«Hour of Power» für Dorothy Parker mit Nora Gomringer

«Das Herz ist das Organ, um das es geht bei Dorothy Parker» – so startet Nora Gomringer in den Samstagmorgen. Und ist mit viel Herzblut dabei. Das Setting könnte kaum stimmiger sein, im geschichtsträchtigen Café Odeon am Zürcher Bellevue haucht sie der Lyrik Parkers neues Leben ein. Das Odeon präsentiert sich dabei als eine Art Zürcher Pendant zum Algonquin Hotel, in dem Parker einst ein und aus ging und in dem  New Yorks reputable Journalisten damals ihren ersten Feierabend-Martini tranken.
Stilecht hat auch Gomringer einen solchen vor sich stehen und ist ganz im Stile Parkers gekleidet. An der berühmten «round table» haben sie gesessen, die happy few der New Yorker Kunstszene, die ab dem Frühsommer 1919 regelmässig dort anzutreffen waren. Zeitlich knüpft diese Periode unmittelbar an die Blüte der Zürcher Dada-Bewegung an, die sich bekanntlich im Odeon zu formieren begann. Ohnehin hat das Haus eine reiche literarische Tradition. Heute nun fanden diese beiden Welten zusammen.
Umständehalber aus Basel angereist, bringt Gomringer den ganzen Charme der 30ties und 40ties – vor allem aber den ganz individuellen Charme Parkers – mit nach Zürich. Ganz ergriffen ist die Bambergerin vom scharfzüngigen Charme und ironischen Schalk dieser grossen Lyrikerin, die sie mit 16 Jahren für sich entdeckt hat. «Die musst du lesen, die erzieht zur Romantik», sagte die Mutter damals zu ihr. Erst allmählich hat Gomringer erkannt, wie dies zu verstehen war. Heute nun nimmt sie ihr Publikum ein für diese «ehrliche Frau mit der Fähigkeit, mit wenigen Worten viel Witz zu verbreiten».
 

Die für ihr eigenes Werk bereits vielfach preisgekrönte Dichterin liest auf Deutsch und Englisch, erzählt charmante Anekdoten und trägt die Gedichte als traurig-schöne Jazz-Melodien vor. «Wenn Sie sehen könnten was ich sehe, so viele schöne Gedichte!», sagt Gomringer augenzwinkernd zum Publikum. Die Gedichte handeln meist von unglücklicher Liebe, doch nicht nur. Parker befand sich stets in Gesellschaft eines Dackels mit dunklem Fell. Der letzte dieser Art, der sie bis zu ihrem Tod begleitete, trug den sprechenden Namen «C’est tout.» Ihm widmete Parker ein paar besonders witzige Zeilen, welche die innige, aber auch ambivalente Beziehung von Tier und Mensch andeuten. Ein weiterer Text gibt den inneren Dialog einer Walzer tanzenden Frau wieder. «I’d love to waltz with you», beteuert diese noch, während sie ihren Tanzpartner gedanklich bereits in Stücke reist. 

Lauscht man den emphatischen Realisierungen dieser geistreichen Texte, so kann man sich durch Gomringers leidenschaftliche und authentische Einverleibung letztlich nicht erwehren, diese feinfühlige und bissige Künstlerin lieben zu lernen. Parkers Texte ermöglichen diese Zuwendung zu weiten Teilen gerade auch durch ihren zuweilen erfrischenden Gehalt an Selbstironie. Man spürt aus ihnen  ein ambivalentes Verhältnis zum anderen Geschlecht heraus. Gerade diesbezüglich erweisen sich Parkers selbstkritische Reflexionen als wohltuend. Sie versöhnen einen sofort mit diesem mehrfach gebrochenen Herzen. So lautet denn die zweite Strophe von Parkers Gedicht  «On being a woman»:

 

And why with you, my love, my lord,
Am I spectacularly bored,
Yet do you up and eave me – then
I scream to have you back again?

Gomringer performt aber nicht nur überzeugend, sondern reflektiert ihrerseits die Texte sowie den eigenen Umgang damit. So empfindet sie Parkers «Frustration», womit sie den Lyrikmorgen beendet, als ein aus heutiger Perspektive schwieriges Gedicht. Künstlerisch trägt sie dem in so weit Rechnung, als sie das Gedicht gesanglich adaptiert, wodurch dieses eine neue Dynamik bekommt. Gomringer selbst stellt sich in ihrem Vortrag ganz in den Dienst der Sache, erscheint gewissermassen als Medium, durch das der Geist Parkers spricht. So schliesst man sich ihr gerne an, wenn sie zum Schluss auffordert: «Lesen sie Dorothy Parker!» und wünscht sich, dass dieses Plädoyer schon bald ein «superfluous advice» werde.

 

Kurz nachgefragt

 

Bereits vor einem Jahr stand der Name Gomringer gross im Programm von «Zürich liest’16». Die Ausstellung «Gomringer & Gomringer», kuratiert von Gesa Schneider und Rémi Jaccard im Zürcher Museum Strauhof, gab einen sehr persönlichen Einblick in die Dichterleben von Vater und Tochter Gomringer. Wir vom Schweizer Buchjahr wollten von ihr wissen, wie es ist, wieder in Zürich zu sein, und ob sie viele Rückmeldungen zur Ausstellung erhalten hat. «Ich bin ja kaum angekommen», erwidert sie schmunzelt. Und wirklich, die Dichterin kam am Abend zuvor in Basel an und hat es nach einer kleinen Zug-Odyssee just auf den Start ihrer Lesung ins Café Odeon geschafft. Aber nach so viel Stress gibt es dennoch Entwarnung: Ja, sie erhalte noch immer positive Feedbacks zur Ausstellung des letzten Jahres und wünscht sich, diese an anderen Orten erneut zeigen zu können. Wir drücken die Daumen. 
Fabian von Hermann unter Mitarbeit von Carla Peca

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann