Anschwellender Boxgesang

Nach der fulminanten Premiere im Kaufleuten vor wenigen Wochen brachte der Zürcher Spoken Beat-Poet Jurczok 1001 sein neues Programm gestern im vollbesetzten Kosmos zur Aufführung.  Dessen eigenwillige Architektur – statt auf einer erhöhten Bühne steht der Performer im Foyer, das sich nach hinten zu einer Art Hörsaaltreppe öffnet und zur Seite durch ein Schaufenster den Passanten – stellte den Charismatiker durchaus vor eine Herausforderung: Vor allem Jurczoks kraftvolle, teils hypnotische Stücke, eine Art anschwellender Beatboxgesang, der Soundschicht auf Soundschicht stapelt und doch jeden Atemzug registriert, rufen eigentlich nach einer dunkleren, konzentrierten Atmosphäre.

Aber der 1974 in Wädenswil geborene Dichtersängerrapper, seit mehr als zwei Dekaden im Geschäft und zuletzt mit wichtigen Preisen bedacht, ist ein Profi. Und eröffnet den Abend mit einem Sprechtext, der erst einmal zu lachen gibt, in seinem prononcierten Vortrag jedoch schon mal den Performance-Claim absteckt: Das hier wird lustig, berührend, ironisch, politisch, elegisch, pointiert. Aber all das nur, weil hier einer weiss, was ein Sprachkunstwerk ist.

Als ein solches geben sich die Shirt Stories denn auch gleich zu erkennen. In order of appearance hat Jurczok dafür an einem New Yorker Herbsttag alle Slogans notiert, die ihm auf Brust und Bauch entgegen getragen wurden. Komisch ist daran weniger die erwartbare Heterogenität der Zeilen-Brüche von Black lives matter zu Nike und Co. als vielmehr der Kontrast von rhythmisch-nachdenklichem Vortrag und flüchtigem, meist banalem objet trouvé. Da entsteht ein Resonanzraum, den die Wiederaufnahme der Shirt Stories im zweiten Teil des Programms, dann als pathetischer Beatboxgesang im Nachgang der aktuellen Single Chumm, mi schlafed, noch verstärken wird.

Das wunderbar vielfältige Publikum – vom Sek-Schüler bis zur Studienrätin, von der Wiediker Kulturschaffenden bis zum Dietiker Homeboy ist alles vertreten – dankt es mit Applaus, sieht über ein etwas tief in Stand up- und Slam-Gefilden wilderndes Intermezzo zum Thema Langstrassen-Silikon-Implantate hinweg und wird schon bald mit dem nächsten Höhepunkt belohnt: Die mit höchster demagogischer Konzentration vorgetragene Köppel-Imitation zum Thema Scheinbevölkerung führt vor, wie dank einer über die bekannten rhetorischen Strategien weit hinausgehende Rhythmisierung und Akzentuierung noch die grösste Scheinlogik und Widersprüchlichkeit als besorgte politische Analyse durchgehen kann. Diese nicht einfach vorschnell und selbstgerecht der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern ihre Wirksamkeit und Mechanismen in einer fast erschreckenden Anverwandlung vorzuführen, geht über die frühere, auch schon grossartige Wältwuche-Nummer weit hinaus. Fast schien es, als müsse der Magier das gebannte Publikum anschliessend erst aus der Hypnose holen. Grandios dabei die Schlusspointe, den Applaus im Namen des schmeichelnden Demagogen einzufordern. Dessen Imitation war trotz oder wegen ihrer Überzeichnungen so überzeugend, dass nicht wenige Zuschauerinnen und Zuschauer einen Moment brauchten, ehe sie realisierten, dass sie ruhig klatschen durften, weil da vorne eben doch kein Köppel auf der Bühne stand.

Sondern ein vielseitiger Performer, dem es in jahrzehntelangem Feintuning gelungen ist, noch die scheinbar widersprüchlichsten poetischen und musikalischen Verfahren zu einer Einheit zu führen, die so mühelos und organisch wirkt, wie nur eine bis in den 1001. Winkel durchkomponierte Kunst zu wirken vermag. Dass Jurczok keines seiner Verfahren verschleiert, jederzeit zeigt, dass und wie er zeigt, und trotzdem niemand sonst an seiner Stelle vorstellbar ist, gehört zu den beglückenden Geheimnissen einer singulären Präsenz.

