«I wui Skifoahrn – sonst nix!»

Gion Mathias Cavelty, der Bündner Fachmann für geistreichen Firlefanz, kann nicht anders: Die Lesung im eleganten Buchsalon des «Kosmos» eröffnet er, in gewohnt schwarzer Montur, ironisch: mit dem Abspielen der Österreichischen Nationalhymne. Man dürfe sich erheben und ungeniert einstimmen, bietet er an. Es ist das letzte Mal an diesem Abend, dass ihm sein Publikum nicht folgt. Von nun an ist es ihm, der mit routinierter Süffisanz durch den Abend führt, gewogen.

Das launige Geplänkel mit dem Journalisten Thomas Widmer, der dem Autor als kongenialer Sidekick assistiert («Ist der Bauch echt?»), ermöglicht Cavelty, seine Lieblingsanekdoten vorzubringen, lotet aber auch das Verhältnis von Autor und Werk aus. «I wui Skifoahrn – sonst nix!» zitiert Cavelty den ehemaligen Weltklasse-Skirennläufer Franz Klammer in seinem neuen Buch – ob dieses Bekenntnis, so Widmer, nicht eigentlich ein peinliches Zeugnis von Einfältigkeit sei? Der Autor widerspricht vehement: «Wenn ich in einem Satz sagen könnte, was ich bin und was ich will, und das dann auch tun würde» – das wäre seiner Meinung nach «vorbildlich».

Freilich: Eine Sport-Story ist Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete nicht geworden. Klammer meets Jesus und dessen Bibelkollegen, gemeinsame Zeitreisen leiten thematisch vom kruden Okkultismus führender Nazis zu den Gnostikern, den alten Ägyptern und den Maya bis hin zum Urknall. Einem Ort also ohne Zeit und Raum, vor allem ohne Gott. Im Gespräch mit Widmer bekundet Cavelty Sympathie für die Gnostiker. Ihr Spieltrieb, ihr Trotz gegen Konventionen, ihre Freude an der Opposition faszinieren ihn, der mit dieser Attitüde auch sein eigenes Werk bestreiten will. Auf die Frage nach seinen Vorbildern und ob zu diesen etwa Bärfuss zähle, antwortet er keck: «Bärfuss? Was ist Bärfuss?» Stattdessen verweist er auf «Moby Dick». Er könne sich, «jetzt mal unironisch», mit keiner literarischen Figur so sehr identifizieren wie mit Ahab, der mit letzter Kraft gegen die Naturgesetze ankämpfe.

Cavelty liest gekonnt und mit erkennbarer Freude am Ulk. Geschickt nutzt er den Bündner Sprachduktus, um jede noch so latente Pointe aufzuspüren. Den Abschluss des Abends bildet ein Ausschnitt des Hörspiels zum vorgestellten Buch: «nur 6 Minuten», beschwichtigt der Autor. Er braucht einige Sekunden, sich selbst in die Rolle des blossen Zuhörers zu finden, und arrangiert sich stilvoll in die Denkerpose hinein: den Kopf auf die tätowierte Hand gestützt, folgt er zufrieden dem eigenen Werk. Hier sieht man einen Autor, versunken im selbstverfassten Text, der innerlich die Worte mitzusprechen scheint und, sobald das Kichern wie ein Lauffeuer durch die Sitzreihen brandet, leise feixt. Einem anschliessenden Foto-Shooting gibt er sich bereitwillig hin.

Seiten über Saiten, soweit das Auge das reicht

Im Klampfen-Mekka von Zürich, dem Gitarren Total, ist jeder Quadratmeter Wand mit Gibsons, Fenders und Les Pauls bestückt. Und wenn man genau hinhört, dann vernimmt man ihr verheissungsvolles Wispern, sie doch endlich aus der Halterung zu nehmen und zum Leben zu erwecken.

