Füdleblutte Texte

„I luege so chle zue u i hocke so chle da“, aber zum Glück legt sich mir keine Hand aufs Knie. Im grossen Saal des Stadttheaters warte ich gespannt auf die szenische Lesung aber dir würdigs gä. Kuno Lauener, Frontsänger von Züri West und langjähriger Songwriter, ist wohl gleichsam gespannt. Seine Songs werden heute Nachmittag nämlich zu Worten – ohne Musik, quasi „füdleblutt“.

Auf der Bühne: Ein Tisch, ein Stuhl, zwei Teetassen, hinter grossen Büchern versteckte Elektronikgeräte und Doro Müggler. Die Schauspielerin ist es, die Laueners Texten heute Gehör verschafft. Hinter ihr eine Leinwand, an die Alltagsbilder projeziert werden. Bilder von zerknautschten Doppelbetten, von Teddybären auf Plastikautos, von Sonnenstrahlen, die ihr Muster auf den Zimmerboden zeichnen. Es sind Bilder, wie sie sich wohl auf mancher Familienkamera finden lassen.

Auch Laueners Songtexte stammen meist mitten aus dem Leben. Von der „Schiissluune“, die meist am Sonntag an die Türe klopft, von Dingen, die man sagen soll „solang dis Tram no faart“ oder vom Glück, das einen „irgendeinisch“ findet.

Obwohl man die Texte von Kuno Lauener wohl schon viele Male hörte, sind sie heute anders. Nicht nur weil da, wo wir sonst eine kratzige Männerstimme gewöhnt sind, eine Frau spricht. Sondern auch weil die Worte ohne Musik plötzlich viel gewichtiger erscheinen. Literatur mit Musik zu unterstreichen, das liegt momentan im Trend. Die Songs von Züri West, so schön sie auch sind, hätten die Musik nicht mal nötig.

 

Der allerletzte letzte Schnee

Arno Camenisch spricht hier im deutlich heruntergekühlten Solothurn am letzten Tag vom letzten Schnee  – wie passend. Die Stadt scheint noch etwas in Katerstimmung zu sein, es ist ruhiger als in den vergangenen zwei Tagen vor dem Landhaus. Der Landhaussaal hingegen ist gut gefüllt. Arno Camenisch ist ein Name, der die Leute anzieht.

Valeria Heintges, die Moderatorin der heutigen Lesung, bedankt sich erst bei Camenischs Bruder, der ihn davon abhielt seinem eigentlichen Berufswunsch, Koch, nachzugehen. Sie erzählt von seinen bisherigen Werken, von seinem Weg, um schliesslich seine Lesung (oder wie sie es nennt: Performance) anzukündigen. Wie sich sein Buch nur schwer in eine Gattung pressen lässt, lässt sich auch sein Auftritt scheinbar nicht unter dem Begriff Lesung einordnen.

Und Camenisch beginnt. In seinem kratzigen Bündnerdialekt führt er uns in die Szenerie von Der letzte Schnee ein. Paul und Georg, die beiden Protagonisten, stehen vor dem Skilift in den Bergen und unterhalten sich. Sie unterhalten sich über dies und das. Über die Skifahrenden, die doch jetzt bald einmal kommen sollten, über Stimmenzähler mit Diskalkulie, die „höhere Mathematica“ betreiben, über Sinalco-Sonnenschirme und Lehrer, die vom Pult aus auf Vögel schiessen oder den Schülern die besten Noten gaben, deren Schulhefte von der Treppe aus am weitesten flogen.

Camenisch liest meist frei mit grossen Gesten. Zu Beginn etwas hektisch, läuft er sich langsam warm, lässt sich mehr Zeit und beginnt mit dem Text zu spielen. Seine Lockerheit tut dem Text gut. Die banalen Alltagsszenen gewinnen an Witz, Paul und Georg werden zu charmanten Bergkäuzen. Das Publikum dankt es dem Autor mit Gelächter an den richtigen Stellen und kräftigem Applaus. Die Sympathien im Saal hat er auf seiner Seite.

