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Wenn die Fabulierlust Geschichte schreibt

Charles Lewinsky

Mit «Der Halbbart» wurde Charles Lewinsky für den diesjährigen Deutschen Buchpreis nominiert. Ein Roman, der Schweizer Nationallegenden literarisch aufbereitet und dabei raffiniert gegen nostalgische Heldenbildung anschreibt.

Von Olivia Meier
17. August 2020

Ist vom «Rogenmoser Kari» oder vom «Kryenbühl Martin» die Rede, befindet man sich nicht am Kantonalen Schwingfest, sondern mitten drin in Der Halbbart. Der neue Roman von Charles Lewinsky spielt zu einer Zeit, in der man auf einfachen Strohsäcken nächtigte, Mädchen als Bäbis und Jungen als Finöggel betitelt wurden und in denen man das Paternoster selbst im Schlaf herunterleiern konnte. In diese Zeit um 1300 also ist Sebi hineingeboren oder besser gesagt «der Sebi», der eigentlich Eusebius heisst und nicht so recht weiss, wo er hingehört. Ins Dorf nicht, wo er bloss Totengräber auf Lebenszeit werden kann. Ins Kloster nicht, wo scheinbar mehr Wert auf Abstammung als auf Frömmigkeit gelegt wird. Und auch zum Schmied Stoffel nicht, dem es misslingt, seine Erinnerungen in Wein zu ertränken.

Was Sebi jedoch weiss: Er liebt Geschichten. Solche, wie sie sich der Rogenmoser Kari nach ein, zwei Krügen Räuschling zusammenfantasiert oder der alte Laurenz nachts auf dem Gottesacker zu erzählen weiss. Oder auch die Geschichten, die ihm der Fremde, genannt Halbbart, Stück für Stück enthüllt, und nicht zuletzt seine eigenen, die er als Lehrbub bei der Geschichtenerzählerin «Teufels-Anneli» erfindet. Erzählt werden sie in einer anheimelnden Mischung aus Dialekt und Hochdeutsch, mit der schon Tim Krohn in Quatemberkinder oder Silvia Tschui in Jakobs Ross experimentierten und die beim Lesen die Stimme des erzählenden Sebi unversehens mit dem eigenen unbeholfenen Schweizer Hochdeutsch der Primarschule verschmelzen lässt. Eine einfache, aber pointierte Sprache, die ihren Witz besonders durch Sebis altkluge, aber stets ins Schwarze treffende Beobachtungen gewinnt.

Zum Autor

Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, darunter den französischen Prix du meilleur livre étranger sowie den Preis der Schillerstiftung. Sein Werk erscheint in 14 Sprachen. Charles Lewinsky lebt im Sommer in Vereux (Frankreich) und im Winter in Zürich.
Foto: © Maurice Haas

Lewinsky beschwört in seinem Roman das Bild einer Schweiz herauf, wie sie schon oft imaginiert wurde, und schliesst damit an tradierte identitätsbildende Narrative an, wenn vom Marchstreit zwischen Schwyzer Bauern und dem Kloster Einsiedeln, der Tapferkeit Schweizer Söldner oder von verhassten Habsburgern die Rede ist. Von einem historischen Roman im Stile Lukas Hartmanns oder Alex Capus ist Der Halbbart jedoch weit entfernt. Lewinsky hat nicht den Anspruch, möglichst nahe an historischen Fakten zu erzählen. Er spielt vielmehr mit nostalgischen Vorstellungen historischer Ereignisse, ähnlich wie Adam Schwarz zum Beispiel Niklaus von Flüe Amerika entdecken liess. So verhilft etwa der Halbbart nicht nur dem Roman zu seinem Titel, sondern wird von Sebi kurzerhand zum Namensgeber für die Hellebarde erkoren. Und die Schlacht bei Morgarten wird nur in Sebis Erzählung zum heroischen Sieg der Schwyzer gegen eine habsburgische Übermacht. Indem Lewinsky ein Netz aus Erzählungen spinnt, die sich mal mehr, mal weniger nah an vermeintlich historischen Fakten orientieren, zeigt der Autor auf, wie leicht aus einem Ereignis die verschiedensten Erzählungen entstehen und wie schnell aus Geschichten Geschichte wird.

Ironischerweise ist es Sebi selbst, der auf diese Problematik hinweist. Er, der ein ausgesprochenes Talent für die fantastischsten Geschichten besitzt und auch im Roman ein äusserst unzuverlässiger Erzähler ist, da er einen Grossteil der wiedergegebenen Ereignisse gar nicht miterlebt. Lewinskys Fingerzeig auf die Unzuverlässigkeit vermeintlich gesicherter Fakten, macht also auch vor dem eigenen Erzählen nicht Halt. Sebi ist aber nicht der einzige, der über das Geschichtenerzählen nachdenkt. Auch der Halbbart ist überzeugt: «wenn eine Geschichte gut zu dem passe, was die Menschen ohnehin schon dächten, dann werde sie so fest geglaubt, als ob ein Engel vom Himmel sie jedem Einzelnen ins Ohr geflüstert hätte». Und das Teufels-Anneli weiss, dass «Geschichten ein eigenes Leben bekämen, dass sie wachsen würden und sich vermehren, und irgendwann seien sie dann von der Wirklichkeit nicht mehr zu unterscheiden.»

Indem er historische Fakten, Folklore und persönliche Geschichten seiner Figuren mischt, gelingt es Lewinsky, die Entstehungsprozesse Schweizer Geschichte in ein neues Licht zu rücken. Er erinnert an die Schattenseiten historischer Ereignisse, die immer wieder dazu instrumentalisiert werden, einem Patriotismus zuzuarbeiten und lässt die Opfer der Geschichte, die unfreiwilligen Mittäter, selbst zu Wort kommen. So erzählt der Jude Halbbart nach und nach von seiner ungerechtfertigten Anklage und der Verbrennung seiner Familie, die er nur durch Zufall überlebte. Besonders dieser Blickwinkel des unschuldigen Sebi, der sich schockiert ob der Ereignisse im Kloster Einsiedeln und beim Überfall auf den Herzog zeigt, betont die Grausamkeit und Brutalität der Vergangenheit, die über die Zeit und ihre wiederholten Überschreibungen hinweg verklärt wird.

Obwohl seine überdeutliche Kritik an der Schweizer Geschichtsschreibung etwas gar viel Raum einnimmt und die eintönige, leicht angestaubte Dialektsprache des naiven Sebi dem Roman etwas Schwung nimmt, tröstet Lewinskys Ideenreichtum und die vielen liebevoll gezeichneten Figuren, die den Halbbart bevölkern, über die stellenweisen Längen hinweg. Lewinsky ist ein begnadeter und virtuoser Autor, der leichtfüssig, humorvoll, aber stets reflektiert erzählt. Seine spürbare Erzähllust und die kindliche Neugier des Erzählers sind nicht da, um die blutigen Stellen des Romans leichter erträglich zu machen – im Gegenteil. Gerade die Tatsache, dass der Roman die schöneren und weniger schönen Seiten des Erzählens, der Charaktere und der Schweizer Geschichte im Erzählen zusammenzuführen weiss, macht den Halbbart zu einem starken Roman, der verdienterweise auf der Longlist für den Deutschen Buchpreis 2020 steht.

Charles Lewinsky: Halbbart. 688 Seiten. Zürich: Diogenes 2030, ca. 35 Franken.