Somit ist es nicht vermessen zu sagen, dass der Gitarrenladen im Kreis 3 die perfekte Kulisse für die Lesung aus Vintage war, dem neuen Roman von Grégoire Hervier, der es sich auch nicht nehmen liess, selbst in die Saiten zu greifen, um vor der Lesung mit einigen satten Riffs den Blues wieder aufleben zu lassen.

Um den geht es auch in seinem neuen Roman, in dem ein junger Journalist und Gitarrist eine Million versprochen bekommt, wenn er beweisen kann, dass es die legendäre Gibson Moderne tatsächlich gegeben hat. Zwielichtige Gestalten, abgehalfterte Elvis-Imitatoren und besessene Musikliebhaber kreuzen dabei seinen Weg. Das Buch ist jedoch nicht nur ein fantastisch geschriebener Musikkrimi,  sondern auch eine Hommage an eine Zeit, als die Billboard Charts noch nicht unter dem Diktat des digital zum Einheitsbrei gepanschten Mainstream-Pops ächzten.

The blues had a baby and called it Rock ’n‘ Roll.

Doch die Lesung war keinesfalls ein rührseliger Nostalgieabend. Abwechselnd auf Deutsch und Französisch vorlesend, bildeten Grégoire Hervier und der Schauspieler Jürg Plüss ein harmonierendes Duo, das den zahlreich erschienenen Besuchern einen höchst kurzweiligen Abend zu bereiten wusste und die Grenzen zwischen Lesung und Jamsession fliessend werden liess. Der zu Anfang ein wenig zurückhaltende Hervier taute schnell auf und nahm das Publikum mit seinem französischen Charme ein. Jürg Plüss als sein dynamischer Counterpart schaffte es mit seinem wohlklingendem Bariton, dem Text eine archaische Dynamik zu verleihen. So waren die Limmat und das Grossmünster plötzlich ganz weit weg und man fühlte stattdessen die gleißende Sonne des Mississippi-Deltas im Nacken brennen und den Vorschein einer neuen musikalischen Ära am Horizont.

Ein mehr als gelungener Abend also, von dem die Erkenntnis blieb, dass zwischen guter Literatur und guter Musik kein so grosser Unterschied besteht. Es braucht Leidenschaft, den richtigen Ton und eine solide Geschichte. Und wenn das alles noch nicht ausreicht, dann geht man halt einen Pakt mit dem Teufel ein. Doktor Faustus und Robert Johnson lassen grüssen …

 

 

 

 

 

Matto verliert, Trampeltier regiert

Matto Kämpf ist ein Meister der Pause. Seine neue Band setzt auf Pointen ohne Ende. Ob das fägt?

 

Das Berner Multitalent, nach gefeierten Kolumnen und Beinaheromanen zuletzt im Fernsehen mit  dem Experiment Schneuwly präsent, hat jetzt eine Band. Trampeltier of Love klingen mal nach Musikschule, die eine Treppe runterfällt, mal nach Fabers Zirkuskapelle, mal nach Indie-Dadrock, der sich am eigenen Breitwanddilettantismus berauscht. Die Gratwanderung zwischen Totalschaden und Gesamtkunstwerk ist gewollt. Und meistens sogar richtig gekonnt. Denn während Kämpf als Frontmann eine Art synkopischen Bernrap mit Gröleinlagen und Schunkelrefrains kultiviert und auch als Sänger ein Mann des Wortes bleibt, sind seine drei Mitmusiker  nicht nur performativ, sondern auch technisch versiert. King Pepe, der sich bereits als Solokünstler einen Namen gemacht hat, bildet mit dem Drummer Benjamin Dodell eine verspielte Einheit, die dem mächtigen Sousaphon von Tubist Marc Unternährer kraftvoll gegenübertritt. Das ist laut, das ist lustig.

