Anschwellender Boxgesang

Nach der fulminanten Premiere im Kaufleuten vor wenigen Wochen brachte der Zürcher Spoken Beat-Poet Jurczok 1001 sein neues Programm gestern im vollbesetzten Kosmos zur Aufführung.  Dessen eigenwillige Architektur – statt auf einer erhöhten Bühne steht der Performer im Foyer, das sich nach hinten zu einer Art Hörsaaltreppe öffnet und zur Seite durch ein Schaufenster den Passanten – stellte den Charismatiker durchaus vor eine Herausforderung: Vor allem Jurczoks kraftvolle, teils hypnotische Stücke, eine Art anschwellender Beatboxgesang, der Soundschicht auf Soundschicht stapelt und doch jeden Atemzug registriert, rufen eigentlich nach einer dunkleren, konzentrierten Atmosphäre.

Aber der 1974 in Wädenswil geborene Dichtersängerrapper, seit mehr als zwei Dekaden im Geschäft und zuletzt mit wichtigen Preisen bedacht, ist ein Profi. Und eröffnet den Abend mit einem Sprechtext, der erst einmal zu lachen gibt, in seinem prononcierten Vortrag jedoch schon mal den Performance-Claim absteckt: Das hier wird lustig, berührend, ironisch, politisch, elegisch, pointiert. Aber all das nur, weil hier einer weiss, was ein Sprachkunstwerk ist.

Als ein solches geben sich die Shirt Stories denn auch gleich zu erkennen. In order of appearance hat Jurczok dafür an einem New Yorker Herbsttag alle Slogans notiert, die ihm auf Brust und Bauch entgegen getragen wurden. Komisch ist daran weniger die erwartbare Heterogenität der Zeilen-Brüche von Black lives matter zu Nike und Co. als vielmehr der Kontrast von rhythmisch-nachdenklichem Vortrag und flüchtigem, meist banalem objet trouvé. Da entsteht ein Resonanzraum, den die Wiederaufnahme der Shirt Stories im zweiten Teil des Programms, dann als pathetischer Beatboxgesang im Nachgang der aktuellen Single Chumm, mi schlafed, noch verstärken wird.

Das wunderbar vielfältige Publikum – vom Sek-Schüler bis zur Studienrätin, von der Wiediker Kulturschaffenden bis zum Dietiker Homeboy ist alles vertreten – dankt es mit Applaus, sieht über ein etwas tief in Stand up- und Slam-Gefilden wilderndes Intermezzo zum Thema Langstrassen-Silikon-Implantate hinweg und wird schon bald mit dem nächsten Höhepunkt belohnt: Die mit höchster demagogischer Konzentration vorgetragene Köppel-Imitation zum Thema Scheinbevölkerung führt vor, wie dank einer über die bekannten rhetorischen Strategien weit hinausgehende Rhythmisierung und Akzentuierung noch die grösste Scheinlogik und Widersprüchlichkeit als besorgte politische Analyse durchgehen kann. Diese nicht einfach vorschnell und selbstgerecht der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern ihre Wirksamkeit und Mechanismen in einer fast erschreckenden Anverwandlung vorzuführen, geht über die frühere, auch schon grossartige Wältwuche-Nummer weit hinaus. Fast schien es, als müsse der Magier das gebannte Publikum anschliessend erst aus der Hypnose holen. Grandios dabei die Schlusspointe, den Applaus im Namen des schmeichelnden Demagogen einzufordern. Dessen Imitation war trotz oder wegen ihrer Überzeichnungen so überzeugend, dass nicht wenige Zuschauerinnen und Zuschauer einen Moment brauchten, ehe sie realisierten, dass sie ruhig klatschen durften, weil da vorne eben doch kein Köppel auf der Bühne stand.

Sondern ein vielseitiger Performer, dem es in jahrzehntelangem Feintuning gelungen ist, noch die scheinbar widersprüchlichsten poetischen und musikalischen Verfahren zu einer Einheit zu führen, die so mühelos und organisch wirkt, wie nur eine bis in den 1001. Winkel durchkomponierte Kunst zu wirken vermag. Dass Jurczok keines seiner Verfahren verschleiert, jederzeit zeigt, dass und wie er zeigt, und trotzdem niemand sonst an seiner Stelle vorstellbar ist, gehört zu den beglückenden Geheimnissen einer singulären Präsenz.

Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Ihre Bewegungen sind unaufgeregt, ruhig. Keine hastig ins Publikum geworfene Worte, als sie die Bühne des neuen Kulturzentrums Kosmos betritt. Kein nervöses Lächeln, als sie sich setzt. Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Behutsam legt sie ihre Brille vor sich aufs Pult, schlägt sie ihr neues Buch auf.

Das erste, was das Publikum zu hören bekommt – nach den zaudernd-einführenden Worten Bruno Deckerts vom Kosmos –, sind die dumpfen Klänge eines Kontrabasses, begleitet vom rhythmischen Spiel auf Perkussionsobjekten aus Konserven, Aludosen und Petflaschen. Mit auf der Bühne sind die beiden Musiker Mich Gerber und Balts Nill.

Der Auftakt zur Buchpremiere im überfüllten Saal ist eine Aufforderung, die Hektik der Langstrasse hinter sich zu lassen, anzukommen. Das Erste, was das Publikum von Melinda Nadj Abonji zu hören bekommt, sind ungarische Worte. Zuerst Worte, die sie begleitend zur Musik ins Mikrofon spricht. Dann Gesang.

Während rund einer Stunde liest die Autorin aus ihrem neuen Roman Der Schildkrötensoldat mit klarer, deutlicher Stimme. Ohne Pause. Im Saal herrscht beinahe andachtsvolle Stille. Die Geschichte von Zoltan Kertesz, dem stotternden Soldaten, der mit seinen himmelblauen Augen voller Poesie auf die Welt blickt, vermag das ausverkaufte Haus zu fesseln. Ihr neues Buch sei aber nicht eigentlich ein Roman – erläutert die Preisträgerin des Deutschen und Schweizer Buchpreises in ihrem Schlusswort –, sondern ein Requiem. Ein Abgesang auf einen verstorbenen Soldaten, der denselben Vornamen trug wie der Titelheld.

Die Premierenlesung von Melinda Nadj Abonjis drittem Roman endet, wie sie begonnen hat: Mit musikalischen Klängen und Sprechgesang. Das Tempo, in dem sich nach dem letzten Satz der Autorin auf einmal alles auflöst, kontrastiert gewaltig mit der geruhsamen Inszenierung der Lesung. Ich für meinen Teil bin noch nicht wieder ganz zurück aus meiner Zuhörertrance, als ich noch rasch mein Handy zücke, um den Moment des Aufbruchs festzuhalten. Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

«I wui Skifoahrn – sonst nix!»

Gion Mathias Cavelty, der Bündner Fachmann für geistreichen Firlefanz, kann nicht anders: Die Lesung im eleganten Buchsalon des «Kosmos» eröffnet er, in gewohnt schwarzer Montur, ironisch: mit dem Abspielen der Österreichischen Nationalhymne. Man dürfe sich erheben und ungeniert einstimmen, bietet er an. Es ist das letzte Mal an diesem Abend, dass ihm sein Publikum nicht folgt. Von nun an ist es ihm, der mit routinierter Süffisanz durch den Abend führt, gewogen.

Das launige Geplänkel mit dem Journalisten Thomas Widmer, der dem Autor als kongenialer Sidekick assistiert («Ist der Bauch echt?»), ermöglicht Cavelty, seine Lieblingsanekdoten vorzubringen, lotet aber auch das Verhältnis von Autor und Werk aus. «I wui Skifoahrn – sonst nix!» zitiert Cavelty den ehemaligen Weltklasse-Skirennläufer Franz Klammer in seinem neuen Buch – ob dieses Bekenntnis, so Widmer, nicht eigentlich ein peinliches Zeugnis von Einfältigkeit sei? Der Autor widerspricht vehement: «Wenn ich in einem Satz sagen könnte, was ich bin und was ich will, und das dann auch tun würde» – das wäre seiner Meinung nach «vorbildlich».

Freilich: Eine Sport-Story ist Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete nicht geworden. Klammer meets Jesus und dessen Bibelkollegen, gemeinsame Zeitreisen leiten thematisch vom kruden Okkultismus führender Nazis zu den Gnostikern, den alten Ägyptern und den Maya bis hin zum Urknall. Einem Ort also ohne Zeit und Raum, vor allem ohne Gott. Im Gespräch mit Widmer bekundet Cavelty Sympathie für die Gnostiker. Ihr Spieltrieb, ihr Trotz gegen Konventionen, ihre Freude an der Opposition faszinieren ihn, der mit dieser Attitüde auch sein eigenes Werk bestreiten will. Auf die Frage nach seinen Vorbildern und ob zu diesen etwa Bärfuss zähle, antwortet er keck: «Bärfuss? Was ist Bärfuss?» Stattdessen verweist er auf «Moby Dick». Er könne sich, «jetzt mal unironisch», mit keiner literarischen Figur so sehr identifizieren wie mit Ahab, der mit letzter Kraft gegen die Naturgesetze ankämpfe.

Cavelty liest gekonnt und mit erkennbarer Freude am Ulk. Geschickt nutzt er den Bündner Sprachduktus, um jede noch so latente Pointe aufzuspüren. Den Abschluss des Abends bildet ein Ausschnitt des Hörspiels zum vorgestellten Buch: «nur 6 Minuten», beschwichtigt der Autor. Er braucht einige Sekunden, sich selbst in die Rolle des blossen Zuhörers zu finden, und arrangiert sich stilvoll in die Denkerpose hinein: den Kopf auf die tätowierte Hand gestützt, folgt er zufrieden dem eigenen Werk. Hier sieht man einen Autor, versunken im selbstverfassten Text, der innerlich die Worte mitzusprechen scheint und, sobald das Kichern wie ein Lauffeuer durch die Sitzreihen brandet, leise feixt. Einem anschliessenden Foto-Shooting gibt er sich bereitwillig hin.