«Je suis Zurichoise!» Heute bin ich keine Fremde mehr

Ken Bugul verzog keine Miene, während der Moderator Yves Raeber sie dem Publikum vorstellte. «Die senegalesische Autorin ist 1947 geboren als Mariètou Mbaye. Sie wurde mit dem Preis der Grand Prix littéraire de l’Afrique noire ausgezeichnet, lebte in 30 afrikanischen und ebenso vielen anderen Ländern. Zurzeit ist sie als Writer in Residence in Zürich zu Gast.» Als er ihr übersetzen wollte, was er soeben über ihr Leben erzählt hat, meinte sie nur: «J’ai bien compris». Sie habe schon verstanden, schliesslich kenne sie ihr Leben am besten. Von ihrer Lebensgeschichte handeln auch die meisten ihrer Bücher. Angekündigt war eine Lesung aus Le Baobab Fou, ihrem 1982 erschienenenDebüt, das ihre Kindheit und ihren Aufenthalt in Brüssel thematisiert. «Sie wollen, dass ich lese?», versicherte sie sich beim Moderator. «Wo?» Er zeigte ihr die Stelle und sie begann zu lesen. So ging das Spiel durch den ganzen Abend weiter. Die von Raeber ausgedachte Dramaturgie, die einzelne Textpassagen in eine chronologische Ordnung zu bringen, wurde von Bugul kritisch beäugt, aber befolgt. Und immer, wenn sie eine Stelle zu Ende gelesen hatte, folgte ein: «C’est vrai». «Das war wirklich so». Es wurde deutlich, dass es ihr ums Erzählen ging. Sie wollte sprechen über ihr Leben und die unglaublichen Dinge, die sie erlebt hatte. Das Lesen schien sie darin nur zu bremsen.

«Stellen Sie sich das vor!», verdeutlicht die Autorin. Das sei sehr einsam gewesen, ohne Mutter bei einem halbblinden 85-Jährigen Marabut aufzuwachsen. Ihre grösste Verletzung sei noch immer, dass ihre Mutter sie als fünfjähriges Mädchen verlassen habe. Buguls eigenes Lieblingsbuch ist denn auch De l’autre côté du regard, das von ihrer Beziehung zu ihrer Mutter handelt. «Ma pauvre mère», sagt sie an einer Stelle. Mittlerweile scheint sie doch mit ihr Frieden geschlossen zu haben.

Durch Le Baobab Fou erfahren wir von dem kolonialen Schulsystem Senegals in den 1950er Jahren. Ken Bugul identifizierte sich als Kind mit dem sauber angezogenen weissen Mädchen aus ihrem Schulbuch und war auf der Suche nach ihren Vorfahren, den Galliern. Sie las enorm viel, war fleissig in der Schule und erhielt so ein Stipendium für die Universität in Dakar. Als Teenager trug sie westliche Kleidung, oder zumindest das, was sie sich darunter vorstellte. Sie erhielt ein Stipendium für die Universität in Belgien, und ihr Traum schien in Erfüllung zu gehen. Doch in Brüssel fand sie nicht die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Im Gegenteil. Der Blick der Europäer machte sie zu einer Fremden. Zu einer Exotin.

Heute sei sie Zürcherin und keine Fremde mehr: «Je suis Zurichoise». «Gefällt es Ihnen in Zürich?», fragte Raeber nach. Es sei super, alles sei sehr sympathisch hier. Sie verbringe aber auch nicht nur Zeit in Zürich. So ein Stipendium sperre sie ja nicht ein. Berlin, Paris, Salzburg, Hamburg sind nur einige der Städte, die sie während ihres Aufenthaltes hier schon besucht hat.