Camenischs Buch erzählt nicht viel oder wie es ein Besucher nach der Lesung auf den Punkt bringt: „Da kannst du das ganze Buch lesen, aber viel passiert da nicht.“ Aber es erzählt Wichtiges. Die Probleme des Bündnerlands, so einzigartig es auch sein mag, seien eben die Probleme der ganzen Welt. Der letzte Sch**** war das definitiv nicht.

 

 

Dreisprachiger Ausflug nach Tel Aviv

Drei Leute sitzen bei der Lesung von Assaf Gavrons Roman Achtzehn Hiebe auf der Bühne. Und drei Sprachen klingen den Zuschauern dabei in den Ohren: Englisch, Deutsch und ein klein wenig Hebräisch. Auf Englisch wird das Gespräch mit Gavron geführt, Deutsch liest der Schauspieler Günter Baumann aus dem Roman vor, und mit Hebräisch entführt uns der Autor selbst nach Tel Aviv, den Schauplatz des vorgestellten Buches.

Assaf Gavron ist ein Mann mit vielen Talenten. Er ist Journalist, Videogame-Designer, schreibt Kolumnen als Falafel-Tester, arbeitet als Übersetzer und spielt in einer Band. Ganz nebenbei veröffentlicht er preisgekrönte Bestseller. Für diese Vorschusslorbeeren bedankt sich der Autor mit einem schelmischen Lächeln und meint, dass dies wohl das erste Mal sei, dass er zu 100% richtig vorgestellt wurde. Er liest daraufhin die letzte Seite seines Buches auf Hebräisch vor. Ein fremder, angenehmer Klang, den man ohne Angst vor Spoilern geniessen kann.

Auch Günter Baumanns Lesung kann man entspannt geniessen. Der Schauspieler füllt mit seinem kräftigen Bariton den ganzen Landhaussaal. Leider liest er nur aus dem ersten Kapitel „Taxi zum Friedhof“, in dem die Hauptfiguren eingeführt werden – man hätte ihm noch lange zuhören können.

Eine dieser Hauptfiguren ist Eitan Einoch, Taxifahrer in Tel Aviv. Er liebt es, seinen Gästen Geschichten von den Strassen zu erzählen, in denen sie zu ihm ins Auto steigen. Dabei fällt es ihm leicht, sie einzuschätzen. Er erkennt an ihren Stimmen, wann sie ungefähr geboren wurden, woher sie stammen, ob sie den Holocaust erlebt haben oder nicht. Auch seinen nächsten Fahrgast, eine alte Dame, ordnet er nach seinem Radar ein: eine typische Jeckin. Lotta Perl, so ihr Name, überrascht Eitan jedoch. Sie ist lockerer als erwartet, jünger als geschätzt und gibt unerwarteter Weise reichlich Trinkgeld. Fortan wird er sie täglich zum Friedhof fahren, bis sie eines Tages nicht mehr in sein Taxi steigt und Eitan zum Detektiv wird.

Ein typischer Detektiv-Roman ist Achtzehn Hiebe aber nicht. Eitan als Detektiv ist einer, der Fehler macht, der die Leser fehlinformiert, insgesamt ein unzuverlässiger Erzähler, der den Erkenntnissen, die man als Leser meist schon gemacht hat, zehn Seiten hinterherhinkt. Gavrons Wunsch war es ursprünglich, eine ganz neue Art von Detektiv-Geschichte zu schreiben, wo der Leser die Lösung kennt, der Detektiv hingegen zum Ende die falschen Schlüsse zieht. Das war ihm dann aber doch zu schwer umsetzbar. Die jetzige Form scheint ein Kompromiss zu sein.

