Die erfundene Minderheit

Wo geht’s denn hier zum Literaturhaus? «Nie gehört. Aber ich finde es schön, dass es so etwas gibt.» Na das finde ich doch auch, und schliesslich auch in die Lesung von Sten Nadolny. Als «nicht nur Autor der Entdeckung der Langsamkeit», stellt Christine Lötscher den stattlichen älteren Herrn vor, der ins ebenfalls stattliche ältere Publikum zwinkert. Nadolny – das sei einer, der in seinem Werk konsequent die Spielarten des Unmöglichen erkunde, und auch in seinem aktuellen Briefroman Das Glück des Zauberers verkleide sich in verspielten Konstruktionen ein Plädoyer für Fantasie. Um missliebigen Interpretationen vorzugreifen, etwa als literarische Antwort auf Harry Potter, setzt der Autor hinzu: Seine Zauberer seien als erfundene Minderheit zu verstehen, deren Perspektive die distanzierte und analytische Erzählung mancher Kerngeschehnisse des 20. Jahrhunderts ermögliche. Bevor er anfängt zu lesen, wünscht er dem Publikum, es möge nicht unter seinem Husten leiden. «Ich leide überhaupt nicht, ich hab ja meinen Text», versichert er so verschnupft wie vergnügt.

Und von was erzählt dieser Text nun? Zauberer Paroc, 106 Jahre alt, schreibt Briefe an seine kleine Enkelin, die ihr magisches Erbe soeben angetreten hat, indem sie mit verlängertem Ärmchen dem Grosspapa die Brille von der Nase wischt. Was die Briefe enthalten, ist eine plauderlustige Melange aus eigenem Lebenslauf als Sohn einer Indianerin und eines Berliner Tanzschulbetreibers, Kommentaren zu politischen Umwälzungen und kulturellen Neuerungen aus Sicht der Zaubergemeinschaft sowie Unterweisung in den magischen Künsten, wozu in weiterem Sinne auch die Liebe gehört. Nützlich werden diese Fähigkeiten etwa beim schriftlichen Griechisch-Abitur, aber auch Gedankenlesen, Fliegen oder Gestaltwechseln kann Paroc, und mit über vierzig Jahren lernt er eine spezielle Art des Zauberns schätzen: «im Nu Geld zu machen».

Verblüffend sind vor allem die fliegenden Wechsel zwischen humoristischem Fabulieren und Passagen, die im Betroffenheitsmodus daherziehen, vorzugsweise wenn Paroc vor der Jahrhundertmitte in die Gesellschaft wutgeladener Männer gerät, die von der «Schmach der Väter», Gleichschaltung und Endsieg faseln. Nur an der Front ist Paroc letztlich sicher vor Spitzeln. «Das habe ich deswegen gemacht, damit alles, was es an Schrecklichem im 20. Jhd. gab, tatsächlich vorkommt.» Und tatsächlich erschöpfen sich die tiefgreifenden Kriegsereignisse auch in ihrer Eigenschaft als Vorkommnis; Nadolnys Schilderung entbehrt der erschütternden Tragikomik eines Hašek – sein Paroc ist kein braver Soldat Schwejk. Vorgetragen wird das alles mit der gemütlich-markanten Stimme eines Käpt’n Blaubärs, die, bedächtig und gleichmütig, auch während Sentenzen wie «Wer aus Liebe schummelt, liebt wirklich» oder «Bleibe frech und nach Möglichkeit amüsiert» auf Tiefsinn pocht.

Paroc als Figur verbandelt fidelen Humor und schmerzlichen Ernst zu einem seltsam kompakten Weltbild, dessen schlichte Parameter die Willkür als zivilisatorische Errungenschaft heiligen – da hat die Vorliebe für Bach spontan universale Bedeutsamkeit, frei nach Pep Guardiola: «Bach oder nix!» Paroc bleibt dabei stets und selbstverständlich auf der Seite des Guten: Im Zweiten Weltkrieg bedroht und verfolgt, kümmert er sich später um ungarische Refugees oder fungiert als Fluchthelfer in der DDR.

Heute abend wird man von jeglicher Anstrengung entbunden. Fragen, die man sich als artige Germanistin verkneift, etwa nach autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers, werden einem von Loetscher flugs abgenommen. Paroc habe viele Dinge nicht verstanden, so Nadolny, und zufälligerweise seien es genau die von ihm selbst nie verstandenen. «Das macht das Buch sicher interessant», folgert er trocken. Zaubern als Parabel auf das Schreiben? Auch in diesem Punkt müssen wir nicht lange mutmassen. Nein, Zauberer als geistig bewegliche Menschen, und somit bekanntlich immer in der Minderheit, sollen Geheimnisse haben dürfen, unbehelligt von Überwachung und staatlicher Überregulierung. Das Gefühl, den grossen Zusammenhängen auf der Spur zu sein, so der Autor, treibe diese intelligenten, kreativen und einfallsreichen Individuen an. Das Schmunzeln der Zuschauer legt nahe, dass sie sich nur allzu gerne als solche verstehen.