«Ich lebte auf der Strasse, als ich meine autobiografische Triologie Le Baobab Fou, Cendres et braises und Riwan ou le Chemin de Sable geschrieben habe». Ken Bugul entfloh der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann und kehrte im Alter von 30 Jahren in den Senegal zurück. Im Gepäck hatte sie keine Geschenke, sondern nur ihr Trauma. Ihre Geschichten wollte niemand hören, schliesslich galt Europa schon damals als «terre promise», ein Ort der Träume. Ihre Familie verstiess sie und die Gesellschaft verschloss sich ihr. Ein Jahr lang lebte sie auf dem Place de l’Indépendance in Dakar. Wie man sich denn das Leben auf der Strasse vorstellen soll, kam die Frage aus dem Publikum. «Das Leben auf der Strasse war super! Ich habe Lust zurückzukehren.» Sie, die später als 28. Frau des Serigne den Status einer Heiligen erhielt, kann heute gelassen auf diese Zeit zurückblicken. Die Zeit der Lesung war längst überschritten, aber das Publikum hing noch immer wie gebannt an ihren Lippen. Buguls Geschichte fasziniert. Obdachlosigkeit ist mit Vorurteilen behaftet, verkörpert Gefahr und gesellschaftlichen Fall. Diese starke Frau hat sich ihren Ängsten gestellt und sich so von ihnen befreit. Sie galt als Verrückte und lebte verstossen von der Gesellschaft. Wir, die durch unser behütetes Schweizer Leben ängstlich geworden sind, können von ihrer Narrenfreiheit nur lernen.

 

 

 

Ganz Zürich liest …

Ganz Zürich? Nein! Eine kleine Gruppe von unbeugsamen Heimwehbaslern  hört nicht auf, dem Klischee von der Rivalität der grössten und der «scheenschte» Schweizer Stadt Widerstand zu leisten… So staunte die Redaktion am Samstag nicht schlecht, als plötzlich lautes Trommeln und Gepfeife das Niederdorf erfüllten.

Des Rätsels Lösung: Jedes Jahr lädt die «Fasnachtsclique Basler Zepf Ziri» eine Basler Clique zum gemeinsamen Gässle am «Basler Oobe» ein – und so wurden wir eben Ohrenzeugen des «on y va».

Eine schöne musikalische Abwechslung war das, beim Pendeln zwischen den verschiedenen Veranstaltungsstätten dem «Pfiffe und Drummle» zu lauschen.

 

«Hour of Power» für Dorothy Parker mit Nora Gomringer

«Das Herz ist das Organ, um das es geht bei Dorothy Parker» – so startet Nora Gomringer in den Samstagmorgen. Und ist mit viel Herzblut dabei. Das Setting könnte kaum stimmiger sein, im geschichtsträchtigen Café Odeon am Zürcher Bellevue haucht sie der Lyrik Parkers neues Leben ein. Das Odeon präsentiert sich dabei als eine Art Zürcher Pendant zum Algonquin Hotel, in dem Parker einst ein und aus ging und in dem  New Yorks reputable Journalisten damals ihren ersten Feierabend-Martini tranken.
Stilecht hat auch Gomringer einen solchen vor sich stehen und ist ganz im Stile Parkers gekleidet. An der berühmten «round table» haben sie gesessen, die happy few der New Yorker Kunstszene, die ab dem Frühsommer 1919 regelmässig dort anzutreffen waren. Zeitlich knüpft diese Periode unmittelbar an die Blüte der Zürcher Dada-Bewegung an, die sich bekanntlich im Odeon zu formieren begann. Ohnehin hat das Haus eine reiche literarische Tradition. Heute nun fanden diese beiden Welten zusammen.
Umständehalber aus Basel angereist, bringt Gomringer den ganzen Charme der 30ties und 40ties – vor allem aber den ganz individuellen Charme Parkers – mit nach Zürich. Ganz ergriffen ist die Bambergerin vom scharfzüngigen Charme und ironischen Schalk dieser grossen Lyrikerin, die sie mit 16 Jahren für sich entdeckt hat. «Die musst du lesen, die erzieht zur Romantik», sagte die Mutter damals zu ihr. Erst allmählich hat Gomringer erkannt, wie dies zu verstehen war. Heute nun nimmt sie ihr Publikum ein für diese «ehrliche Frau mit der Fähigkeit, mit wenigen Worten viel Witz zu verbreiten».
 

