nr. 13 entstanden ist: Vier Storys aus Schlieren eben, geschrieben von Albijon Biljali, Naike Gambi, Yasmin Henle, Ricardo Horta, Fjolla Idrizaj, Myriam Krebs, Drilona Kryeziu, Giovanni Lama, Even Mengstab und Arbresha Rexhepaj. Sie erzählen von Liebe und Eifersucht, Snapchat und Instagram, von Carlos’ Freundin, deren Augen wie blaue Diamanten leuchten, von Kim, die es im Gefängnis «soso lala» findet und von Luca und Mattia, die nach einer turbulenten Inselstrandung in Schlieren ein italienisches Fünf-Sterne-Restaurant mit dem Namen «Bella Sicilia» eröffnen.

Das ist aber bloss das erste Projekt, das an diesem Abend vorgestellt wird: Gina Bucher, die in ihrer dokumentarischen Neuerscheinung Der Fehler, der mein Leben veränderte unter anderem virtuos von einem sanftmütigen Bankräuber erzählt, der bei seinen Überfällen nicht einmal eine Waffe zückt («Aber Herr Kuhn, die hatten Sie ja nicht einmal in der Hand!»), begleitet ein Projekt, das seit der letzten Manifesta vor einem Jahr existiert: Die fünf Stadtbeobachterinnen, die ihre Lesung mit Detailbeobachtungen in Form von Pendlernotizen von Nicola Bryner beginnen und von denen man nur hoffen kann, dass sie bald den Blog für ein ihnen zustehendes (also: grosses) Publikum aufschalten. Deborah Mäder erzählt von einer Segway-Tour inkl. Bahnhofstrasse, bei welcher der erste Unfall bereits geschieht, als die Tour noch nicht einmal begonnen hat – bei ihrer Erwähnung dessen, dass nach kurzer Zeit bereits der zweite Italiener am Boden liegt, geht ein unruhiges Raunen durch die GC-Fans. Mara Richter (mit einer Hörspiel-Erzählstimme sondergleichen!) liest eine Geschichte von Selma Matter, in dem Zukunfts- und Maturagefühle verhandelt werden, und daraufhin noch eine eigene, die eine denkwürdige Begegnung mit einem Bettler verhandelt. Die Begegnung mit Frau Hueber mit «ue», einer achtundneunzigjährigen Frau, die kürzlich vom Blitz (ihre eigene Interpretation des «Schleglis») getroffen wurde und nun mithilfe einer Passantin bei einem Mann klingeln geht, den sie für ihren Sohn hält, ist schliesslich Anaïs Ruters traumwandlerische Erzählung. Spätestens hier möchte man, angestachelt durch die Lust und Freude an der Literatur, die an diesem Abend ganz deutlich spürbar wird, mit eigenen Papieren durch die Stuhlreihen stürmen und am Mikrofon zu sitzen kommen.

Die beiden letzten Darbietungen dieses Abends werden von Suzanne Zahnd und Ulrike Ulrich betreut: Zahnd, aus deren Debüt Angemessene Regung die Zuhörerinnen und Zuhörer zum ersten Mal Auszüge hören, gibt die Premiere zum Hörspiel einer sechsten Klasse, das den Titel Rache ist rot trägt und mit vielen Überraschungen aufwartet: Schulleiter und Lehrerin werden beim Schmusen erwischt, was eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auf den Plan ruft, in deren Folge Mäuse nicht einmal mehr Mäuse bleiben. Fünfundzwanzig Schülerinnen haben dafür an einer gemeinsamen Geschichte geschrieben und erzählen vor ihrer quirligen Darbietung davon, wie man fürs Hörspiel das Geräusch eines Blutbrunnens produziert oder mit Geknister und Petflaschen den Eindruck erwecken kann, etwas würde ganz eilig gesucht.

