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Die Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die es nie gab

Nostalgie ist das Hauptthema in Hansjörg Schertenleibs neustem Roman «Schule der Winde». Er folgt der Geschichte eines Mannes mittleren Alters, der in Irland einen Neuanfang sucht und dabei seiner Vergangenheit begegnet.

Von Anna Staub

Ein Mann zieht im Jahr 1996 in ein ehemaliges Schulhaus in Irland. In einem fremden Land mit einer Sprache, die nicht seinem Schulenglisch entspricht, zieht er sich in eine Gesellschaft zurück, die ihn in ihrer mürrischen Art willkommen heisst. Der allgegenwärtige Wind und das ehemalige Schulhaus beeinflussen sein Schreiben und Sein, ob er will oder nicht.

Zum Autor

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, lebt in Suhr (AG) und Spruce Head Island (Maine, USA). Ausbildung zum Schriftsetzter und Typographen, anschliessend Besuch der Kunstgewerbschule (ZH). Seit 1981 ist Schertenleib als freier Schriftsteller tätig und veröffentlicht Prosa, Lyrik, Hörspiele und Theaterstücke. Als Journalist schrieb er für renommierte Zeitungen und Zeitschriften wie Die Zeit, Stern, NZZ. Ausserdem war Schertenleib Gastprofessor in Boston und Oxford und Dozent am Literaturinstitut in Biel. Sein literarisches Schaffen wurde mehrfach prämiert, u.a. mit dem Kranichsteiner Literaturpreis und dem ndl-Literaturpreis.
Foto: © Milena Schlösser

Mit Schule der Winde hat Hansjörg Schertenleib einen Sehnsuchtsroman nach einer Vergangenheit, die es nie gab, geschaffen. Der Protagonist, gebürtiger Schweizer, zieht nach einem Erfolg in der Heimat mit dem dadurch gewonnenen Geld in eine Fremde, die ihn an seine Kindheit erinnert. Mit eindrucksvollen Worten beschreibt Schertenleib die irische Landschaft, den brausenden Wind und die Marotten der Einheimischen. Statt einer abgeschlossenen Handlung präsentiert er eine Person, die sich nach einer Vergangenheit sehnt, die sie nur erahnen und ausschmücken kann, die zwar ein Ziel hat, dieses aber nie nennt. Die tatsächliche Vergangenheit scheint verweht und verstreut, die Zukunft hingegen in Stein gemeisselt, wenn beispielsweise geschrieben wird, wann der Nachbar mit den Hunden stirbt. In und trotz ihrer Fiktion ist die Vergangenheit allerdings allgegenwärtig, obwohl der im Präsens gehaltene Roman klarstellt, dass es nur die Gegenwart und ihre Auswirkungen gibt – die Vergangenheit des Landes, des Hauses, der Person kann nur erahnt werden.

In dieser Sehnsucht gehen echte Konflikte verloren. Der – nicht nur religionsbasierte – Konflikt in Nordirland, die Troubles, wird eher durch seine mehrheitliche Abwesenheit präsent. Der Höhepunkt der Nichtbehandlung dieses Konflikts steht in der vom Protagonisten niedergeschriebenen fiktiven Geschichte eines fiktiven ehemaligen Kindes, das mal im Haus des Protagonisten zur Schule ging. Die religiösen Unterschiede zwischen den (meist irischen) Katholiken und den (meist nordirischen) Protestanten und die daraus hergeleiteten Ungleichheiten und Diskriminierungen beider durch beide sind lediglich anekdotenhaft erzählt und in diesem Kontext scheint es irrelevant, wenn der Protagonist sich wiederholt fragt, woran immer erkannt wird, dass er ein ehemaliger Katholik sei.

Neben der Sehnsucht ist der Wind allgegenwärtig und hat sich in die Struktur des Romans eingeschlichen. Statt in Kapiteln geordnet, wird der Inhalt der Leser:innenschaft in Abschnitten präsentiert, die wechselhaft erscheinen und durch fiktive Vergangenheiten und Gesprächsfetzen unterbrochen werden. Wechselhaft bläst der Roman manchmal in die Gegenwart, in fiktive Vergangenheiten oder durch den Protagonisten geschriebene dystopische Zukunftsszenarien. Man bekommt nie ein ganzes Gespräch mit, sondern nur Teile, die vom Erzähler festgehalten wurden, um sein Schulenglisch um die abwechslungsreichen Dialekte und Akzente zu erweitern. Die Allgegenwart des Windes verleiht dem Roman jedoch eine zusätzliche Ebene und man gewöhnt sich während des Lesens daran. Sein Stellenwert verleiht der Sehnsucht eine Beständigkeit und Präsenz, die ansonsten fehlen könnte. Der Wind umfasst den Roman und schliesst ihn ein, ohne die Handlung abzuschliessen. Die Sehnsucht der Erzählung lässt sich, wie der Protagonist, vom Wind treiben und lässt die Lesenden ebenso dem Wind überlassen zurück.

Hansjörg Schertenleib: Schule der Winde. 208 Seiten. Zürich: Kampa Verlag 2023, ca. 30 Franken.

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