Die für ihr eigenes Werk bereits vielfach preisgekrönte Dichterin liest auf Deutsch und Englisch, erzählt charmante Anekdoten und trägt die Gedichte als traurig-schöne Jazz-Melodien vor. «Wenn Sie sehen könnten was ich sehe, so viele schöne Gedichte!», sagt Gomringer augenzwinkernd zum Publikum. Die Gedichte handeln meist von unglücklicher Liebe, doch nicht nur. Parker befand sich stets in Gesellschaft eines Dackels mit dunklem Fell. Der letzte dieser Art, der sie bis zu ihrem Tod begleitete, trug den sprechenden Namen «C’est tout.» Ihm widmete Parker ein paar besonders witzige Zeilen, welche die innige, aber auch ambivalente Beziehung von Tier und Mensch andeuten. Ein weiterer Text gibt den inneren Dialog einer Walzer tanzenden Frau wieder. «I’d love to waltz with you», beteuert diese noch, während sie ihren Tanzpartner gedanklich bereits in Stücke reist. 

Lauscht man den emphatischen Realisierungen dieser geistreichen Texte, so kann man sich durch Gomringers leidenschaftliche und authentische Einverleibung letztlich nicht erwehren, diese feinfühlige und bissige Künstlerin lieben zu lernen. Parkers Texte ermöglichen diese Zuwendung zu weiten Teilen gerade auch durch ihren zuweilen erfrischenden Gehalt an Selbstironie. Man spürt aus ihnen  ein ambivalentes Verhältnis zum anderen Geschlecht heraus. Gerade diesbezüglich erweisen sich Parkers selbstkritische Reflexionen als wohltuend. Sie versöhnen einen sofort mit diesem mehrfach gebrochenen Herzen. So lautet denn die zweite Strophe von Parkers Gedicht  «On being a woman»:

 

And why with you, my love, my lord,
Am I spectacularly bored,
Yet do you up and eave me – then
I scream to have you back again?

Gomringer performt aber nicht nur überzeugend, sondern reflektiert ihrerseits die Texte sowie den eigenen Umgang damit. So empfindet sie Parkers «Frustration», womit sie den Lyrikmorgen beendet, als ein aus heutiger Perspektive schwieriges Gedicht. Künstlerisch trägt sie dem in so weit Rechnung, als sie das Gedicht gesanglich adaptiert, wodurch dieses eine neue Dynamik bekommt. Gomringer selbst stellt sich in ihrem Vortrag ganz in den Dienst der Sache, erscheint gewissermassen als Medium, durch das der Geist Parkers spricht. So schliesst man sich ihr gerne an, wenn sie zum Schluss auffordert: «Lesen sie Dorothy Parker!» und wünscht sich, dass dieses Plädoyer schon bald ein «superfluous advice» werde.

 

Kurz nachgefragt

 

Bereits vor einem Jahr stand der Name Gomringer gross im Programm von «Zürich liest’16». Die Ausstellung «Gomringer & Gomringer», kuratiert von Gesa Schneider und Rémi Jaccard im Zürcher Museum Strauhof, gab einen sehr persönlichen Einblick in die Dichterleben von Vater und Tochter Gomringer. Wir vom Schweizer Buchjahr wollten von ihr wissen, wie es ist, wieder in Zürich zu sein, und ob sie viele Rückmeldungen zur Ausstellung erhalten hat. «Ich bin ja kaum angekommen», erwidert sie schmunzelt. Und wirklich, die Dichterin kam am Abend zuvor in Basel an und hat es nach einer kleinen Zug-Odyssee just auf den Start ihrer Lesung ins Café Odeon geschafft. Aber nach so viel Stress gibt es dennoch Entwarnung: Ja, sie erhalte noch immer positive Feedbacks zur Ausstellung des letzten Jahres und wünscht sich, diese an anderen Orten erneut zeigen zu können. Wir drücken die Daumen. 
Fabian von Hermann unter Mitarbeit von Carla Peca

Es bleibt dabei: die Gedanken sind frei!

