Der Autor ist unsichtbar

«Polonaise» nennt sich die Tanzpraxis, der man sich bedient, um uns in einen völlig verdunkelten Raum zu führen. Das Personal der Blinden Kuh geleitet zu unsichtbaren Tischen, serviert einen kleinen Apéro und steht mit Rat und Tat zur Seite, um sich in diesem verfremdeten epistemischen Zustand zurecht zu finden. Der Raum klingt nicht sehr gross, das Publikum riecht gespannt und das Porzellan in den Händen fühlt sich glatt und weiss an. Man wartet auf Michael Fehr, der hier in der Finsternis bald einige seiner Geschichten aus dem kürzlich erschienenen Band Glanz und Schatten lesen wird – so behauptet man zumindest. Ob der Autor wirklich da ist, bleibt im Dunkeln.

Wie kaum ein anderer erkämpft sich der Berner Autor mit seiner eindringlichen Stimme Präsenz in seinen Texten. Man kennt ihn als den Künstler, der in persona für sein Wort einsteht, umso irritierender ist es, wenn dieser Performer bei seinem Auftritt unsichtbar bleibt. Allerdings macht er das auch nicht zum ersten Mal.

Michael Fehr beim Auftritt (für höhere Auflösung, Augen schliessen)

Eigentlich arbeite er oft mit Gesten und Mimik, wird er uns später in einem kurzen Gespräch erklären, Ausdrucksmöglichkeiten, die im Dunkeln entfallen, alles bliebe an der Stimme zu sagen. Seine letzte Geschichte beendet er sogar mit dem Hinweis, dass er die Arme zu einer beglückwünschenden Geste ausgebreitet habe – natürlich nicht ohne ein unübersehbares ironisches Augenzwinkern.

Wieder einmal beweist ein «Spoken-word»-Künstler, wie unscheinbar und ausdruckslos Wortwiederholungen sind, wenn sie tot auf dem Papier liegen bleiben. Es pulsiert, es lebt. Es ist eine Interaktion mit dem Hörer. Wer Michael Fehrs Texte kennt, dem fällt auf, dass sich der Autor nicht immer ganz an sein Gedrucktes hält. Er ertastet, was in welchem Publikum funktioniert. Da wird eine Phrase wiederholt, die der Text alleine stehen lässt und auch die Mücken in «Im Schwarm» haben heute öfters zugestochen als auch schon.

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann