Augen wie blaue Diamanten

Auch wenn das diesjährige Zürich liest noch nicht einmal vorbei ist, hat Nadia Brügger bereits ihren Lieblingsort gefunden: Er liegt unweit des Paradeplatzes, an der Bärengasse 20. Das Junge Literaturlabor ist bereits zum dritten Mal Teil des Literaturfestivals. Es wird von Richard Reich, Gerda Wurzenberger und Irene Eichenberger geleitet und bietet Kinder und Jugendlichen aus Primar- und Sekundarschulen den Raum, mit der Sprache experimentierfreudige Spiele zu treiben. Dabei entstehen Geschichten über die Eifersucht, präzise Stadtbeobachtungen und sogar ein Hörspiel.

 «Schrei doch no lüter», tönt es von der Seite, wenn die Schülerinnen und Schüler der Oberstufen-Kleinklasse aus Schlieren ihre Geschichten  zum Thema Wie das Schicksal tickt lesen. Anlass des Aufruhrs ist, möchte man meinen, eigentlich der brisante Inhalt: Trisa und Sandro lernen sich auf einer Party kennen, gehen zusammen nach Hause, wenn die Eltern weg sind, Trisa wird schwanger und von Sandro verlassen (er hat sich immerhin schon um den Spitznamen «Fuckboy» verdient gemacht). Das Kind kommt im Triemlispital zur Welt und trägt den Namen Sonja. So weit, so gut. Die Klassenkameradinnen, von denen einige am Rand sitzen, werden immer wieder mit Kommentaren in die Lesung eingreifen oder es vor Lachen kaum aushalten, wenn es in der Kurzgeschichte Drei Minuten ihres Schreibcoaches Anita Siegfried eine zerklüftete Zunge gibt, die wie eine Schnecke einer Schulter entlanggleitet: Sie machen ihre Lesung kurzerhand zu einer Aufführung. Die aufgeregte Stimmung hält schon lange an, und sie ist ansteckend (ich werde noch Stunden nach der Lesung eifriger als sonst durch die Strassen streifen): Bei der ersten Cola noch vor der Lesung strömen von überall her Kinder und Jugendliche, die A4-Blätter in klammen Fingern, ihre Coaches und Grosseltern stürmisch begrüssend. Ein Mädchen neben mir, das später lesen wird, hat Bauchweh, und als ihre Angehörige besänftigend meint, das sei bloss die Aufregung, meint sie fast frohlockend: Ich habe es bereits seit einer Woche!
Anita Siegfried hat mit den «Schlieremer Chind», wie sie Richard Reich in seiner Einführung lachend nennt, ein Langzeitprojekt begleitet, aus dem nun der JuLl-Print Nr. 13 entstanden ist: Vier Storys aus Schlieren eben, geschrieben von Albijon Biljali, Naike Gambi, Yasmin Henle, Ricardo Horta, Fjolla Idrizaj, Myriam Krebs, Drilona Kryeziu, Giovanni Lama, Even Mengstab und Arbresha Rexhepaj. Sie erzählen von Liebe und Eifersucht, Snapchat und Instagram, von Carlos’ Freundin, deren Augen wie blaue Diamanten leuchten, von Kim, die es im Gefängnis «soso lala» findet und von Luca und Mattia, die nach einer turbulenten Inselstrandung in Schlieren ein italienisches Fünf-Sterne-Restaurant mit dem Namen «Bella Sicilia» eröffnen.

Das ist aber bloss das erste Projekt, das an diesem Abend vorgestellt wird: Gina Bucher, die in ihrer dokumentarischen Neuerscheinung Der Fehler, der mein Leben veränderte unter anderem virtuos von einem sanftmütigen Bankräuber erzählt, der bei seinen Überfällen nicht einmal eine Waffe zückt («Aber Herr Kuhn, die hatten Sie ja nicht einmal in der Hand!»), begleitet ein Projekt, das seit der letzten Manifesta vor einem Jahr existiert: Die fünf Stadtbeobachterinnen, die ihre Lesung mit Detailbeobachtungen in Form von Pendlernotizen von Nicola Bryner beginnen und von denen man nur hoffen kann, dass sie bald den Blog für ein ihnen zustehendes (also: grosses) Publikum aufschalten. Deborah Mäder erzählt von einer Segway-Tour inkl. Bahnhofstrasse, bei welcher der erste Unfall bereits geschieht, als die Tour noch nicht einmal begonnen hat – bei ihrer Erwähnung dessen, dass nach kurzer Zeit bereits der zweite Italiener am Boden liegt, geht ein unruhiges Raunen durch die GC-Fans. Mara Richter (mit einer Hörspiel-Erzählstimme sondergleichen!) liest eine Geschichte von Selma Matter, in dem Zukunfts- und Maturagefühle verhandelt werden, und daraufhin noch eine eigene, die eine denkwürdige Begegnung mit einem Bettler verhandelt. Die Begegnung mit Frau Hueber mit «ue», einer achtundneunzigjährigen Frau, die kürzlich vom Blitz (ihre eigene Interpretation des «Schleglis») getroffen wurde und nun mithilfe einer Passantin bei einem Mann klingeln geht, den sie für ihren Sohn hält, ist schliesslich Anaïs Ruters traumwandlerische Erzählung. Spätestens hier möchte man, angestachelt durch die Lust und Freude an der Literatur, die an diesem Abend ganz deutlich spürbar wird, mit eigenen Papieren durch die Stuhlreihen stürmen und am Mikrofon zu sitzen kommen.

Die beiden letzten Darbietungen dieses Abends werden von Suzanne Zahnd und Ulrike Ulrich betreut: Zahnd, aus deren Debüt Angemessene Regung die Zuhörerinnen und Zuhörer zum ersten Mal Auszüge hören, gibt die Premiere zum Hörspiel einer sechsten Klasse, das den Titel Rache ist rot trägt und mit vielen Überraschungen aufwartet: Schulleiter und Lehrerin werden beim Schmusen erwischt, was eine ganze Reihe von Schwierigkeiten auf den Plan ruft, in deren Folge Mäuse nicht einmal mehr Mäuse bleiben. Fünfundzwanzig Schülerinnen haben dafür an einer gemeinsamen Geschichte geschrieben und erzählen vor ihrer quirligen Darbietung davon, wie man fürs Hörspiel das Geräusch eines Blutbrunnens produziert oder mit Geknister und Petflaschen den Eindruck erwecken kann, etwas würde ganz eilig gesucht.

Ulrike Ulrich (Fernbleiben, Draussen um diese Zeit) steigt mit einer Zukunftsdystopie ein, in welcher die EU nur noch eine ferne Erinnerung ist, und stellt dann mit Axmed Cabdullahi ihren Zögling vor, der seit 2017 in der Schweiz lebt und ein Ministipendium zugesprochen bekommen hat. Seine erste Geschichte, die vom eigenen Lachen begleitet wird, liest er auf Somali. Seine Geschichten sind «garantiert nicht traurig», weil sie dann nicht müde machen, und können im JuLl Ready Print 9 mit dem Titel Die Kurden waren sehr überrascht nachgelesen werden. Es geht um nicht sehr intelligente Söhne, die den Dieben die Fernbedienung nachtragen, um neunzigjährige Männer in der Bank von Somalia, die für die Hochzeit ihrer Grossväter Kredit beantragen wollen, um intelligente Mütter, grosszügige Coiffeure und Esel, die Witze immer erst später verstehen. Wie der ganze Abend an der Bärengasse: lohnt sich auch das.