Der Taxifahrer Eitan Einoch taucht nicht zum ersten Mal in einem Buch von Assaf Gavron auf. Deshalb auch die Frage, was zuerst da war: das Anliegen, das historische Thema der Mandatszeit aufzugreifen, oder der Wunsch eine Figur wiederzubeleben? Gavron meint, anfangs wollte er vor allem einen Text schreiben, der Briten und die Israelis verbindet. Seine Eltern emigrierten nach Israel, er hat aber Familie in England, studierte und lebte dort. Diese zwei Seiten haben nach Ausdruck gesucht. Gefunden hat Gavron sie im historischen Aufeinandertreffen von Briten und Israelis während der Völkermandatszeit. Er wollte zurückblicken auf diese Zeit mit Zeitzeugen, die es wohl nicht mehr lange geben wird. Doch da war diese Figur des Einoch, dessen Geschichte damals eher schlecht ausging. Was macht er heute, zehn Jahre später?

Dem Palästina-Konflikt kommt dabei eine bewusst untergeordnete Rolle zu. Gavron wollte nach eigener Aussage gerne etwas Leichteres, Spassigeres schreiben. Etwas, das sich unterscheidet von Romanen wie Auf fremdem Land, wo er sich diesem Thema zwar mit gewohnt leichtem Schreibstil aber auf eher ernste Weise nähert. Die ganzen Konflikte um Israel seien traurig, tragisch, schrecklich. Gleichzeitig seien sie aber eine literarische Goldmine, die für reichlich Stoff sorge. Dass er auch ausserhalb dieses Konfliktes fantastisch schreiben kann, hat Gavron mit seinem Roman Achtzehn Hiebe bewiesen.

 

Auf einen Kaffee mit Adam Schwarz

Bei seiner Kurzlesung am Freitag war Adam Schwarz noch etwas beeinflusst vom Rotwein, der beim Eröffnungsapéro ausgeschenkt wurde. Heute ist es vor allem der Mangel an Koffein, der ihm noch etwas zu schaffen macht. Trotzdem entspinnt sich ein interessantes Gespräch rund um seinen Roman Das Fleisch der Welt, seinen Eindruck von den Solothurner Literaturtagen und warum er lieber ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer wäre.

Adam Schwarz, erstmal vielen Dank, dass Du dem Buchjahr erneut Red und Antwort stehst. Was war denn dein Highlight an den Solothurner Literaturtagen bis jetzt?

Ich hatte ehrlich gesagt noch fast keine Zeit für den Besuch von Lesungen. Ich hab unterschätzt, wie viel Zeit meine Auftritte und spontane Gespräche fressen. Zwei Lesungen hab ich aber besucht. Einmal die von John Banville, dem irischen Autor, den ich nicht gekannt habe, aber toll fand. Und zweitens die Lesung von Gion Mathias Cavelty, bei der ich bereits wusste, was mich erwartet und gut unterhalten wurde. Die paar Sachen, die ich mir vorgenommen habe, hab ich nicht geschafft. Ich hab selber noch ein paar Auftritte und gleich treffe ich mich mit der Moderatorin der Lesung von morgen.

Wie bereitest Du dich denn auf Lesungen vor?

Mit der Moderatorin von morgen hatte ich im Voraus E-Mail-Kontakt. Sie war auch schon an einer meiner Lesungen und wir werden sicher kurz besprechen, welche Aspekte sie gerne aufgreifen möchte. Das ist schon angenehmer so, dann wird man nicht ins kalte Wasser geworfen. Das war auch bei meiner bisher krassesten, weil grössten Lesung in der Schweizer Botschaft in Berlin so. Da hat mir der Moderator im Voraus seine Fragen unterbreitet. Ich bewundere die Autoren, die das alles schon länger machen und auf der Bühne total souverän wirken. Bei der Kurzlesung gestern fand ich es allerdings ganz angenehm, da begegnet man den Leuten fast auf Augenhöhe.

Ist das nicht schwieriger?

Ich weiss nicht warum, aber ich mag das sehr. Formate wie Sofalesungen zum Beispiel. Da hat man das Gefühl man sei ein Geschichtenerzähler am Lagerfeuer. Ich bin schliesslich kein Grossautor, sondern einfach einer, der ein Buch geschrieben hat.

Dann macht dich der ganze Trubel in Solothurn noch etwas nervös? Du bist also noch kein alter Hase?

