Eine angeklagte Kröte, eine Kiste voll Sinnlosigkeit und die kleinste Mundharmonika der Welt

Was nach dem Inventar eines Kuriositätenkabinetts klingt, ist tatsächlich die gestrige Benefiz-Veranstaltung im Zürcher Tanzhaus in a nutshell. Vier ungleiche Autoren – Rolf Lappert, Henriette Vásárhelyi, Daniel Illger und Peter Weber – lasen im Tanzhaus  aus ihren Romanen und noch in Arbeit befindlichen Manuskripten. Der Erlös der von Dana Grigorcea und Gunda Zeeb monatlich veranstalten Leseabende geht zur Gänze an die Schweizer Soforthilfe in Flüchtlingscamps am Mittelmeer. Der Zweck einigte in diesem Fall die Mittlerinnen und Mittler, die unterschiedlicher eigentlich nicht hätten sein können.

Die Kiste fand sich in Henriette Vasarhelyis neuem Roman Seit ich fort bin. Im Roman geht es um den Verlust eines geliebten Menschen und das Ansammeln, Archivieren und Anschreiben gegen das Vergessen. In einem Karton bewahrt Anis den ganzen Staub der Wohnung, in der sie selbst noch bis vor kurzem mit ihrer nun verstorbenen Mutter gelebt hatte. Die Ich-Erzählerin sieht «Flusen, Fussel, Krümel und Körner“, Anis hingegen eine versteckte, verschlüsselte Botschaft der Mutter, die sonst nichts zurückliess, «keinen Brief, keine Notiz – keine Erleichterung».

In Rolf Lapperts Lesung muss sich eine Kröte vor einem vierköpfigen Kindergericht verantworten. Sein noch im Entstehen begriffenes Buch Leben ist ein unregelmässiges Verb strickt die Geschichte von vier Geschwistern, die in einer Kommune aufwachsen. Überzeugt von der gefährlichen Ideologie der Gesellschaft, beschliessen die Eltern, ihre Söhne und ihre Tochter davon zu bewahren. Die «Winnipegs» wachsen auf einem abgelegenen Bauernhof auf, werden zuhause unterrichtet und lernen, bis zum Einschreiten der Behörden Jahre später, keine anderen Kinder kennen. Zwischen kindlich-naiver Glückseligkeit ahnen sie doch ihre beschränkte Freiheit. In der gelesenen Passage spielen sie draussen auf dem Feld, um der Langeweile zu entrinnen. Die dunkle, feuchte Haut und Warzen einer Kröte sind in ihren Augen Indizien eines Lebens in der Verborgenheit, doch auf diese Anklage reagiert die Kröte freilich nicht. Die Richter werden selbst zu Henkern.

Die kleinste Mundharmonika der Welt schliesslich brachte Peter Weber zur Freude der Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur erzählerisch mit: Seine humorvollen Texte über Zürich und über die Musik interludierte er gleich selbst mit dem Mini-Instrument. Dazwischen veranstaltete er so etwas wie ein Wortdomino, bei dem Doppel- und Kofferworte den Text kurzerhand in ein völlig neues Bedeutungsfeld überführten. So wird etwa die Schaltstelle im Hirn, die gleichermassen für Sprache wie für Musik verantwortlich ist, von einem Hirnforscher als kirschgross beschrieben, wobei die Äste zwischen den Hemisphären bei regelmässigem Praktizieren zu regelrechten Baumstämmen erwachsen können. Während sich dieser weiter über die Verwandtschaft von Sprache und Musik auslässt, sinniert der Gesprächspartner über Kirschbäume, bis schliesslich aller «Sinn in Klang zergeht» und noch ein letztes Mal die Mundharmonika erklingt.

Nicht so recht in die Reihe des unerwartet Kuriosen passen wollte ausgerechnet der Fantasy-Roman Daniel Illgers. Im Gegensatz zu den anderen Romanen schien dieser geradezu mimetisch real, wenn er von zwei flüchtende Schwestern erzählt, die etwas sehr melodramatisch erkennen müssen, dass «Hunger und Not nicht vor der Strafe des Diebstahls retten».

Den Einblick in vier so unterschiedliche Werke konnte man im Anschluss bei einer Schüssel selbstgemachter Suppe diskutieren, denn wie die veranstaltende Autorin Dana Grigorcea betonte, soll der «Lesesalon» ein Ort des Austausches sein.