In stimmungsvoller Atmosphäre, inmitten von anthroposophischen Büchern und roten, mit Namen versehenen Samtstühlen steht Patricia Litten und erzählt von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, begangen an ihrem Onkel Hans. Dokumentiert sind diese im Buch ihrer Grossmutter, Eine Mutter kämpft gegen Hitler, aus dem Litten heute vorträgt:

Hans Litten war Rechtsanwalt. Er trat entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank sassen. Es war unvermeidlich, dass er zu Schaden kommen musste.

Hans war sehr erfolgreich und weithin geachtet wegen seiner forensischen Erfolge und stammte darüber hinaus aus einer angesehenen Familie. Dies rief natürlich auch Neid hervor, der sich bald zu Hass steigern sollte. Litten befragte Hitler selbst als Zeuge im Felseneck-Prozess zu Nazi-Terrorismus. Er wollte aufzeigen, dass die nationalsozialistische Partei Gewalttätigkeiten ihrer Mitglieder dulde, ja gar hervorrufe. Hitler zog sich damals aus der Affaire, aber Litten hatte ihm gehörig zugesetzt, was Hitler ihm nie vergessen sollte. Wohlbemerkt, dies war noch vor der Machtergreifung. Je mehr Macht Hitler erlangte, desto mehr Anwälte flohen. Litten war jedoch überzeugt:

Das Recht ist für die Schwachen, ich gehe keine Konzessionen ein. Millionen von Arbeitern können nicht raus, also muss ich bleiben.

In der Nacht des Reichstagsbrands wurde Hans in Schutzhaft genommen, zuerst im KZ Sonnenburg später in Lichtenburg, Buchenwald und Dachau. Während fünf Jahren war er ohne klare Anklage inhaftiert. Er wurde schwer misshandelt, körperlich und mental gefoltert. Als seine Mutter die Ärzte darauf ansprach, taten sie die Vorwürfe als natürliche Haftpsychose ab: er verletze sich selber um Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Mutter rief alle ihre Bekannten dazu auf, sich für Hans Litten bei Hitler zu verwenden. Sie besuchte diesbezüglich unter anderem den Reichswehrminister Herr von Blomberg, den Reichsjustizminister Güntner und den Reichsgerichtspräsidenten Freisler . Doch niemand konnte Hitler erweichen. Durch verschiedene Quellen erfuhr sie, dass durch grausame Misshandlungen Hans systematisch zum Selbstmord getrieben werden sollte.

Hans stand immer wieder in Briefkontakt mit seiner Mutter und durfte sie zwischenzeitlich als Besucherin empfangen. Die Briefe und Unterhaltungen waren natürlich verschlüsselt. Der Code flog mehrmals auf und es war schwierig die neuen Codes einander mitzuteilen. Einmal bat Hans um Gift. Unter Druck bekannte er sich Verbrechen schuldig, die er nie begangen hatte. Als Christ und Mensch  mit grossem Moralverständnis konnte er jedoch  nicht mit der Lüge leben. Er widerrief die Falschaussage und nahm das Gift um den angedrohten Konsequenzen eines Widerrufs zu entrinnen. Er überlebte nur knapp.

Trotz allem Leiden und obwohl er körperlich gebrochen war, blieb sein Interesse an seinen Mitmenschen und der Wissenschaft wach. Seine Kämpfernatur brach immer wieder hervor. Als die Gefangenen vom KZ Lichtenburg aufgefordert wurden ein nationalsozialistisches Fest zu feiern, trug Hans Litten ein Gedicht in Gegenwart der SS vor. Dies ist ein Ausschnitt daraus:

Und sperrt man mich ein
in finstere Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreissen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!

Am 5. Februar 1938 wurde bekannt, dass Hans Litten sich  in Dachau erhängt hatte. Seine Beerdigung erfolgte ohne Aufsehen, anwesend waren lediglich seine Mutter, eine ihrer Freundinnen und der Organist.

