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Inneres Kind

Tom Kummer

Was treibt die Revolution in der Agglo? Tom Combos «Inneres Lind» wirft einen traurigen Blick auf die Hinterlassenschaft der Winterthurer Tanzjugend.

Von Stephanie Caminada
8. Dezember 2019

Tonbänder halten uns Sprache, Musik oder Geräusche der Vergangenheit präsent. Freilich sind sie auch selbst Vergangenheit; die Aufnahmen lassen sich kaum noch abspielen, denn die Geräte fehlen uns dazu. So wird das Speichermedium zur ambivalenten Verkörperung von vergessener Erinnerung.

Wenn in Inneres Lind, dem jüngst erschienenen Roman des Winterthurer Autors und Musikers Tom Combo, ein Tonband zum zentralen Motiv avanciert, so lässt dies bereits erahnen, dass diese Ambivalenz die Handlung prägen wird. Den Rahmen bildet die Gegenwart, den Stoff die Vergangenheit. So zielt der Titel «Inneres Lind» auf das gleichnamige Wohnquartier der Stadt Winterthur, das einst als das Viertel mit den besten Wohnverhältnissen galt und auch heute noch von vornehmen Wohnhäusern wohlhabender Bürger dominiert wird. Im Kontrast dazu entspringen die Protagonisten des Romans – Bruno, Miriam, Patrick, Kaspar und Gerda – der alternativen Szene Winterthurs. Ihre Jugend verbrachten sie im «Agglo-Ghetto». Mit dem Erreichen des Erwachsenenalters sind sie in die Stadt gezogen und versuchen nun, im Leben anzukommen.

Bereits die Wahl des Wohnviertels, das Innere Lind, verrät dabei die Unentschlossenheit der Figuren. Sie befinden sich in einem Zwischenraum: Winterthur ist weder Grossstadt, noch Land. «Es ist nicht so reich wie Zürich […], dafür nischig-kreativ, dörflich-nachbarschaftlich», wie es die Winterthurer Stadträtin Barbara Günthard-Maier einst formulierte. Die Protagonisten klammern sich an die Strukturen der Agglomeration. So passen sie nicht so recht ins Bild, wissen nicht, wo sie hingehören.

Zum Autor

Tom Combo, Jahrgang 1965, mit bürgerlichem Namen Thomas Meister, kommt aus Winterthur und ist Autor, Lohnarbeiter, Entertainer, Teilzeitpapa und Musiker. Er veröffentlicht regelmäßig in diversen Zeitschriften und Zeitungen und steuerte diverse Beitrage zu Anthologien bei. Weiter schrieb er Hörtexte für die Reihe «Sounds Subjektiv» auf Schweizer Radio DRS 3, mit seiner Band Rasen veröffentlichte er die CD «Begleitendes Bauen». 1997 erhielt er den Zürcher Journalistenpreis. 2003 erschien die CD «Born to be here». Vor «Inneres Lind» erschienen die Romane «Vielleicht nur Teilzeit...» (2001)  und «Spielraum» (2004).
Foto: © Tom Combo

Ihre Freundschaft scheint aus der Zeit gefallen. Nur eine aus Erinnerungen geschichtete Spule hält sie zusammen, versinnbildlicht durch eine Kassette, die Bruno von den Geräuschen auf seinen Biketouren in der Natur aufgenommen hat. Die Töne werden von Combo auch originell versprachlicht – «Föhre, Birke, dumpf, dumpf, hell» – und er konzipiert damit jeweils Beginn und Ende der persönlichen Gedankengänge der Figuren, die sorgfältig in den ansonsten in distanzierter Erzählperspektive verfassten Text eingeflochten sind. Die Geräusche der Natur formieren sich zu einem Mantra, das die Figuren für sich aufsagen, um jene Normalität und Ruhe zu erfahren, die ihnen im Alltag verwehrt sind.

Diese Menschen zweifeln; getrieben werden sie immer noch durch ihre Adoleszenz. So ist auch der Titel eine Anspielung auf das «innere Kind» der Figuren: Die in ihrem Hirn gespeicherten intensiven Gefühlen, Erinnerungen und Erfahrungen aus der Kindheit bestimmen ihre Handlungen. Gleichzeitig beharren sie auf ihrer Autonomie: Sie testen ihre Grenzen, stürzen sich in Exzesse, um der Realität zu entfliehen.

Mit Inneres Lind hat Tom Combo nicht nur einen stilistisch raffinierten, sondern auch inhaltlich vielschichtigen Roman geschaffen, dessen Ebenen zunehmend ineinander verschwimmen. Wie das ominöse Tonband, so erweist sich auch Combos Text als zeitgeschichtliches Zeugnis. Dass er mit den Winterthurer Szenen und den sozialen wie wirtschaftlichen Entwicklungen der Stadt bestens vertraut ist, lässt sich kaum überlesen. Die jüngere Geschichte Winterthurs wird durchaus in die Handlung miteingeflochten, schränkt die Universalität des Romans aber nicht ein.

So könnte man in der Geschichte auch Kritik an den Winterthurer Spekulanten und Bauunternehmern erkennen, die die Stadt zunehmend aufwerten wollen. Denn: «Gebaut wird konzeptlos», gibt Hugo Leibach zu verstehen. Doch in der Gentrifizierung spiegelt sich auch die Entwicklung der alternativen Szene wider. Verhandelt wird der innere Widerspruch der Resistenz: Verwurzelt sind die Protagonisten in der «Tanzjugendgeneration» gezählt, waren also Teil der nicht zuletzt durch polizeiliche Übergriffe in Erinnerung gebliebenen Winterthurer Tanzdemo 2013, deren politisches Ziel in der Schaffung von Freiräumen und  im Widerstand gegen die Aufwertungsstrategien bestand. In der Rückschau, der Combos Roman die Leserschaft aussetzt, bewahrheiten sich die Tänzer von einst just als jene Gesellschaftsgruppe, die den gentrifizierten Raum typischerweise einnimmt: Singles und Doppelverdiener ohne Kinder, die als Kreative selbst zur Gentrifizierung des Quartiers beitragen. Sie erinnern damit an die «Achtziger- und Neunziger-Fossilen», die «immer noch ausdrücklich links, nur abgeklärter» sind. Combo weist gekonnt auf ein nicht mehr anschlussfähiges politisch-gesellschaftliches Modell hin. Je älter eine Bewegung ist, desto problematischer wird sie, weil sich ihre anfängliche Rebellion nicht weiterentwickelt und die Verantwortung stets auf andere abgeschoben wird.

Schliesslich weist alles in Richtung Resignation. Endet so der Kampf um Selbstbestimmung, der auch in der Realität und von uns geführt wird? Die Tonaufnahmen von Bruno befinden sich auf einem Endlostape und so endet auch der Roman, wo er begonnen hat. Als Trost bleibt der feine Humor der Figuren, aller revolutionären Tragik zum Trotz. Er hält ihre Hoffnung aufrecht, und beweist Tom Combos Feingefühl für tiefschürfende Geschichten. Inneres Lind bleibt ein Buch, das man immer wieder von vorne durchlaufen, ja: durchlaufen lassen möchte.

Tom Combo: Inneres Lind. 240 Seiten. Berlin: Verbrecher Verlag 2019, ca. 32 Franken.

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