«Je suis Zurichoise!» Heute bin ich keine Fremde mehr

Ken Bugul verzog keine Miene, während der Moderator Yves Raeber sie dem Publikum vorstellte. «Die senegalesische Autorin ist 1947 geboren als Mariètou Mbaye. Sie wurde mit dem Preis der Grand Prix littéraire de l’Afrique noire ausgezeichnet, lebte in 30 afrikanischen und ebenso vielen anderen Ländern. Zurzeit ist sie als Writer in Residence in Zürich zu Gast.» Als er ihr übersetzen wollte, was er soeben über ihr Leben erzählt hat, meinte sie nur: «J’ai bien compris». Sie habe schon verstanden, schliesslich kenne sie ihr Leben am besten. Von ihrer Lebensgeschichte handeln auch die meisten ihrer Bücher. Angekündigt war eine Lesung aus Le Baobab Fou, ihrem 1982 erschienenenDebüt, das ihre Kindheit und ihren Aufenthalt in Brüssel thematisiert. «Sie wollen, dass ich lese?», versicherte sie sich beim Moderator. «Wo?» Er zeigte ihr die Stelle und sie begann zu lesen. So ging das Spiel durch den ganzen Abend weiter. Die von Raeber ausgedachte Dramaturgie, die einzelne Textpassagen in eine chronologische Ordnung zu bringen, wurde von Bugul kritisch beäugt, aber befolgt. Und immer, wenn sie eine Stelle zu Ende gelesen hatte, folgte ein: «C’est vrai». «Das war wirklich so». Es wurde deutlich, dass es ihr ums Erzählen ging. Sie wollte sprechen über ihr Leben und die unglaublichen Dinge, die sie erlebt hatte. Das Lesen schien sie darin nur zu bremsen.

«Stellen Sie sich das vor!», verdeutlicht die Autorin. Das sei sehr einsam gewesen, ohne Mutter bei einem halbblinden 85-Jährigen Marabut aufzuwachsen. Ihre grösste Verletzung sei noch immer, dass ihre Mutter sie als fünfjähriges Mädchen verlassen habe. Buguls eigenes Lieblingsbuch ist denn auch De l’autre côté du regard, das von ihrer Beziehung zu ihrer Mutter handelt. «Ma pauvre mère», sagt sie an einer Stelle. Mittlerweile scheint sie doch mit ihr Frieden geschlossen zu haben.

Durch Le Baobab Fou erfahren wir von dem kolonialen Schulsystem Senegals in den 1950er Jahren. Ken Bugul identifizierte sich als Kind mit dem sauber angezogenen weissen Mädchen aus ihrem Schulbuch und war auf der Suche nach ihren Vorfahren, den Galliern. Sie las enorm viel, war fleissig in der Schule und erhielt so ein Stipendium für die Universität in Dakar. Als Teenager trug sie westliche Kleidung, oder zumindest das, was sie sich darunter vorstellte. Sie erhielt ein Stipendium für die Universität in Belgien, und ihr Traum schien in Erfüllung zu gehen. Doch in Brüssel fand sie nicht die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Im Gegenteil. Der Blick der Europäer machte sie zu einer Fremden. Zu einer Exotin.

Heute sei sie Zürcherin und keine Fremde mehr: «Je suis Zurichoise». «Gefällt es Ihnen in Zürich?», fragte Raeber nach. Es sei super, alles sei sehr sympathisch hier. Sie verbringe aber auch nicht nur Zeit in Zürich. So ein Stipendium sperre sie ja nicht ein. Berlin, Paris, Salzburg, Hamburg sind nur einige der Städte, die sie während ihres Aufenthaltes hier schon besucht hat.

«Ich lebte auf der Strasse, als ich meine autobiografische Triologie Le Baobab Fou, Cendres et braises und Riwan ou le Chemin de Sable geschrieben habe». Ken Bugul entfloh der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann und kehrte im Alter von 30 Jahren in den Senegal zurück. Im Gepäck hatte sie keine Geschenke, sondern nur ihr Trauma. Ihre Geschichten wollte niemand hören, schliesslich galt Europa schon damals als «terre promise», ein Ort der Träume. Ihre Familie verstiess sie und die Gesellschaft verschloss sich ihr. Ein Jahr lang lebte sie auf dem Place de l’Indépendance in Dakar. Wie man sich denn das Leben auf der Strasse vorstellen soll, kam die Frage aus dem Publikum. «Das Leben auf der Strasse war super! Ich habe Lust zurückzukehren.» Sie, die später als 28. Frau des Serigne den Status einer Heiligen erhielt, kann heute gelassen auf diese Zeit zurückblicken. Die Zeit der Lesung war längst überschritten, aber das Publikum hing noch immer wie gebannt an ihren Lippen. Buguls Geschichte fasziniert. Obdachlosigkeit ist mit Vorurteilen behaftet, verkörpert Gefahr und gesellschaftlichen Fall. Diese starke Frau hat sich ihren Ängsten gestellt und sich so von ihnen befreit. Sie galt als Verrückte und lebte verstossen von der Gesellschaft. Wir, die durch unser behütetes Schweizer Leben ängstlich geworden sind, können von ihrer Narrenfreiheit nur lernen.

 

 

 

Es bleibt dabei: die Gedanken sind frei!

In stimmungsvoller Atmosphäre, inmitten von anthroposophischen Büchern und roten, mit Namen versehenen Samtstühlen steht Patricia Litten und erzählt von den Gräueltaten der Nationalsozialisten, begangen an ihrem Onkel Hans. Dokumentiert sind diese im Buch ihrer Grossmutter, Eine Mutter kämpft gegen Hitler, aus dem Litten heute vorträgt:

Hans Litten war Rechtsanwalt. Er trat entweder als Verteidiger auf – wenn Kommunisten angeklagt waren; oder als Vertreter der Geschädigten – wenn Nationalsozialisten auf der Anklagebank sassen. Es war unvermeidlich, dass er zu Schaden kommen musste.

