KW01

Kraftvolle poetische Irritationen

Tom Kummer

Der Titel ist Programm: «Tropischer Tinnitus» heisst die neue Gedichtsammlung von Flurina Badel.

Von Rico Valär
1. Januar 2020

Ein Tinnitus ist unentrinnbar, wird zum unterschwelligen Orgelpunkt, zum Hintergrundrauschen des Alltags. Er ist im Körper, aber nicht Teil des Körpers. Er sticht, er stört, er irritiert, er lässt aufhorchen. Auch diese Gedichte stecken voller Irritationen, Stiche, Gegensätze: Auf der klanglichen Ebene zum Beispiel in der Aneinanderreihung von «i»s in Titeln wie «tinnitus tropic», «solstizi ipocrit» (Scheinheilige Sonnenwende), «harakiri tactic» (Taktisches Harakiri) oder «nicotin al kiosc» (Nikotin am Kiosk). Auf der metaphorischen Ebene mit akustischen (Uhrenticken, Schreie, Technobässe), visuellen (Blendung, grelle Lichter, Blitzstrahlen) und physischen Irritationen (Stiche, Schnitte, Scherben, Splitter, Vibrationen), die leitmotivisch eingesetzt werden. Auch inhaltlich haben diese Texte Dornen, können weh tun, offenbaren Wunden. Der Titel der Gedichtsammlung verbindet in einem irritierenden Gegensatz die Sonne, Exotik, Fernweh, Fruchtbarkeit evozierenden Tropen mit dem störenden, stechenden, unentrinnbaren Tinnitus.

Zur Autorin

Flurina Badel wurde 1983 in Guarda im Unterengadin geboren. Heute lebt sie in Basel und arbeitet als bildende Künstlerin (insbesondere im Duo Badel Sarbach), Performerin, Filmemacherin und Autorin von Texten auf Rätoromanisch und Deutsch. Als bildende Künstlerin ist sie im Duo mit Jérémie Sarbach Trägerin eines Manor Kunstpreises (2019) und war nominiert für einen Basler Medienkunstpreis (2018). Als Autorin hat sie seit 1999 in verschiedenen Gemeinschaftsveröffentlichungen publiziert.
Foto: © Jérémie Sarbach

Wie Claude Levi-Strauss’ «Tristes Tropiques» sind Flurina Badels Gedichte mit dem unübersetzbar Fremden konfrontiert, nur dass dieses Fremde hier ebendiese «zivilisierte Welt» ist, die Phänomene wie Konsumgesellschaft, Populismus oder Entfremdung in der Gestalt von Individualismus und Bindungshemmung hervorbringt – eine Welt, die uns auch mit aller Fremde konfrontiert, die in uns selber steckt. Ausserdem sind «Tropen» nicht nur ein Breitengrad, sondern – eine für die Lyrik bedeutsame Mehrdeutigkeit – auch rhetorische Figuren, also ein sprachliches Stilmittel, das die Lyrikerin ausgiebig und auf kreative Weise nutzt, zum Beispiel in verschiedenen eigenwilligen Metaphern, die sie für den Schreibprozess findet, hier mit Anklängen an Virgina Woolf und Meret Oppenheim.

mincha fögl alb

stanza

per mai suletta

ser la porta

sot üna piruetta

divr la fanestra

sun leivra davant

costas naiv frais-cha

jede weisse seite

ein zimmer

für mich allein

schliesse die tür

schwinge eine pirouette

öffne das fenster

bin hase

am frisch beschneiten hang

nicotin al kiosc

tir

mia dosa cofeïn

am büt illa lavur

adascus palaint

meis cheu vers her

sguersch sün ta sumbriva

per verer scha teis man

tscherchess meis

eu sun l’aua chi chatta

müs-chel

suna chi s’implischa

cun ögls cregns

füma dad ot

nikotin am kiosk

ziehe

meine dosis koffein

stürz mich in die arbeit

heimlich geistert mein kopf

nach gestern

schielte ich auf deinen schatten

ob deine hand die meine sucht

ich bin wasser

und finde mo0s

bin ich das saugt

mit nassen augen

rauche ich laut

Was in diesen rätoromanischen Gedichten sprachlich passiert, lässt aufhorchen: Die poetische Sprache sucht und findet neue Wege, sie wiederspiegelt die Sprache der jungen Generation, ist bewusst mehrsprachig, integriert neuartige Ausdrücke, Entlehnungen aus anderen Idiomen, aus dem Deutschen und Englischen, schafft Neuschöpfungen – aber nicht zum Selbstzweck, sondern immer im Dienst der sprachlichen Ausdruckskraft oder der programmatischen Irritation. Gleichzeitig zeugt diese poetische Sprache von einem feinen Gehör und Gespür für fast vergessene, im Alltag nicht mehr gebräuchliche Ausdrücke, Archaismen, die hier in ganz neuen Zusammenhängen erscheinen und unerhört modern klingen. Die Gedichte zeugen von einer eigenständigen und eigensinnigen lyrischen Stimme, von einer aufwändigen und selbstkritischen sprachlichen Arbeit und von einem kreativen und feinfühligen bildlichen Ausdruck. Sie entfalten einen Sog und eine Spannung: Leserinnen und Leser erleben einen höllischen Road Trip (immer wieder kommt ein Auto vor) durch die Widrigkeiten und Widersprüche des Schreibens, des Selbst, des Miteinanders und des menschlichen Verhaltens gegenüber der Natur.

not argientina

sclerischa zizagna

lung ils autos parcats

avant man in man

vaina uossa dozà las vuschs

co salvar il muond

ans zaclignain in imbarraz

inaquella ün guis

sguizcha speravia

il meglder ecoactivist ever

riast

ed üna nüvletta

zoppa la glüna farcla

metallische nacht

erhellt unser unkraut

entlang parkierter autos

eben noch hand in hand

zanken wir uns jetzt in ratlosigkeit

wie die welt retten

da huscht ein marder vorüber

bester ökoaktivist ever

lachst du

und eine wolke

verdeckt den sichelmond

In diesem mit Sorgsamkeit herausgegebenen und sinnfällig in dunkelgrüner Farbe gedruckten Gedichtband entdecken wir eine reif überlegte und sorgfältig gearbeitete Lyrik, die leichten Fusses und in einem faszinierend schillernden sprachlichen Kleid daherkommt. Die Autorin setzt mit ihrem ersten Gedichtband ein starkes Zeichen in die rätoromanische und schweizerische Literaturlandschaft.

plasticarias schmaridas

daspö il restostrada

meis man our da fanestra

scrima cul vent

uras sabladas in flettas

sül strich da catram

frenadas qua e

là cadavers

briclan davant ils ögls

guarda il mar

che vista infernala

lung bos-chom ornà pastel

ausgebleichter plastikmüll

seit der raststätte

meine hand aus dem fenster

ficht mit dem wind

stunden in streifen gesäbelt

bremsspuren auf teer

ab und an kadaver

flimmern im blick

schau das meer

welch abgefahrene sicht

gesäumt von

pastell behängtem gestrüpp

Flurina Badel: tinnitus tropic, poesias. (Nachdichtungen von Flurina Badel, Simone Lappert und Rico Valär.) 125 Seiten. Zürich: editionmevinapuorger 2019. 125 Seiten. 29 Franken.

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