Nein, ich glaub das dauert noch eine Weile. Ich finde es aber wichtig, mit den Leuten, die meine Bücher lesen, in Kontakt zu treten. Man schreibt schliesslich nicht nur in seinem stillen Kämmerlein. Das hat auch seine schönen Seiten. Wenn Leute mir berichten, was sie beim Lesen gedacht, gespürt, gefühlt haben, wenn mein Text anders zu meinen Lesern spricht als zu mir – das ist toll und spannend. Ich entdecke dann selber Dinge, die ich im Roman bisher nicht gesehen habe. Ich hoffe auch, dass noch mehr Gespräche und Reaktionen zu meinem Roman kommen, der mir selber fast schon etwas fremd geworden ist. Schliesslich ist es doch einige Zeit her, seit er erschienen ist und dazwischen ist viel passiert. Ich bin gespannt, wie ich in fünf, in zehn Jahren über meinen Roman urteilen werde. Ich fürchte, dass ich mir denken werde „Was hast du denn da für einen Mist geschrieben?“ Aber das muss wohl so sein.

Du hast erwähnt, dass Du an etwas Neuem arbeitest. Wie schwierig oder einfach ist das?

Es ist auf jeden Fall total anders jetzt. Es ist viel schwieriger, die imaginierte Öffentlichkeit auszuklammern. Ich will nicht schon beim ersten Entwurf denken „Ah ja, das schreib ich, das verkauft sich“ – eigentlich sollte man das nie denken. Für mich ist es wichtig, mich fürs Schreiben zurückzuziehen, mich vom Alltag abzugrenzen, vor allem da ich in Leipzig Philosophie studiere und nicht jederzeit schreiben kann. Das ist aber auch gut so. Ich mag es, Texte liegen zu lassen, damit sie gären. Meist konzentriert sich mein Schreiben deshalb auf die Semesterferien. Zum Beispiel war ich im März in Split, einem Ort an dem ich niemanden kenne und für mich bin – das hilft eine Routine zu entwickeln. So komme ich dem Gefühl am nächsten, das ich schon als kleines Kind hatte, wenn ich Legoklötze aufeinander stapelte und dazu Geschichten erfand.

Als Du die Idee für deine Geschichte hattest, schwebte dir da schon zu Beginn ein Roman vor?

Ja, aber ich habs für mich im Geheimen gemacht. Zwei oder drei Jahre hab ich niemandem davon erzählt. Erst in der Schreibwerkstatt des Aargauer Literaturhauses hab ich mal einen Ausschnitt zur Diskussion gestellt und gemerkt, dass das ankommt und Potential hat.

Die Idee für Das Fleisch der Welt kam dir auf einer Spanien-Rundreise und einer Flüeli-Ranft-Wanderung. Danach hast Du dich intensiv mit Niklaus von Flüe beschäftigt. Bist Du von Natur aus neugierig und gehört das zum Autorensein dazu?

Es gibt bestimmt verschiedene Arten von Neugier. Bei mir ist es eher eine „nerdige“.  Ich interessiere mich für Vieles ein bisschen und sammle aus allen möglichen Gebieten. Ich kombiniere gerne abseitige Dinge und erfreue mich an sinnlosem Wissen und Anekdoten, die ich in meine Texte einbringen kann. Das hab ich in diesem Roman gemacht und werde es im nächsten Buch bestimmt genauso tun. Zum Beispiel der Ulrich, der meist nur Flüe-Experten bekannt ist. Der ist einfach so absurd, wie er Niklaus von Flüe nachzuahmen versucht und kläglich scheitert.

Apropos Ulrich: Philipp Theisohn meinte im letzten Interview, die Figur des Ulrich mache ihn aggressiv. Ich fand ihn hingegen eher witzig. War dieser Humor beabsichtigt?

Ich fand ihn auch eher witzig. Vor allem machte es grosse Freude, über ihn zu schreiben. Dieser nervige Mitläufer, der sich trotz allem sehr wichtig nimmt. Ich kann aber auch verstehen, wenn man wütend wird. Im echten Leben würde mich ein solcher Typ auch wütend machen.