Hans war sehr erfolgreich und weithin geachtet wegen seiner forensischen Erfolge und stammte darüber hinaus aus einer angesehenen Familie. Dies rief natürlich auch Neid hervor, der sich bald zu Hass steigern sollte. Litten befragte Hitler selbst als Zeuge im Felseneck-Prozess zu Nazi-Terrorismus. Er wollte aufzeigen, dass die nationalsozialistische Partei Gewalttätigkeiten ihrer Mitglieder dulde, ja gar hervorrufe. Hitler zog sich damals aus der Affaire, aber Litten hatte ihm gehörig zugesetzt, was Hitler ihm nie vergessen sollte. Wohlbemerkt, dies war noch vor der Machtergreifung. Je mehr Macht Hitler erlangte, desto mehr Anwälte flohen. Litten war jedoch überzeugt:

Das Recht ist für die Schwachen, ich gehe keine Konzessionen ein. Millionen von Arbeitern können nicht raus, also muss ich bleiben.

In der Nacht des Reichstagsbrands wurde Hans in Schutzhaft genommen, zuerst im KZ Sonnenburg später in Lichtenburg, Buchenwald und Dachau. Während fünf Jahren war er ohne klare Anklage inhaftiert. Er wurde schwer misshandelt, körperlich und mental gefoltert. Als seine Mutter die Ärzte darauf ansprach, taten sie die Vorwürfe als natürliche Haftpsychose ab: er verletze sich selber um Aufmerksamkeit zu erlangen. Die Mutter rief alle ihre Bekannten dazu auf, sich für Hans Litten bei Hitler zu verwenden. Sie besuchte diesbezüglich unter anderem den Reichswehrminister Herr von Blomberg, den Reichsjustizminister Güntner und den Reichsgerichtspräsidenten Freisler . Doch niemand konnte Hitler erweichen. Durch verschiedene Quellen erfuhr sie, dass durch grausame Misshandlungen Hans systematisch zum Selbstmord getrieben werden sollte.

Hans stand immer wieder in Briefkontakt mit seiner Mutter und durfte sie zwischenzeitlich als Besucherin empfangen. Die Briefe und Unterhaltungen waren natürlich verschlüsselt. Der Code flog mehrmals auf und es war schwierig die neuen Codes einander mitzuteilen. Einmal bat Hans um Gift. Unter Druck bekannte er sich Verbrechen schuldig, die er nie begangen hatte. Als Christ und Mensch  mit grossem Moralverständnis konnte er jedoch  nicht mit der Lüge leben. Er widerrief die Falschaussage und nahm das Gift um den angedrohten Konsequenzen eines Widerrufs zu entrinnen. Er überlebte nur knapp.

Trotz allem Leiden und obwohl er körperlich gebrochen war, blieb sein Interesse an seinen Mitmenschen und der Wissenschaft wach. Seine Kämpfernatur brach immer wieder hervor. Als die Gefangenen vom KZ Lichtenburg aufgefordert wurden ein nationalsozialistisches Fest zu feiern, trug Hans Litten ein Gedicht in Gegenwart der SS vor. Dies ist ein Ausschnitt daraus:

Und sperrt man mich ein
in finstere Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke.
Denn meine Gedanken
zerreissen die Schranken
und Mauern entzwei:
Die Gedanken sind frei!

Am 5. Februar 1938 wurde bekannt, dass Hans Litten sich  in Dachau erhängt hatte. Seine Beerdigung erfolgte ohne Aufsehen, anwesend waren lediglich seine Mutter, eine ihrer Freundinnen und der Organist.

Die Geschichte von Hans wurde verfilmt und als Theater aufgeführt. Seine Nichte spielte im Theaterstück Taken at midnight ihre Grossmutter. Patricia Litten ist auch verantwortlich für die Neuauflage des Buches mit einem neuen Nachwort. Am Ende der Lesung öffnet sie den Blick und verweist auf die Nachfahren von Hans Litten. Es sind dies Rechtsanwälte, die zwar nicht mit ihm verwandt, aber mit ihm im Kampf um das Recht verbunden sind, und nicht wenige teilen auch das Verfolgungsschicksal. Sie heissen, zum Beispiel, Abdolfattah Soltani aus dem Iran, Hüsnü Öndül aus der Türkei oder Zhou Shifeng aus China.

Es gibt keine schlechte Zeit, um Anwalt zu sein. Im Gegenteil, es ist eine grosse Zeit, die grossartige Anwälte gebiert. Anwälte, die Mut, Weisheit und Gewissen brauchen.

Die Geschichte von Hans Litten zeugt wie die Tagebücher von Anne Frank oder das Leben der Geschwister Scholl von erlittenem Unrecht und Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Darüber hinaus zeigt sie auf, dass auch Einfluss und Ansehen den Hass Hitlers nicht aufhalten konnten. Seine Geschichte bewegt die Anwesenden sicht- und hörbar. Dies ist nicht zuletzt auch der Präsentation durch die ausgebildete Schauspielerin Patricia Litten wie auch Birgit Förstner zu verdanken, die die Lesung auf ihrem Cello begleitete.  Es war höchste Zeit, dass das Buch auch nach Zürich kam. Patricia Litten wuchs als Flüchtlingskind in Zürich auf. Ihr Vater Rainer, der Bruder von Hans, floh aus Deutschland und war sowohl als Regisseur als auch als Leiter des Theaters Am Central tätig.