Ulrike Ulrich (Fernbleiben, Draussen um diese Zeit) steigt mit einer Zukunftsdystopie ein, in welcher die EU nur noch eine ferne Erinnerung ist, und stellt dann mit Axmed Cabdullahi ihren Zögling vor, der seit 2017 in der Schweiz lebt und ein Ministipendium zugesprochen bekommen hat. Seine erste Geschichte, die vom eigenen Lachen begleitet wird, liest er auf Somali. Seine Geschichten sind «garantiert nicht traurig», weil sie dann nicht müde machen, und können im JuLl Ready Print 9 mit dem Titel Die Kurden waren sehr überrascht nachgelesen werden. Es geht um nicht sehr intelligente Söhne, die den Dieben die Fernbedienung nachtragen, um neunzigjährige Männer in der Bank von Somalia, die für die Hochzeit ihrer Grossväter Kredit beantragen wollen, um intelligente Mütter, grosszügige Coiffeure und Esel, die Witze immer erst später verstehen. Wie der ganze Abend an der Bärengasse: lohnt sich auch das.

Ist die alte Dame zurück?

Seine Ausgangssituation war nicht einfach. Das Buch, aus dem er liest, ist nicht mehr ganz neu. Das Publikum ist mit 22 Nasen eher spärlich bemessen. Und die Moderatorin gibt gleich zu Beginn unverblümt zu, dass sie sein Buch immer noch nicht gelesen habe. Lorenz Langenegger macht das Beste daraus und liest drei Passagen aus «Dorffrieden».

Seine Hauptfigur ist der alternde Dorfpolizist Wattenhofer, der die nicht weiter definierte «kleine Seegemeinde» seit seiner Geburt nie verlassen hat und ein bisschen neidisch ist auf seinen Sohn, der ein rebellisches Leben führt. Sein Leben scheint tatsächlich wie in Watte gepackt. Die Probleme, um die sich der Polizist kümmern muss, sind allesamt lächerlich: Unordnung beim Fahrradständer, die sich als einzelne weggeworfene Zigarettenschachtel entpuppt, und – das höchste der Gefühle – die Autobahneinfahrt muss wegen des Chinesischen Wirtschaftsministers für fünf Minuten gesperrt werden. In besagter Zigarettenschachtel findet Wattenhofer einen Schlüssel, und er begibt sich, plötzlich getrieben wie in einem Fernsehkrimi, auf die Suche nach Hinweisen, was es mit diesem Schlüssel auf sich hat. Und das, obwohl er Fernsehkrimis eigentlich gar nicht mag – den «Tatort» ausgenommen, weil er sich mit den Figuren dort identifizieren kann.

Auch an anderen Bezügen mangelt es nicht: Gegenwärtige politische Situationen (Anti-AKW-Demo, Freihandelsabkommen mit China, China-Tibet-Konflikt) werden kurz und meist leicht ironisch angesprochen, charakteristische Krimi-Elemente werden dadurch, dass eben genau nichts geschieht, in etwas Lächerliches verkehrt, und eine Fabrikantenwitwe, die enorm viel Geld hat und deren ganzes Wesen bei jeder Bewegung «Dürrenmatt!» schreit, hält alle Fäden des Kaffs in der Hand. Nicht auszuschliessen, dass sie auch Wattenhofers «Kriminalfall» von A bis Z inszeniert hat.

Langenegger beweist ein feines Gespür für die Langweiligkeiten des Dorflebens, für die heimlichen Sehnsüchte seiner Figuren und einen scharfen Blick fürs Detail. Der Eindruck, den sein Buch hinterlässt: Langsam, aber kurzweilig, vielleicht etwas überladen mit Anspielungen.

Der 37-jährige Lorenz Langenegger kam durch seine Tätigkeit als Dramatiker zu internationaler Beachtung, Stücke von ihm gewannen bereits diverse Preise, unter anderem bei der Schaubühne in Berlin. In jüngerer Vergangenheit war er am Drehbuch des Luzerner «Tatorts» beteiligt. «Dorffrieden» (Jung und Jung, Salzburg/Wien 2016) ist sein dritter Roman.