Das Bild der damaligen Zeit ist ansonsten sehr düster. Ist das dein Eindruck vom Mittelalter?

Hm, schwierig. Es gibt natürlich dieses Mittelalterklischee, dass es finster war,  düster und schlecht. Das wird dieser Zeit aber nicht gerecht. Letzten Endes war es einfach erforderlich für die Geschichte. Es hat sich so ergeben, weil ich diesem Ideal von Flüe, der versucht in eine geistige Sphäre zu gelangen, etwas Erdiges entgegenstellen wollte.

Dein Roman ist kein historisch akkurater. Schlägt dein neues Projekt eine ähnliche Richtung ein?

Wenn man nur Das Fleisch der Welt gelesen hat, denkt man vielleicht, das ist mein Hauptinteressensgebiet. Ganz im Gegenteil! Meine bisherigen Texte haben alle in der Gegenwart gespielt oder sogar eher in der Zukunft. Mich hat bei Das Fleisch der Welt nicht interessiert, wie es wirklich damals war. Ich wollte vielmehr das Potenzial dieser Situation herauskitzeln und schauen, was passiert. Es war eine Art Gedankenexperiment, das es meines Wissens bisher nicht gab. Mein neues Buch spielt wieder in der Gegenwart. Was bleiben wird, ist sicher das Absurde und das Zusammenbringen verschiedener Dinge.

Adam Schwarz, danke für das Gespräch!

Flaniermeile – Färöer-Inseln 1:0

Wie unpassend die Szenerie einer Kurzlesung doch sein kann. Die Solothurner Sonne lässt das Publikum vor der Aussenbühne am Landhausquai schwitzen. Verena Stössinger jedoch liest in ihrem Roman Die Gespenstersammlerin von einem kalten Ort. Von Astrid nämlich, die sich für eine Auszeit in den hohen Norden zurückgezogen hat, wo Nebel, Kälte und Dunkelheit die Szenerie bestimmen.

Astrid sammelt Geschichten. Geschichten von Trollen, Meerfrauen und Selbstmördern, die sich in Seehunde verwandeln. Sie will diese Sagen in einem Buch vereinen, deshalb hat sich in einem historischen Haus auf den Färöer-Inseln eingenistet. Auf die Gespenster und ihre Sagen, die im Roman immer wieder auftauchen, wartet man bei Stössingers Lesung jedoch vergeblich. Sie liest den Romananfang, der zwar Einblick gewährt in ihren feinen, unaufdringlichen und atmosphärischen Schreibstil, mit dem es ihr aber nicht gelingt, das Publikum zu fesseln, das zahlreich erschienen ist.

Vielleicht ist die lebendige Altstadtgasse, an der sich Festivalbesucher wie Einheimische tummeln und für einen Geräuschpegel sorgen, bei dem Stössingers leise Stimme fast untergeht, der falsche Ort für einen ersten Eindruck. Die Lesung im Stadttheater am Samstag um 10.00 Uhr wäre womöglich eine bessere Möglichkeit, diese Autorin und ihren gelungenen Roman kennenzulernen …

 

Literatur-Unterhaltung auf zwei Beinen

Beim Schlendern durch die Solothurner Gassen bleiben wir an einem Autor hängen. Wobei Autor untertrieben ist – dieser Marko Miladinovic ist ein wahrer Performer.

Trotz zweisemestrigem Italienischkurs verstehe ich abgesehen von einzelnen Wörtern zwar nur wenig. Das ist aber scheinbar überhaupt nicht nötig. Von Miladinovics Stimme, seiner ganzen One-Man-Show wird man automatisch in den Bann gezogen. Sein sonorer Klang, dazu das musikalisch anmutende Italienisch – das hat eine hypnotisierende Wirkung und verleitet viele Schaulustige zum Verweilen, obwohl sich wohl mancher fragt, was uns dieser Auftritt denn genau sagen soll.