Hans Litten wird zumindest auf dieser Welt kein Recht mehr widerfahren, aber auch heute noch braucht die Welt Rechtsprecher, die die Wahrheit über das eigene Wohlergehen setzen und gegen Unrecht einstehen. Möge das Wirken seiner geistigen Nachfahren erfolgreicher sein als seines.

Spoken Word avant und après la lettre

Franz Hohler hat sich Lara Stoll zum «Dichterduett» im Theater Rigiblick eingeladen. Bereits das Genre, das Zürich liest ’17 diesem Zusammentreffen zugewiesen hat, verweist auf die vielfältige Ausrichtung der beiden Universalkunstschaffenden. Denn beide dichten nicht nur, sondern performen und machen eben auch Musik.
Schon nach weniger als einer Minute blitzt der Altersunterschied zwischen den beiden ein erstes Mal kurz auf: Franz Hohler spricht Stoll mit dem falschen Vornamen «Laura» an und entschuldigt sich sogleich für diesen Fehler. Er sei eben soeben Grossvater geworden. Eines Knaben namens Lauro. Das weckt die schöne Vorstellung, Hohler habe die junge Slammerin bereits kurzerhand geistig adoptiert. Das Gespräch beginnt von Hohlers Seite zunächst tatsächlich etwas grossväterlich. In der ersten Viertelstunde kommt er über einen einfachen Modus des Interviews («Was ist deine früheste Kindheitserinnerung?») nicht hinaus und versucht, fehlende Anschlüsse jeweils mit einem leicht verlegenen «guet, guet» zu überbrücken. Zum Glück reagiert Stoll prompt und stellt nach der Frage zu ihrem soeben abgebrochenen Philosophiestudium einen Vergleich her mit Hohler, der sein Germanistik- und Romanistikstudium vor Jahrzehnten ebenfalls (unter dem Vorwand, ein Jahr Pause machen zu wollen) für unbestimmte Zeit auf Eis gelegt hat. 
Jetzt kann auch Hohler frei reagieren, und das Gespräch nimmt schnell Fahrt auf. Es spielt sich, immer wieder durchzogen von Einzelvorträgen der beiden, auf zwei Ebenen ab. Auf der einen Seite diskutieren die beiden persönliche Erlebnisse und Hintergründe ihres Schaffens. Wir erfahren zum Beispiel, dass Hohler trotz seines deutlich höheren Alters wöchentlich immer noch bereit ist, zwei bis drei Auftritte zu geben, während Stoll lieber nur noch einen pro Woche plant. Sie sei faul geworden: «Ich dusche auch nicht. Ich bade, damit ich nicht stehen muss.» Stoll stellt fest, Hohler habe ja eigentlich «Muttertexte der Slampoetry» geschrieben, worauf er schmunzelnd konstatiert, er habe eigentlich  schon immer «Spoken Word» gemacht, auch schon, bevor der Begriff überhaupt stand. Andererseits sprechen sie dann auch deutlich tiefere Thematiken an: «Was ist eine Idee?», oder die Frage nach der Bedeutung von Dada. Hohler dazu: «Ich mag den anarchischen Umgang mit der Sprache. Die Dadaisten haben den Unsinn entdeckt, als Antwort auf den Unsinn in der Welt dazumals.»
Zu Höchstform laufen Stoll und Hohler dann auf, wenn sie ihr mitgebrachtes Material auf beiden Seiten Klassiker präsentieren. Hier ergänzen sie sich sehr harmonisch. Stoll ist schnell und teils ungestüm, Hohler ein bisschen ruhiger. Grundmodus: Sie performt etwas, er reagiert mit einem seiner Texte. Und die Harmonie geht bei den Themen weiter: 
Stoll: Deine Mutter, deine MUTter, DEINE mutter, deine mutter, DEINE MUTTER, deine Muht-ter […] hättest du anrufen sollen!
Hohler: Und wenn sie tot ist? 
Stoll: Dann hättest du früher anrufen sollen!
Hohler:

Es war einmal ein Kater, der hatte keinen Vater.
Er heulte hundertmal, jetzt ist es ihm egal.

Ihre gemeinsame Affinität zu Dada nutzen die beiden sprachanarchistisch Veranlagten auch gleich produktiv zu einem weiteren Sprachduett. Stoll betrauert den Verlust ihres Rechtschreib-Dudens. Plötzlich bemerkt sie im Supermarkt, dass sie gar keine «Dirnen» kaufen wollte, sondern «Vananen», und  beschimpft den Duden, der sie verlassen hat, als «verdampften Nacho». Kaum hat sich das Wörterbuch bei Stoll davongemacht, kommt es jedoch bei Hohler wieder zum Vorschein verstaubt und uralt: Hohlers neuer Roman «Das Päckchen» widmet sich intensiv dem Abrogans. Ein hübsches Zusammentreffen, das nochmals den kongenialen Geist der beiden Wortergriffenen veranschaulicht. Auch wenn zwischen den Menschen dann doch nicht ganz so viele Jahre liegen wie zwischen ihren sprachlichen Wegweisern. Am Abend selbst reagiert Hohler allerdings mit einem Text, den er für die Sprachzeitschrift Babylon verfasst hat und der die «Versandlerie unseres Fortschatzes» beklagt. Ein «Wurm zu Basel» sei im Begriff, zu entstehen.  Insgesamt ein wunderbar «dünntaktisch-semidiotischer» Abend!
Simon Leuthold und Fabian Hermann