Die Geschichte von Hans wurde verfilmt und als Theater aufgeführt. Seine Nichte spielte im Theaterstück Taken at midnight ihre Grossmutter. Patricia Litten ist auch verantwortlich für die Neuauflage des Buches mit einem neuen Nachwort. Am Ende der Lesung öffnet sie den Blick und verweist auf die Nachfahren von Hans Litten. Es sind dies Rechtsanwälte, die zwar nicht mit ihm verwandt, aber mit ihm im Kampf um das Recht verbunden sind, und nicht wenige teilen auch das Verfolgungsschicksal. Sie heissen, zum Beispiel, Abdolfattah Soltani aus dem Iran, Hüsnü Öndül aus der Türkei oder Zhou Shifeng aus China.

Es gibt keine schlechte Zeit, um Anwalt zu sein. Im Gegenteil, es ist eine grosse Zeit, die grossartige Anwälte gebiert. Anwälte, die Mut, Weisheit und Gewissen brauchen.

Die Geschichte von Hans Litten zeugt wie die Tagebücher von Anne Frank oder das Leben der Geschwister Scholl von erlittenem Unrecht und Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Darüber hinaus zeigt sie auf, dass auch Einfluss und Ansehen den Hass Hitlers nicht aufhalten konnten. Seine Geschichte bewegt die Anwesenden sicht- und hörbar. Dies ist nicht zuletzt auch der Präsentation durch die ausgebildete Schauspielerin Patricia Litten wie auch Birgit Förstner zu verdanken, die die Lesung auf ihrem Cello begleitete.  Es war höchste Zeit, dass das Buch auch nach Zürich kam. Patricia Litten wuchs als Flüchtlingskind in Zürich auf. Ihr Vater Rainer, der Bruder von Hans, floh aus Deutschland und war sowohl als Regisseur als auch als Leiter des Theaters Am Central tätig.

Hans Litten wird zumindest auf dieser Welt kein Recht mehr widerfahren, aber auch heute noch braucht die Welt Rechtsprecher, die die Wahrheit über das eigene Wohlergehen setzen und gegen Unrecht einstehen. Möge das Wirken seiner geistigen Nachfahren erfolgreicher sein als seines.

7 Gründe, eine Tramlesung zu besuchen

  1. Es gibt keine schlechten Plätze, da es für einmal nicht darum geht die Autorin oder den Autor möglichst gut zu sehen, sondern bloss der Stimme zu lauschen –  was dank Lautsprechern im ganzen Tram möglich ist.
  2. „Man kann sich durchschütteln lassen, entweder von der Geschichte oder vom Tram.“ (Zitat von Willi Wottreng bei der Lesung «Denn sie haben daran geglaubt»)
  3. Auch wenn einem die Handlung nicht umhaut, kann man eingelullt von der Vorleserstimme die Aussicht geniessen.
  4. Ohne sich den Kopf zu verrenken, kann auch mal die Reaktionen der gebannt zuhörenden oder vor sich hinträumenden Zuhörer beobachtet werden.
  5. Wenn das vorgelesene Buch in Zürich spielt, verweist die Autorin oder der Autor immer wieder spontan auf vorbeifahrende Schauplätze.
  6. Einmal Tram fahren ohne hektisches Ein- und Aussteigen.
  7. Weil endlich mal der Weg das Ziel ist.

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann

Er liebte sie mehr als alle Schafe, Kühe und Pferde

«Wie ein lebendiger Sir Lancelot war er in ihr Leben gestürmt und hatte ihr Herz erobert», raunte Dustin Hofmann über den Rand des sprechenden Covers «Der Liebesschwur des Highlanders» ins Mikrophon. DieHistorical-Gold-Ausgabe ist nur eine von vielen Varianten des Kioskromans, aus denen Nora Zukker und Dustin Hofmann zu später Stunde im Karl der Grosse ihre persönlichen Highlights vorlasen. Sie führten das Publikum sachte in die erotischen Untiefen der Groschenliteratur, bauten langsam Spannung auf und führten das Publikum Schritt für Schritt zum Höhepunkt. Des Abends natürlich.

