Zwischen Lastwagen und Heiligen

Die Restbestände des gestrigen Apéros könnten immer noch Adam Schwarz‘ Stimme beeinflussen. So entschuldigte sich der Autor vor der Kurzlesung seines Debütromans Das Fleisch der Welt. Davon war aber nichts zu hören. Einzig vorbeifahrende Lastwagen unterbrachen die gespannte Stille im Publikum vor der Aussenbühne beim Landhausquai. Adam Schwarz leitete die heutige Serie von Kurzlesungen auf der Solothurner Aussenbühne ein, zu der sich trotz des begrenzten Platzes bereits zahlreiche Zuhörende versammelt hatten.

So wenig wie das Geschehen abseits der Bühne zu kontrollieren war, so fremdbestimmt scheinen auch die Figuren des Romans zu sein. Niklaus von Flüe, der heiliggesprochene Schutzpatron der Schweiz, zog sich von Gott berufen in die Einsiedelei zurück. Sein ältester Sohn Hans, der sich während der Abwesenheit des Vaters ans erdengebundene Bauernleben gewöhnt hatte, wird im Roman von der plötzlichen Rückkehr des Vaters überrascht. Dieser fordert seinen Sprössling dazu auf, ihn auf einer erneuten Pilgerreise zu begleiten. Widerwillig nimmt der Sohn den Vorschlag des Vaters an. Erzählt wird aus der Perspektive des Sohns, der sich in seinen Handlungen stark von seinem Vater beeinflusst zeigt. Genau so abhängig von einer übermächtigen Figur ist auch von Flüe selbst.

Das gegensätzliche Vater-Sohn-Gespann begibt sich auf eine Reise gegen Westen, bei der die unterschiedlichen Welten von transzendenter Hingebung und immanenter Erdgebundenheit aufeinanderprallen. So auch in dem Ausschnitt, den Adam Schwarz am Landhausquai liest: Hier werden Menschen mit Kohlköpfen und nicht etwa mit geistigen Entitäten verglichen. Ebenso wird das Wunder der Geburt durch die blutverschmierte Realität entmystifiziert. Und so werden auch wir als Zuhörende gleich zu Beginn der Literaturtage von womöglichen geistigen Höhenflügen direkt auf den Boden der dreckigen Realität zurückgeholt. Ein gelungen witziger und kurzer Einstieg für unsere literarische Pilgerfahrt nach Solothurn.

Simon Härtner, Fabienne Suter 

Nach dem Recyclinghof zu IKEA

Jens Steiner eröffnet den Literaturtage-Freitag mit seiner Lesung aus Mein Leben als Hoffnungsträger. Trotz der frühen Stunde füllt sich der Landhaussaal schnell mit interessierten Zuhörenden. Sie werden mit einem lebendigen, humorvollen Autor belohnt. Steiner ist ein Meister darin, seinem Text Leben einzuhauchen. Vor allem die Vertonung von zwei Figuren, der beiden Portugiesen Arturo und João, sorgt für Erheiterung. Leise Lacher ziehen sich durch beide Vorlese-Passagen. Laut herauszulachen – das traut sich das zurückhaltende Schweizer Publikum zwar nicht. Doch Steiners Humor kommt beim Publikum gut an und sorgt – von den hinteren Reihen aus gesehen – für ein Panorama von sanft ruckelnden Rücken.

Von den lobenden Worten seines Gesprächspartners Lucas Gisi beschwingt, schafft Steiner eine einladende Atmosphäre. Er lässt sich auch durch ein knisterndes Mikrofon und einen an ihm herumfummelnden Techniker nicht beirren. Das Publikum dankt es ihm mit wohlwollender Aufmerksamkeit.

Steiners Protagonist Philipp arbeitet auf einem Recyclinghof. Von ihm ausgehend spricht Gisi mit Steiner über die Konsumgesellschaft, die sich in grotesker Weise im Recyclinghof widerspiegelt. Steiner schreibt in einem entschleunigenden Stil von der alternativen Lebensweise Philipps, der sich der Leistungsgesellschaft mit Trägheit zu entziehen versucht. Er beschreibt Philipp als „trägen Idealisten“, der Aktivismus zeigt, indem er sich Zeit lässt. Gesellschaftskritik wird mit Gesellschaftssatire verwoben, Konflikte werden mit hintergründigem Humor einfach stehengelassen.

Zur Ursprungsidee seines Romans befragt, gesteht Steiner, dass er darauf jeweils nur unbefriedigende Antworten finden kann. Es ist wie mit alten Freunden: um eine bestimmte Ebene der Vertrautheit zu erreichen, muss man vergessen, wann man sie kennengelernt hat. Ebenso müssen sich die Ursprünge seiner Ideen verwischen, damit er sich intensiv mit ihnen auseinandersetzen kann. Zum Beispiel, indem er ein Praktikum auf einem echten Recyclinghof absolviert. Dort beobachtete er die Fortsetzung der Konsumwelt. Man muss schliesslich zuerst „Platz schaffen, bevor man eine Woche später wieder zu IKEA fährt“, so Steiner.

Olivia Meier, Foto: Selina Widmer