Er liebte sie mehr als alle Schafe, Kühe und Pferde

«Wie ein lebendiger Sir Lancelot war er in ihr Leben gestürmt und hatte ihr Herz erobert», raunte Dustin Hofmann über den Rand des sprechenden Covers «Der Liebesschwur des Highlanders» ins Mikrophon. DieHistorical-Gold-Ausgabe ist nur eine von vielen Varianten des Kioskromans, aus denen Nora Zukker und Dustin Hofmann zu später Stunde im Karl der Grosse ihre persönlichen Highlights vorlasen. Sie führten das Publikum sachte in die erotischen Untiefen der Groschenliteratur, bauten langsam Spannung auf und führten das Publikum Schritt für Schritt zum Höhepunkt. Des Abends natürlich.

Die Geschichten von Rokko, Sergio, Domenico, Samantha, Sue, Alisha und wie sie alle hiessen, deckten von Historical Highland-Erotik bis zu New Yorker Speed-Dating-Romantik alle Genres und Vorlieben ab. Begierig wartete das Publikum auf altbekannte Klischees und neue Fantasien und bejubelte Sätze wie: «Sie war kurz davor, den Gipfel zu stürmen»; «Ihre Zungen tanzten Tango»; «Immer wieder wurde sie von neuen Nachbeben erschüttert»; «Legen Sie los» oder «Aphrodite, die Schaumgeborene, stieg in ihrem Schlafzimmer im Morgenlicht aus dem Meer».

Historical Gold, Historical Season, baccara, Julia

Der Abend bot Inspiration für bleibende Komplimente. Von einem gewissen Coleyne lernten wir, dass er seine Mary mehr als alle Kühe, Schafe und Pferde liebte und von Rokko, dass seine Angebetete noch besser schmeckte als sie aussah. Von scheuem Kichern bis zu lautem Gelächter – das Publikum hat sich prächtig amüsiert. Selbst die Leserin Nora Zukker konnte stellenweise vor Lachen selbst nicht mehr weiterlesen. Ihre Mundwinkel zuckten des Öfteren, wenn Dustins sonore Stimme heisse Kiosk-Poetik säuselte. Auch er schmunzelte zwischendurch über Noras lüsterne Worte, doch wie ein wahrer Highlander wahrte er die Contenance.

Theresa Pyritz, Carla Peca

Eine wie keine

Wer hat ihre Bücher nicht gelesen? Gerade der Klassiker der Jugendbuch-Literatur Der rote Seidenschal? Jede Frau kennt das Buch und die Autorin dahinter. Federica de Cesco, die Schriftstellerin, die sich mit ihren sehnsuchtsvollen und abenteuerversprechenden Romanen in unsere Herzen geschrieben hat. Die Frauenfiguren ihrer Romane, die angetrieben sind von Freiheit, Eigensinn und Mut, haben Generationen von Jugendlichen geprägt. Alle jungen Mädchen wollten plötzlich reiten lernen und sich in einen Indianer verlieben und mit ihm Abenteuer erleben.

Ja, wir Frauen haben ihre Bücher verschlungen. Und tun es immer noch. Denn mit fast 80 Jahren schreibt Federica de Cesco noch immer. Das Literaturhaus Zürich lud in Kooperation mit Kaufleuten Kultur an eine Hommage an diese aussergewöhnliche Schriftstellerin ein. Die Moderatorinnen des Abends, Gesa Schneider und Corina Freudiger, bezeichnen sich selber als grosse de Cesco-Fans. Auf die erstaunte Feststellung Corinas, dass sich auch einige Männer unter dem Publikum befanden, meinte Federica de Cesco schlicht: «Ich schreibe Bücher für Menschen, und da gehören die Männer auch dazu.»

Federica de Cesco bezeichnet sich selber als Feministin. Tatsächlich sind die Figurengestaltung und Handlungsführung ihrer ersten Romane fast schon von einem revolutionären Charakter, bedenkt man, dass sie ihre ersten Romane in den 50er Jahren geschrieben hat, in denen die Rolle der Frau noch ganz anderen Normen unterworfen war. Gerade diese Unbefangenheit war es wohl, die ihr zum Erfolg verholfen hat. Sie war jung und hat nicht darüber nachgedacht, sondern einfach geschrieben: «Ich habe das geschrieben, was ich empfand.»

Ihren ersten Roman Der rote Seidenschal, den sie mit 15 geschrieben hat, erfand sie auf dem Schulweg. Sie hat die Geschichte schliesslich niedergeschrieben, um ihn ihren Mitschülern zum Lesen zu geben. Dass es schliesslich zu einer Publikation kam, ist einer Berufsberaterin zu verdanken. Auf deren Vorwurf, Federica habe nicht viel Fantasie, präsentierte diese ihr Roman-Manuskript, worauf das Ganze an einen Verlag geschickt wurde. Und der Rest ist Geschichte.