Auch am Mikro kommen alle zum Zug, neben Spoken Word-Einlagen (Kämpf: «Ein patriotisches und UBS-kritisches Gedicht: Wer ins Ausland geht, ist selbst schuld»), Schunkel-Acapella-Oden an Whiskey und Zigaretten oder der reizend überdrehten Single «Leider ohne Kleider» erfreut die gut fünfzig ZuhörerInnen im Wiediker Kulturmarkt vor allem die Solonummer des hochgewachsenen Tubisten, der, wie einst Laokoon unter den Schlangen, unter seinem gigantischen Instrument ächzend zur Wachsamkeit bei Lebensentscheidungen aufruft: «Augen auf bei der Berufswahl.»

Dass der Funke bei dem in sterile Stuhlreihen gequetschten Publikum erst in der zweiten Hälfte des gut einstündigen Konzertes so richtig übersprang, mochte zu Teilen dem recht kargen Saal geschuldet sein. Dessen latente Jugendzentrumanmutung nahm dem gewollten Improvisationscharakter etwas an ironischer Schärfe. Dass aber das Publikum trotz wohlwollender Anteilnahme oft nicht wusste, wo, wann und warum zu lachen war, ist in Teilen auch dem von Pointen überfrachteten Programm anzulasten: Während man, gerade bei Kämpfs Texten, noch den teils grandiosen, stets mit Understatement vorgetragenen Treppenwitzen nachhinkte oder den ein oder anderen humoristischen Klimmzug nachturnte, waren die Nummern häufig schon wieder vorbei. Da standen sie dann, die vier charmanten Entertainer, und mussten allzu häufig ein paar Schrecksekunden lang auf den verdienten Applaus warten. Der dann aber umso gelöster kam, und überhaupt dürfte es auf Schweizer Kleinkunstbühnen wohl eine Luxussorge darstellen, dass eine Bühne unter dem versammelten Esprit gelegentlich zu kollabieren droht. Dass Kämpfs Talent, gerade durch Dehnung zu grösster poetischer Dichte zu gelangen, solo besser zu Geltung kommt, tut dem infinite jest, den das Trampeltier auf die Bretter bringt, deshalb keinen dramatischen Abbruch. Ein paar Stühle raus, ein paar Verschnaufpausen rein, und das fägt.

Wie man die Blindmaus vertreibt

«Ich bin neidisch, weil Sie Wasser haben.» Meir Shalev ist angetan von der Zürcher Stadtgärtnerei. Bei ihm zuhause im Norden Israels sei es von Juni bis September völlig trocken. Nur zwei oder drei Blumen wachsen in dieser Zeit in Shalevs Garten. Von dem erzählt der Autor im Gewächshaus einem fachkundigen Publikum – auf Nachfrage gibt mehr als die Hälfte der Besucher an, selbst einen Garten zu beackern.

Sein Garten sei wohl das Gegenteil eines schweizerischen Gartens: unprofessionell und wild. «Er ist ein Durcheinander.» Das Gärtnern hat sich Shalev selbst beigebracht. Vor achtzehn Jahren bezog er sein Haus und sah Blumen im Garten des Nachbarn. Da kam er auf den Geschmack und begann selbst, die Fläche um sein Haus zu bepflanzen. Wildblumen pflanzte er, weil diese stark genug seien, sowohl das harte Klima als auch seine schlechten Gartenkenntnisse überleben können. In seinem Buch «Mein Wildgarten» versammelt er Anekdoten aus seinem Gärtneralltag.

Meir Shalev mit Moderatorin Jennifer Khakshouri

Shalev berichtet von den Verwüstungen einer Blindmaus, die besonders gerne die Zwiebeln seiner liebsten Blumen angriff. Selbst für einen friedlichen Gärtner wird solch ein Gast zum Erzfeind, gegen den ein «totaler Krieg» begonnen werden muss. Nach etlichen gescheiterten Versuchen, das Tier zu ertränken, erschrecken, erschiessen oder zu erschlagen, hält Shalev jedoch inne. Er hat seine Zeit vergeudet, sich und der Umwelt geschadet. Warum und mit welcher Wirkung? Wer ist hier der Schädling? Heute pflanzt er seine wertvollsten Blumen in Töpfen und «verwaltet» den Konflikt mit der Blindmaus.