Miladinovic selbst verstummt zum Schluss. Eine computererzeugte Frauenstimme ertönt aus einem unterm Tisch versteckten Radio und lässt uns wissen, dass der Autor nicht mehr sprechen könne, der Fuss eines Pfarrers verstopfe seinen Mund. Tatsächlich: Der Künstler dreht sich zum Publikum, zwischen seinen Zähnen blitzen nur noch die Zehen eines Plastikfusses hervor. In diesem Sinne: Buon appetito!

Nach dem Recyclinghof zu IKEA

Jens Steiner eröffnet den Literaturtage-Freitag mit seiner Lesung aus Mein Leben als Hoffnungsträger. Trotz der frühen Stunde füllt sich der Landhaussaal schnell mit interessierten Zuhörenden. Sie werden mit einem lebendigen, humorvollen Autor belohnt. Steiner ist ein Meister darin, seinem Text Leben einzuhauchen. Vor allem die Vertonung von zwei Figuren, der beiden Portugiesen Arturo und João, sorgt für Erheiterung. Leise Lacher ziehen sich durch beide Vorlese-Passagen. Laut herauszulachen – das traut sich das zurückhaltende Schweizer Publikum zwar nicht. Doch Steiners Humor kommt beim Publikum gut an und sorgt – von den hinteren Reihen aus gesehen – für ein Panorama von sanft ruckelnden Rücken.

Von den lobenden Worten seines Gesprächspartners Lucas Gisi beschwingt, schafft Steiner eine einladende Atmosphäre. Er lässt sich auch durch ein knisterndes Mikrofon und einen an ihm herumfummelnden Techniker nicht beirren. Das Publikum dankt es ihm mit wohlwollender Aufmerksamkeit.

Steiners Protagonist Philipp arbeitet auf einem Recyclinghof. Von ihm ausgehend spricht Gisi mit Steiner über die Konsumgesellschaft, die sich in grotesker Weise im Recyclinghof widerspiegelt. Steiner schreibt in einem entschleunigenden Stil von der alternativen Lebensweise Philipps, der sich der Leistungsgesellschaft mit Trägheit zu entziehen versucht. Er beschreibt Philipp als „trägen Idealisten“, der Aktivismus zeigt, indem er sich Zeit lässt. Gesellschaftskritik wird mit Gesellschaftssatire verwoben, Konflikte werden mit hintergründigem Humor einfach stehengelassen.

Zur Ursprungsidee seines Romans befragt, gesteht Steiner, dass er darauf jeweils nur unbefriedigende Antworten finden kann. Es ist wie mit alten Freunden: um eine bestimmte Ebene der Vertrautheit zu erreichen, muss man vergessen, wann man sie kennengelernt hat. Ebenso müssen sich die Ursprünge seiner Ideen verwischen, damit er sich intensiv mit ihnen auseinandersetzen kann. Zum Beispiel, indem er ein Praktikum auf einem echten Recyclinghof absolviert. Dort beobachtete er die Fortsetzung der Konsumwelt. Man muss schliesslich zuerst „Platz schaffen, bevor man eine Woche später wieder zu IKEA fährt“, so Steiner.

Olivia Meier, Foto: Selina Widmer

Unser Team in Solothurn: Olivia Meier

Olivia Meier studiert Germanistik, Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Zürich. Sie will in Solothurn so richtig in den Literaturbetrieb eintauchen und hat sich dafür ein dichtgedrängtes Programm vorgenommen.

Neben bereits bekannten Namen wie Abonji, Stamm, Hohler und Camenisch freut sie sich auf persönliche Neuentdeckungen namens Stössinger, Inokai, Keller und Schwarz. Und wer weiss, vielleicht lässt sich auf der offenen Bühne jemand Neues entdecken? Mal schauen, wie viele von den geplanten Auftritten sie schafft und wie viel Energie fürs «literarische Flanieren» noch übrigbleibt.

Auf jeden Fall ist sie gespannt, wie sich die Schreibenden geben und  reden – sowohl auf als auch neben den Bühnen.