Flüsternde Stimmen

Ihr Roman Haus aus Stein erschien im türkischen Original im Jahr 2009. Aslı Erdoğan schreibt darin über Folter und Gefangenschaft und ringt mit menschlichen Abgründen. Das Haus aus Stein, sagt Erdoğan, ist ein Symbol – es könne alles sein, ein System, ein Gefängnis – ein Ort, aus dem man nicht ausbrechen kann, ein Trauma, das gefangen hält.

In gewisser Hinsicht ist Haus aus Stein ein prophetisches Buch: Sieben Jahre nach der Erstveröffentlichung wurde die türkische Schriftstellerin inhaftiert. Sie war 136 Tage im Gefängnis – zunächst wusste sie gar nicht weshalb. Sie wurde in Isolationshaft festgehalten und erhielt zwei Tage lang kein Wasser. Nach europäischen Standards gilt das als Folter, erklärt Erdoğan. Dann kamen die Anschuldigungen: Nacg Artikel 305 im Türkischen Gesetz würde sie «gegen fundamentale nationale Interessen» handeln. Ein vager Artikel, durch dessen Berufung die Autorin jedoch beinahe zu einer lebenslänglichen Haftstrafe verurteilt wurde. Als literarische Referentin einer kurdischen Zeitung rechnete Erdoğan zwar jederzeit mit einer Verhaftung – die Anklage beruhend auf Artikel 305 hätte sie jedoch nie erwartet. Sie sei die erste türkische Schriftstellerin, die danach verurteilt wurde. Weshalb gerade sie? Sie sei doch nur ein Flüstern.

Aslı Erdoğan lässt an diesem Abend einen ganz anderen Tonfall anklingen als Adi Blum aus dem Vorstand des Deutschschweizer PEN Zentrums, der durch den Abend führt. Blum kommt immer wieder auf hochpolitische Themen zurück, fragt nach konkreten Schritten, die Kulturschaffende und die PEN verfolgen können, um in der Türkei etwas zu bewirken. Kopfschüttelnd verneint die Autorin Blums Frage nach Handlungsfähigkeit. Ihre Worte zeugen von Hilflosigkeit, aber auch von Dringlichkeit:

They don’t learn. I’ve been trying to talk about conscience. I wanted to help to develop a bit of conscience – I am about to give up. Is it so difficult to tell those people that human life has some value? What can we do? What can we tell them?

Die Irrationalität des faschistischen Systems sei zu gross – und ziehe immer grössere Kreise. Zunächst falle ihm der unabhängige Journalismus zum Opfer, danach folgten Akademiker*innen und Schriftsteller*innen. Immer mehr Stimmen verstummen und die Behörden sorgen vor, indem sie Student*innen inhaftieren. Man fühlt den Schmerz der Autorin, wenn sie von den politischen Entwicklungen in der Türkei spricht.  

Und dennoch verstummt Erdoğan nicht. Sie sucht weiter nach einer Sprache für das Unaussprechliche. In der Form einer poetischen Prosa will sie keine Fakten aufzählen, sondern eine Poetik entwickeln, die es ihr ermöglicht, über das Grausame zu schreiben, diesen traumatischen Erfahrungen gerecht zu werden. Das Wichtigste aber, sagt Erdoğan abschliessend, ist denjenigen zu gedenken, die jetzt gerade inhaftiert sind. Sie nicht zu vergessen.

Judith Rehmann und Sarah Rageth

Unser Team in Solothurn:
Sarah Rageth

Das Semester geht zu Ende, doch zum Schluss gibt’s noch ein Zückerli. Sarah freut sich auf die Stimmen und Gesichter aus dem nationalen und internationalen Literaturbetrieb. Am Samstag geht es los im Webinar mit der Frage nach der virtuellen Bildentstehung. Doch auch politisch hat das Solothurner Programm viel zu bieten. Und was ist nochmals der Unterschied zwischen Spoken Word und Poetry?

Sarah studiert Kunstgeschichte im globalen Kontext und Deutsche Literatur an der Universität Zürich. Ihre wichtigsten Stationen bilden die Studienzeit in London, Ausflüge in die Kulturförderung und Architekturgeschichte aus der Perspektive der Frau.