Es ist köstlich, diese und andere Anekdoten zu hören. Der Schauspieler Jaap Achterberg liest die Passagen zur hörbaren Freude des Publikums sehr anregend und dynamisch. Neben den gelesenen Passagen aus seinem Buch kommentiert Shalev seine Arbeit. Er spricht über seine Wildblumen und über die Tiere, die nachts aus dem angrenzenden Wildreservat seinen Garten besuchen. Das Gärtnern sei sein erstes richtiges Hobby geworden, erinnert sich Shalev.  Was hat das Schreiben mit dem Gärtnersein gemeinsam? Man brauche viel Geduld. Manche Samen, egal ob aus ihnen Blüten oder Geschichten kommen, müssen lange Zeit ruhen, um wachsen zu können.

Sein Buch «Mein Wildgarten» ist in Israel zum Bestseller geworden. Shalev vermutet dahinter auch religiöse Gründe. Denn sein Buch beschreibe den Garten als «einzigen normalen Ort in Israel». In einem Land, dessen Boden seit Jahrhunderten von drei Weltreligionen verehrt und umkämpft wird, biete der unspektakuläre und bescheidene Wildgarten einen beruhigenden Perspektivwechsel. Davon ist Shalev überzeugt. Gerade weil er nicht heilig ist, gerade weil niemand Besitzansprüche an sie stellt, werde die Erde seines Gartens zum Ort für neue Reflexion. «Jesus hat nie meinen Garten betreten.»

Shalev schlägt auch politische Töne an. Sowohl das Land, als auch der Autor werden im nächsten siebzig Jahre alt. «Wir sind beide siebzig, aber ich sehe besser aus.» Zum Geburtstag wünscht er dem Land vor allem eine bessere Regierung.

Enrico Ehmann, Julien Reimer


 

Es tagt. Wir auch.

Während die Blogredaktion noch die die letzten Wahrheiten über Gitarren, Stundenhotels, Gartenbau, Berner Dilettantenrock oder ägyptische Radlerinnen aus den Notizblöcken kitzelt, wirft der dritte Lesetag seine Schatten voraus. Neben der Premiere von Melinda Nadj Abonjis Schildkrötensoldat, der Performance von Jurczok 1001 und der Vorstellung der fünf Buchpreis-Nominierten freuen wir uns auf Populismusdebatten, Dichterduette und falsche Liebesschwüre nach Mitternacht.

Revolution ist: eine Frau, die Fahrrad fährt

«Dieses Buch wirft einen Blick in eine Brennpunkt-Situation; nach Ägypten», sagt Bernhard Echte, der Gründer des Nimbus Verlags über SAYEDA, den neu erschienenen Fotoband von Amélie Losier. «Von der politischen Revolution im Nahen Osten haben wir viel gelesen, jedoch nicht über die gesellschaftliche Revolution, die sich dort zwischen den Geschlechtern abspielt.»

Am Donnerstagabend fand in der Modissa an der Bahnhofstrasse die Buchvernissage von «SAYEDA Frauen in Ägypten» statt, gefolgt von einem Gespräch und einer Ausstellung ausgewählter Fotografien. Mit so viel Andrang hatte Jean-Pierre Kuhn, der Geschäftsführer des Modehauses, nicht gerechnet. Seit drei Jahren veranstaltet er in der Filiale im Kreis 1 Lesungen und Gespräche zum Thema «Mut für die Macherin». Mit Losier verliess das Gefäss zum ersten Mal die Schweizer Grenzen und thematisierte mutige Frauen aus Ägypten. Ein Publikum aus Frauen allen Altersklassen füllten die Sitzplätze restlos aus. Darunter waren auch ein paar wenige Männer, die ihre Frauen begleiteten.