Was Federica de Cescos Romane nicht zuletzt auszeichnet, ist das fundiert recherchierte Hintergrundwissen. So hat sie sich bereits in jungen Jahren ein erstaunliches ethnologisches Wissen angeeignet. «Ich war entsetzlich belesen», sagt sie und fügt hinzu, dass sie in der Bibliothek alles verschlungen habe, bevorzugt Philosophie und Geschichte. Immer, wenn sie den Namen eines ihr unbekannten Ortes gelesen hat, fragte sie sich: «Wo liegt das, was macht man da? Und voilà.» Ihre Bücher spielen in der Camargue, in Tokio, in der Sahara oder bei den Indianern.

«Wenn ich über die Apachen schreibe, dann sind sie so», stellt Federica de Cesco klar. «Okay, vielleicht ein bisschen idealisiert», fügt sie noch lächelnd hinzu. «Die Grundstruktur stimmt aber», betont sie nochmals, «ich will den LeserInnen schliesslich nichts vormachen.»

Dass es trotzdem dazu kommen kann, beweist eine Anekdote. Als eines ihrer Jugendbücher 1973 unter dem deutschen Titel Sterne über heissem Sand erschien, fragte bei einem Schulbesuch ein Schüler bei ihr nach, wie denn die Temperaturen in der Sahara seien. Als sie antwortete, am Tag werde es sehr heiss bis über 50 Grad und in der Nacht sehr kalt bis unter 0, hakte der Schüler weiter nach, warum dann der Titel, bitteschön, Sterne über heissem Sand laute?

Dass sie dennoch lieber in Deutsch als in Französisch schreibt, hat damit zu tun, dass sie die deutsche Sprache bewundere: «Mit der deutschen Sprache ist man freier im Schreiben, im Gegensatz zum Französischen. Es ist einfacher, neue Welten heraufzubeschwören, neue Wörter können leichter erfunden werden.»

Seit den 90er Jahren schreibt Federica de Cesco auch Bücher für Erwachsene. Solche Bücher seien leichter zu schreiben, meint sie. Jugendliche haben (noch) nicht die klassische Formation und einen weniger ausgeprägten Wortschatz, deswegen müssten Jugendbücher entsprechend «reduziert» geschrieben werden.

Ihr neues Buch für Erwachsene – Der englische Liebhaber – erscheint nächstes Jahr. Aus dem Manuskript liest de Cesco einige Seiten vor. Es sei das erste Mal, dass sie aus einem Manus – wie sie sagt – vorliest. Mit klarer und präzis eingesetzter Stimme beginnt sie vorzulesen, man merkt, wieviel Lesungserfahrung sie hat. Die Erzählung, die im ersten Eindruck doch deutlich misanthropische Züge trägt, handelt von einer deutschen Frau in der Nachkriegszeit, die als Dolmetscherin bei der englischen Besatzungsmacht arbeitet und sich in einen Hauptmann verliebt. Es ist die Geschichte einer grossen, einer ehrlichen Liebe – die Federica de Cesco auch in ihrem Privatleben gefunden hat. (Seit 47 Jahren ist sie mit ihrem Mann, dem japanischen Fotografen Kazuyuki Kitamura, verheiratet.)

Auf die Frage, ob Federica de Cesco noch etwas ihren jüngeren LeserInnen auf den Weg mitgeben möchte, sagt sie, was sie immer wieder erstaune, sei, dass so viele Angst haben vor dem Verlust der Schönheit. Das Leben sei nun mal ein biologischer Abbau, alles sei in dieser Welt vergänglich. Auch im Verwelken und in der verwelken Blume liegt – Poesie.

Mord mit Morf, Musik und Hund

Die Stimmung ist gut, der Platz beengt, als die Krimiautorin Isabel Morf am Donnerstagabend in der Buchhandlung Bodmer aus ihren Werken vorliest. Direkt neben den Kriminalromanen im Regal lässt sie die Figuren aus einer Kurzgeschichte und ihrem neuen Roman Selbsanft lebendig werden. Mit Hörbuchstimme, unterstützt von passender Mimik und Gestik, erzählt Morf in der Kurzgeschichte von Cassandra Buchstab, einer mittelmässig erfolgreichen Krimiautorin. Gebannte Stille, immer wieder unterbrochen von kurzen Lachern, als Buchstab vom perfekten Mord berichtet, den sie begangen hat. Oder sollte man sagen, der ihr widerfahren ist? Denn eher zufällig wird Buchstab zu einer mordenden Krimiautorin, deren Bücher sich durch den Vorfall viel besser verkaufen. Nach dieser gelungenen Pointe wechselt Morf zur Premierenlesung ihres aktuellen Romans Selbsanft, der im Glanerland spielt. In Auszügen begleitet das Publikum Kommissar Melchior Zwicki zu seinen Ermittlungen, nachdem ein Toter am Selbsanft gefunden wurde. Wie bei den Kurzgeschichten zuvor freut sich das Publikum über die feine Ironie in Morfs Text und ihre überzeugende Leseweise. Atmosphärisch untermalt werden diese Schauergeschichten von Beat de Roche, der sich trotz vielversprechender Karriere als Strassenmusikant für einen «richtigen» Beruf (Arzt) entschied, und nun seiner Halszither geheimnisvolle Klänge entlockt.