Die Geschichten von Rokko, Sergio, Domenico, Samantha, Sue, Alisha und wie sie alle hiessen, deckten von Historical Highland-Erotik bis zu New Yorker Speed-Dating-Romantik alle Genres und Vorlieben ab. Begierig wartete das Publikum auf altbekannte Klischees und neue Fantasien und bejubelte Sätze wie: «Sie war kurz davor, den Gipfel zu stürmen»; «Ihre Zungen tanzten Tango»; «Immer wieder wurde sie von neuen Nachbeben erschüttert»; «Legen Sie los» oder «Aphrodite, die Schaumgeborene, stieg in ihrem Schlafzimmer im Morgenlicht aus dem Meer».

Historical Gold, Historical Season, baccara, Julia

Der Abend bot Inspiration für bleibende Komplimente. Von einem gewissen Coleyne lernten wir, dass er seine Mary mehr als alle Kühe, Schafe und Pferde liebte und von Rokko, dass seine Angebetete noch besser schmeckte als sie aussah. Von scheuem Kichern bis zu lautem Gelächter – das Publikum hat sich prächtig amüsiert. Selbst die Leserin Nora Zukker konnte stellenweise vor Lachen selbst nicht mehr weiterlesen. Ihre Mundwinkel zuckten des Öfteren, wenn Dustins sonore Stimme heisse Kiosk-Poetik säuselte. Auch er schmunzelte zwischendurch über Noras lüsterne Worte, doch wie ein wahrer Highlander wahrte er die Contenance.

Theresa Pyritz, Carla Peca

Auf den Spuren von Robert Walser

Ganz überrascht steht die Stadtführerin Martina Kuoni vor den rund dreissig Neugierigen, die ihr heute auf den Spuren von Robert Walser durch die Stadt Zürich folgen möchten. Mit so vielen Besuchern hat die Germanistin wohl nicht gerechnet, die seit der Gründung von Literaturspur solche literarischen Stadtrundgänge zu ihrem Beruf gemacht hat.

Robert Walser war selbst ein begeisterter Spaziergänger und wanderte im Jahre 1896 zu Fuss von Stuttgart nach Zürich, wo er seine Laufbahn als Schriftsteller begann. Bis 1905 lebte er in verschiedenen Wohnungen in der Innenstadt, denen der Rundgang folgt – vom Grossmünsterplatz über die Schipfe, die Froschaugasse, dem Neumarkt und der Spiegelgasse bis zur Trittligasse. Walser zog nicht nur viel um, er liess sich bei der Schreibstube für Stellenlose in der Schipfe auch immer wieder neue Stellen als Schreibkraft vermitteln – unter anderen die Stelle in Wädenswil, die ihn zu seinem Roman «Der Gehülfe» inspirierte. Die Villa zum Abendstern, in der Walser selbst als Gehülfe bei der wohlhabenden Familie Dubler gewohnt hat und innerhalb eines halben Jahres deren Konkurs miterlebte, gibt es auch heute noch zu besichtigen.

Beim Spaziergang konnten sogar eingefleischte Zürcher neue Gassen entdecken – wie zum Beispiel die Robert-Walser-Gasse bei der St. Peterskirche – und Interessantes über den zu Lebzeiten wenig erfolgreichen Schweizer Autor erfahren. Etwa, dass Walser eigentlich Schauspieler werden wollte. Bei diesem Versuch soll ihn sein Bruder Karl Walser auf einer Aquarellzeichnung als Karl Moor aus Schillers «Die Räuber» verewigt haben. Die schlechte Resonanz auf seine schauspielerischen Versuche verarbeitete Walser schliesslich in «Die Talentprobe». Anders als Robert Walser war sein Bruder Karl zu Lebzeiten ein erfolgreicher Künstler, der sich als Wandmaler und Buchillustrator einen Namen verschaffte.

Dass Walsers letzter Wohnort für beinahe dreissig Jahre eine Heil- und Pflegeanstalt in Herisau war, wird beim Spaziergang nur kurz erwähnt. Doch diese befindet sich auch in dessen Heimatkanton und nicht in Zürich. Gerade weil hier keine Tafeln auf die Spuren Robert Walsers aufmerksam machen, eröffnete der literarische Spaziergang eine neue Sicht auf die verwinkelten Gassen Zürichs.