Susanne Schanda, Jean-Pierre Kuhn, Amélie Losier

Das Gespräch mit der französischen Fotografin Amélie Losier führte die Nahost-Expertin Susanne Schanda. Selbst Schanda, die seit 20 Jahren regelmässig nach Ägypten reist, muss gestehen, dass sie ihr bisher unbekannte Szenen in den Fotografien entdeckt hat. Da war die Frau auf dem Fahrrad, die Taxichauffeurin, die Töpferin oder die geheimnisvolle Shisha-Raucherin. 2014 reiste Losier zum ersten Mal nach Ägypten. Kritische Zeitungsberichte wie jene der Journalistin Mona Eltahawy  weckten ihr Interesse für Ägypten und öffneten ihr Blick für die patriarchalen politischen Strukturen, mit denen die Ägypterinnen täglich zu kämpfen haben. Während ihrer Reise wollte sie herausfinden, «wo» sich die Frau im öffentlichen Raum befindet und «was» sie dort tut. Den Zugang zu einem fremden Land und einer neuen Kultur schafft sich Losier über die Fotografie von Menschen auf der Strasse. Denn fotografieren heisst für Losier lernen. Auch führte sie lange Gespräche mit den Frauen, die sie porträtieren wollte. Durch die Gespräche mit den Frauen habe sich ihr Blick sensibilisiert für die kulturellen Feinheiten. Beispielsweise die Frau auf dem Fahrrad wäre ihr am Anfang der Reise nicht aufgefallen. Durch die Interviews wusste sie aber, dass dieser Anblick in Kairo nicht der Normalität entsprach. Losier hielt die Frau auf dem Fahrrad an, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war eine junge Studentin auf dem Weg zur Universität. Sie erzählte, dass der Sicherheitsmann der Universität sie anfänglich nicht auf den Campus lassen wollte mit ihrem Fahrrad. Mittlerweile toleriert er sie, doch von Akzeptanz kann noch nicht die Rede sein.

«SAYEDA Frauen in Ägypten» Nimbus. Kunst und Bücher

Die Interviews und weitere Kontext-Informationen, verfasst von der Kunsthistorikerin Hoda Salah und der Politikwissenschaftlerin Franziska Schmidt, sind ebenfalls Teil des Buches und ergänzen die Fotografien. Mit 30 sehr persönlichen Porträts gibt Losier einen authentischen Einblick in die ägyptische Gesellschaft und zeigt Frauen die keinen Klischees entsprechen.

Zutritt verwehrt! Krieg und Vertreibung büssen auch im Comic nichts von ihrer Tragik ein

Welche Ironie: Olivier Kugler kann trotz deutschem Pass und englischem Wohnsitz nicht in die Schweiz einreisen. Für uns wirkt es wie Ironie, aber für die Menschen, die er porträtiert hat, ist es wohl eher Sarkasmus. Kugler halten meteorologische Gründe in England fest. Die Vernissage seines Erstlings findet ohne ihn statt. Der Verleger und zwei Mitarbeiterinnen von MSF füllen die Leere mit einem improvisierten Gespräch.

Im Auftrag von Médecins Sans Frontières (MSF) reiste Olivier Kugler nach Kurdistan, Griechenland und Frankreich, um syrische Flüchtlinge zu porträtieren und auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Auf der Basis von Fotos und übersetzten Gesprächen vor Ort entstanden in seinem Atelier in London gezeichnete Reportagen von Flüchtlingen, die genügend Vertrauen hatten, ihre Geschichte zu teilen. Die Zeichnungen stecken voller Details, die im Leben der Porträtierten von grosser Bedeutung sind: Hier eine Plastikblume, dort ein Spielzeug oder eine Packung Schokoladenkekse. Der Stil ist comichaft, der Text wird jedoch nicht von Sprechblasen eingerahmt und nimmt viel Platz ein. Kugler selbst nennt seinen Stil gezeichnete Reportagen oder Comicreportage.