Im Anschluss an die Lesung über ihre Arbeitsweise befragt, sagt Morf im Hinblick auf ihren neuen Roman: «Ich bin im Glarnerland aufgewachsen und wollte immer mal einen Krimi schreiben, der dort spielt. Der Selbsanft sollte auch vorkommen. Was mache ich? Ich lege einen Toten an den Selbsanft.» Morf erklärt auch, dass sie ihre Geschichten beim Schreiben entwickle. «Vorher weiss ich nur das Skelett der Handlung: wer bringt wen warum um. Im Schreiben füge ich das Fleisch an den Knochen hinzu.» So endet die Lesung und das Publikum strebt dem Apéro zu, damit es nicht selbst vom Fleisch fällt.

Isabel Morf beim anschliessenden Signieren

Ist die alte Dame zurück?

Seine Ausgangssituation war nicht einfach. Das Buch, aus dem er liest, ist nicht mehr ganz neu. Das Publikum ist mit 22 Nasen eher spärlich bemessen. Und die Moderatorin gibt gleich zu Beginn unverblümt zu, dass sie sein Buch immer noch nicht gelesen habe. Lorenz Langenegger macht das Beste daraus und liest drei Passagen aus «Dorffrieden».

Seine Hauptfigur ist der alternde Dorfpolizist Wattenhofer, der die nicht weiter definierte «kleine Seegemeinde» seit seiner Geburt nie verlassen hat und ein bisschen neidisch ist auf seinen Sohn, der ein rebellisches Leben führt. Sein Leben scheint tatsächlich wie in Watte gepackt. Die Probleme, um die sich der Polizist kümmern muss, sind allesamt lächerlich: Unordnung beim Fahrradständer, die sich als einzelne weggeworfene Zigarettenschachtel entpuppt, und – das höchste der Gefühle – die Autobahneinfahrt muss wegen des Chinesischen Wirtschaftsministers für fünf Minuten gesperrt werden. In besagter Zigarettenschachtel findet Wattenhofer einen Schlüssel, und er begibt sich, plötzlich getrieben wie in einem Fernsehkrimi, auf die Suche nach Hinweisen, was es mit diesem Schlüssel auf sich hat. Und das, obwohl er Fernsehkrimis eigentlich gar nicht mag – den «Tatort» ausgenommen, weil er sich mit den Figuren dort identifizieren kann.

Auch an anderen Bezügen mangelt es nicht: Gegenwärtige politische Situationen (Anti-AKW-Demo, Freihandelsabkommen mit China, China-Tibet-Konflikt) werden kurz und meist leicht ironisch angesprochen, charakteristische Krimi-Elemente werden dadurch, dass eben genau nichts geschieht, in etwas Lächerliches verkehrt, und eine Fabrikantenwitwe, die enorm viel Geld hat und deren ganzes Wesen bei jeder Bewegung «Dürrenmatt!» schreit, hält alle Fäden des Kaffs in der Hand. Nicht auszuschliessen, dass sie auch Wattenhofers «Kriminalfall» von A bis Z inszeniert hat.

Langenegger beweist ein feines Gespür für die Langweiligkeiten des Dorflebens, für die heimlichen Sehnsüchte seiner Figuren und einen scharfen Blick fürs Detail. Der Eindruck, den sein Buch hinterlässt: Langsam, aber kurzweilig, vielleicht etwas überladen mit Anspielungen.

Der 37-jährige Lorenz Langenegger kam durch seine Tätigkeit als Dramatiker zu internationaler Beachtung, Stücke von ihm gewannen bereits diverse Preise, unter anderem bei der Schaubühne in Berlin. In jüngerer Vergangenheit war er am Drehbuch des Luzerner «Tatorts» beteiligt. «Dorffrieden» (Jung und Jung, Salzburg/Wien 2016) ist sein dritter Roman.

«I wui Skifoahrn – sonst nix!»

Gion Mathias Cavelty, der Bündner Fachmann für geistreichen Firlefanz, kann nicht anders: Die Lesung im eleganten Buchsalon des «Kosmos» eröffnet er, in gewohnt schwarzer Montur, ironisch: mit dem Abspielen der Österreichischen Nationalhymne. Man dürfe sich erheben und ungeniert einstimmen, bietet er an. Es ist das letzte Mal an diesem Abend, dass ihm sein Publikum nicht folgt. Von nun an ist es ihm, der mit routinierter Süffisanz durch den Abend führt, gewogen.

Das launige Geplänkel mit dem Journalisten Thomas Widmer, der dem Autor als kongenialer Sidekick assistiert («Ist der Bauch echt?»), ermöglicht Cavelty, seine Lieblingsanekdoten vorzubringen, lotet aber auch das Verhältnis von Autor und Werk aus. «I wui Skifoahrn – sonst nix!» zitiert Cavelty den ehemaligen Weltklasse-Skirennläufer Franz Klammer in seinem neuen Buch – ob dieses Bekenntnis, so Widmer, nicht eigentlich ein peinliches Zeugnis von Einfältigkeit sei? Der Autor widerspricht vehement: «Wenn ich in einem Satz sagen könnte, was ich bin und was ich will, und das dann auch tun würde» – das wäre seiner Meinung nach «vorbildlich».