Die meisten Geschichten handeln von dem, was zurückgelassen wurde: Angehörige, Besitz und Lebenspläne, aber auch von den umständlichen Fluchtwegen sowie den Beschwerlichkeiten des Lagerlebens. Viele syrischen Flüchtlinge sind Akademiker. Sie geben sich extrem Mühe, Haltung zu bewahren,  während sie ausserhalb der EU hin- und hergeschoben werden. Viele von ihnen wollen eigentlich gar nicht nach Europa.

Europa ist nicht unser Traumziel. Es ist nicht das Paradies… Es ist nicht der Himmel. Ich wäre lieber in Syrien, aber ohne Krieg. (Flüchtling in Calais, FR)

Nach Europa kommen diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben, heimkehren zu können. Oftmals werden sie zusätzlich von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie fortgegangen sind. Je weiter weg von ihrer Heimat Kugler die Flüchtlinge antrifft, desto weniger Vertrauen bringen sie ihm entgegen; sie sind schon lange auf der Flucht und unwillkommen.

Das zentralste Problem in den Lagern ist der fehlende Zugang zu den öffentlichen Gesundheitssystemen. Aus diesem Grund ermöglicht MSF insbesondere Hilfe für werdende Mütter und Personen mit chronischen Krankheiten. Eine zentrale Aufgabe ist die psychologische Betreuung. Viele trauen sich nicht, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Depressionen und Selbstmordgedanken sind aber weit verbreitet.

Olivier Kugler ist momentan nicht für MSF unterwegs. Er arbeitet jedoch an einem neuen Projekt in Kolumbien. Er will dort eine syrische Flüchtlingsfamilie porträtieren für den Strapazin, ein in Zürich beheimatetes Comicheft. Sein Buch Dem Krieg entronnen – Begegnungen mit Syrern auf der Flucht erschien erst auf Deutsch. Die Veröffentlichung auf Englisch und Französisch ist in Planung und soll durch Crowdfunding finanziert werden.

Kuglers engagierter Erstling zeigt Menschen, die einst ein ähnliches Leben geführt und ähnliche Ziele verfolgt haben wie durchschnittliche Europäer. Auf eine ansprechende Art rückt Kugler eine der brennendsten gesellschaftspolitischen Debatten in den Fokus. Er präsentiert keine Patentlösung, aber Geschichten, die von der ungeklärten Situation verursacht werden. Olivier Kugler berührt und fordert dazu auf bewusst hinzusehen. Die Freude an seinem Buch wiegt die Enttäuschung über seine Abwesenheit beinahe auf.

Knöcherne Lieder – Bunte Figuren

Noch vor wenigen Monaten haben wir uns nach Martina Clavadetschers Auftritt in Solothurn nach erklärenden Worten gesehnt. Es gab keine Fragen, nur ein hypnotisiertes Publikum, das verstört auf seinen Stühlen zurückgelassen wurde. Liess auch das verspätete Eintreffen der begleitenden Musikerin Isa Wiss dem Kulturhaus-Helferei die Gelegenheit, die Autorin der Knochenlieder vorweg für ein kurzes Interview in Anspruch zu nehmen – aus der Höhle locken liess sich das Ungetüm nicht, das so mancher hinter besagten Gesängen schlummern glaubt. Das Auditorium musste sich mit einer klanglosen Inhaltsangabe eines vorwiegend melodiösen Textes und einer weiteren Frage zum Städtchen Brunnen SZ abfinden – das ist nicht unbedingt das, was uns an diesem Text die Haare zu Berge stehen lässt.

Umso schlagender trifft die Performance. Knöchern ächzt ein unsauber angestrichenes Cello, schallt rustikal angestimmter Gesang durch kahl geschnittene Texte, in denen urzeitliche Beständigkeit und postmoderner Zerfall zusammenprallen. Anadiplosen, Paronomasien, Alliterationen und Diaphern führen durch einen archaisch wuchernden Garten rhetorischer Simplizität. «Wortwiederholung wird zum Weg über die Wiese»; «einfallslose Form folgt hier einfallsloser Form» (den find‘ ich besonders hübsch). Und als geschehe es beiläufig, klingen, weitaus häufiger als man es dem Zufall zutrauen will, hie und da ein altes äolisches Kolon oder anhaltende alternierende Passagen aus den Liedern auf.

Bereits das Manuskript der Knochenlieder gewann im Vorjahr den Literaturpreis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung; das Buch wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Der Nationalstaat als Ekzem?

Im Kellertheater wird ein work in progress von Joel László, Hausautor am Theater Basel, ausschnittweise vorgetragen und in kleiner Expertenrunde besprochen. Drei der Bistrotischchen sind leergeblieben, von denen her man, nach eigenem Belieben, mit einem Glas Wein friedlich in die Künstlerecke linst oder sich in den öffentlichen Teil der Diskussion einfädelt. Was drei Akteure zu Beginn gekonnt vorsprechen, kann man am eigenen Textausdruck nachvollziehen, gegen Ende des Abends zentriert ein Büffet die sich lebhaft unterhaltenden Mitwirkenden und Zuschauer. Der aufwändigen wie aufmerksamen Gestaltung der Veranstaltungsreihe wäre vorbehaltlos ein grösseres Publikum zu wünschen.

Als Figuren des Dramas General Wunde werden gelistet: Anja und Samuel, ein Paar mit einem ekzematischen Kleinkind, Dufour als Grossvater, Landesvater und oberster Kartograph. Das Stück, so der Autor, befinde sich „im Modus des Juckreizes“: Satzbrocken in teils additiver Redundanz, gesprochen wie das Hin- und Herfedern der Finger über juckende Haut, dominieren die Textstruktur. Das irrsinnige aber auch wohlige Kratzen soll den Kontrollverlust über die Sprechweise artikulieren, die die psychischen und sozialen Wunden der Figuren buchstäblich verkörpert. Aber die Körperlichkeit des Stückes wird auch zurücktransponiert ins Abstrakte: die Haut als Metapher für das geologische wie soziale Territorium, auf dem disparate Seinsentwürfe mit- oder gegeneinander agieren. Dufour, der als Heiler der Wunden triumphieren will, scheint letztlich als Unglücksstifter zu fungieren. Er vereint auf dem Papier, d.h. kartographisch, was von selbst nicht zueinander findet.

Es lässt sich dies und allerlei Interessantes mehr aus dem Stück herauslesen, manches muss man aber auch offensiv hineinlesen. Der ideelle Nexus zwischen staatlicher Gebietserschließung durch Kartographierung angeblicher «Wunden» und der Hauterkrankung eines Kindes, an dem eine Ehe zerrütten soll, bleibt unklar. Der Eindruck mag sich legen, wenn General Wunde als Ganzes wirkt. Hört man die kenntnis- und aufschlussreichen Kommentare der Experten, darf man auf ein faszinierendes Stück schließen; auch der sympathisch bescheidene Autor selbst gibt interessante Einblicke in seine Arbeit und aktuelle Theaterdiskurse. Und so ist der Abend intellektuell lukrativ und die Veranstaltung durchweg empfehlenswert. Dasselbe lässt sich vom Stück, wie zaghaft angedeutet, nur bedingt sagen.

Das grosse Lesungs-Bingo

Jedes Genre bringt seine typischen Merkmale mit sich. Das gilt für Musik, Literatur, Malerei – und auch für kulturelle Veranstaltungen. Wir haben ein paar Floskeln und peinliche Ereignisse zusammengetragen und eine Bingokarte daraus gemacht. Für alle, die einen zusätzlichen Ansporn suchen, bei den Lesungen genau aufzupassen.

Wer schafft fünf in einer Reihe? Fertige Fünfergruppen bitte in der Kommentarspalte mit Verweisen auf Ort und Zeit der Ereignisse angeben!

Julien Reimer, Carla Peca, Laura Clavadetscher, Simon Leuthold