Freilich: Eine Sport-Story ist Der Tag, an dem es 449 Franz Klammers regnete nicht geworden. Klammer meets Jesus und dessen Bibelkollegen, gemeinsame Zeitreisen leiten thematisch vom kruden Okkultismus führender Nazis zu den Gnostikern, den alten Ägyptern und den Maya bis hin zum Urknall. Einem Ort also ohne Zeit und Raum, vor allem ohne Gott. Im Gespräch mit Widmer bekundet Cavelty Sympathie für die Gnostiker. Ihr Spieltrieb, ihr Trotz gegen Konventionen, ihre Freude an der Opposition faszinieren ihn, der mit dieser Attitüde auch sein eigenes Werk bestreiten will. Auf die Frage nach seinen Vorbildern und ob zu diesen etwa Bärfuss zähle, antwortet er keck: «Bärfuss? Was ist Bärfuss?» Stattdessen verweist er auf «Moby Dick». Er könne sich, «jetzt mal unironisch», mit keiner literarischen Figur so sehr identifizieren wie mit Ahab, der mit letzter Kraft gegen die Naturgesetze ankämpfe.

Cavelty liest gekonnt und mit erkennbarer Freude am Ulk. Geschickt nutzt er den Bündner Sprachduktus, um jede noch so latente Pointe aufzuspüren. Den Abschluss des Abends bildet ein Ausschnitt des Hörspiels zum vorgestellten Buch: «nur 6 Minuten», beschwichtigt der Autor. Er braucht einige Sekunden, sich selbst in die Rolle des blossen Zuhörers zu finden, und arrangiert sich stilvoll in die Denkerpose hinein: den Kopf auf die tätowierte Hand gestützt, folgt er zufrieden dem eigenen Werk. Hier sieht man einen Autor, versunken im selbstverfassten Text, der innerlich die Worte mitzusprechen scheint und, sobald das Kichern wie ein Lauffeuer durch die Sitzreihen brandet, leise feixt. Einem anschliessenden Foto-Shooting gibt er sich bereitwillig hin.

Wie man die Blindmaus vertreibt

«Ich bin neidisch, weil Sie Wasser haben.» Meir Shalev ist angetan von der Zürcher Stadtgärtnerei. Bei ihm zuhause im Norden Israels sei es von Juni bis September völlig trocken. Nur zwei oder drei Blumen wachsen in dieser Zeit in Shalevs Garten. Von dem erzählt der Autor im Gewächshaus einem fachkundigen Publikum – auf Nachfrage gibt mehr als die Hälfte der Besucher an, selbst einen Garten zu beackern.

Sein Garten sei wohl das Gegenteil eines schweizerischen Gartens: unprofessionell und wild. «Er ist ein Durcheinander.» Das Gärtnern hat sich Shalev selbst beigebracht. Vor achtzehn Jahren bezog er sein Haus und sah Blumen im Garten des Nachbarn. Da kam er auf den Geschmack und begann selbst, die Fläche um sein Haus zu bepflanzen. Wildblumen pflanzte er, weil diese stark genug seien, sowohl das harte Klima als auch seine schlechten Gartenkenntnisse überleben können. In seinem Buch «Mein Wildgarten» versammelt er Anekdoten aus seinem Gärtneralltag.

Meir Shalev mit Moderatorin Jennifer Khakshouri

Shalev berichtet von den Verwüstungen einer Blindmaus, die besonders gerne die Zwiebeln seiner liebsten Blumen angriff. Selbst für einen friedlichen Gärtner wird solch ein Gast zum Erzfeind, gegen den ein «totaler Krieg» begonnen werden muss. Nach etlichen gescheiterten Versuchen, das Tier zu ertränken, erschrecken, erschiessen oder zu erschlagen, hält Shalev jedoch inne. Er hat seine Zeit vergeudet, sich und der Umwelt geschadet. Warum und mit welcher Wirkung? Wer ist hier der Schädling? Heute pflanzt er seine wertvollsten Blumen in Töpfen und «verwaltet» den Konflikt mit der Blindmaus.

Es ist köstlich, diese und andere Anekdoten zu hören. Der Schauspieler Jaap Achterberg liest die Passagen zur hörbaren Freude des Publikums sehr anregend und dynamisch. Neben den gelesenen Passagen aus seinem Buch kommentiert Shalev seine Arbeit. Er spricht über seine Wildblumen und über die Tiere, die nachts aus dem angrenzenden Wildreservat seinen Garten besuchen. Das Gärtnern sei sein erstes richtiges Hobby geworden, erinnert sich Shalev.  Was hat das Schreiben mit dem Gärtnersein gemeinsam? Man brauche viel Geduld. Manche Samen, egal ob aus ihnen Blüten oder Geschichten kommen, müssen lange Zeit ruhen, um wachsen zu können.

Sein Buch «Mein Wildgarten» ist in Israel zum Bestseller geworden. Shalev vermutet dahinter auch religiöse Gründe. Denn sein Buch beschreibe den Garten als «einzigen normalen Ort in Israel». In einem Land, dessen Boden seit Jahrhunderten von drei Weltreligionen verehrt und umkämpft wird, biete der unspektakuläre und bescheidene Wildgarten einen beruhigenden Perspektivwechsel. Davon ist Shalev überzeugt. Gerade weil er nicht heilig ist, gerade weil niemand Besitzansprüche an sie stellt, werde die Erde seines Gartens zum Ort für neue Reflexion. «Jesus hat nie meinen Garten betreten.»

Shalev schlägt auch politische Töne an. Sowohl das Land, als auch der Autor werden im nächsten siebzig Jahre alt. «Wir sind beide siebzig, aber ich sehe besser aus.» Zum Geburtstag wünscht er dem Land vor allem eine bessere Regierung.

Enrico Ehmann, Julien Reimer