Der Nationalstaat als Ekzem?

Im Kellertheater wird ein work in progress von Joel László, Hausautor am Theater Basel, ausschnittweise vorgetragen und in kleiner Expertenrunde besprochen. Drei der Bistrotischchen sind leergeblieben, von denen her man, nach eigenem Belieben, mit einem Glas Wein friedlich in die Künstlerecke linst oder sich in den öffentlichen Teil der Diskussion einfädelt. Was drei Akteure zu Beginn gekonnt vorsprechen, kann man am eigenen Textausdruck nachvollziehen, gegen Ende des Abends zentriert ein Büffet die sich lebhaft unterhaltenden Mitwirkenden und Zuschauer. Der aufwändigen wie aufmerksamen Gestaltung der Veranstaltungsreihe wäre vorbehaltlos ein grösseres Publikum zu wünschen.

Als Figuren des Dramas General Wunde werden gelistet: Anja und Samuel, ein Paar mit einem ekzematischen Kleinkind, Dufour als Grossvater, Landesvater und oberster Kartograph. Das Stück, so der Autor, befinde sich „im Modus des Juckreizes“: Satzbrocken in teils additiver Redundanz, gesprochen wie das Hin- und Herfedern der Finger über juckende Haut, dominieren die Textstruktur. Das irrsinnige aber auch wohlige Kratzen soll den Kontrollverlust über die Sprechweise artikulieren, die die psychischen und sozialen Wunden der Figuren buchstäblich verkörpert. Aber die Körperlichkeit des Stückes wird auch zurücktransponiert ins Abstrakte: die Haut als Metapher für das geologische wie soziale Territorium, auf dem disparate Seinsentwürfe mit- oder gegeneinander agieren. Dufour, der als Heiler der Wunden triumphieren will, scheint letztlich als Unglücksstifter zu fungieren. Er vereint auf dem Papier, d.h. kartographisch, was von selbst nicht zueinander findet.

Es lässt sich dies und allerlei Interessantes mehr aus dem Stück herauslesen, manches muss man aber auch offensiv hineinlesen. Der ideelle Nexus zwischen staatlicher Gebietserschließung durch Kartographierung angeblicher «Wunden» und der Hauterkrankung eines Kindes, an dem eine Ehe zerrütten soll, bleibt unklar. Der Eindruck mag sich legen, wenn General Wunde als Ganzes wirkt. Hört man die kenntnis- und aufschlussreichen Kommentare der Experten, darf man auf ein faszinierendes Stück schließen; auch der sympathisch bescheidene Autor selbst gibt interessante Einblicke in seine Arbeit und aktuelle Theaterdiskurse. Und so ist der Abend intellektuell lukrativ und die Veranstaltung durchweg empfehlenswert. Dasselbe lässt sich vom Stück, wie zaghaft angedeutet, nur bedingt sagen.

Das grosse Lesungs-Bingo

Jedes Genre bringt seine typischen Merkmale mit sich. Das gilt für Musik, Literatur, Malerei – und auch für kulturelle Veranstaltungen. Wir haben ein paar Floskeln und peinliche Ereignisse zusammengetragen und eine Bingokarte daraus gemacht. Für alle, die einen zusätzlichen Ansporn suchen, bei den Lesungen genau aufzupassen.

Wer schafft fünf in einer Reihe? Fertige Fünfergruppen bitte in der Kommentarspalte mit Verweisen auf Ort und Zeit der Ereignisse angeben!

Julien Reimer, Carla Peca, Laura Clavadetscher, Simon Leuthold

 

Bibliothekarinnen hängen sich bisweilen an Lustern auf

Das Kulturzentrum Sphères unweit des Escher-Wyss-Platzes hat seine Besucherinnen und Besucher gestern Abend verheissungsvoll zu einem Glücksseminar geladen. Dass das Glück ein Muskel sei, den es bloss nach genügend Training verlange, wird denn schon bald von den beiden zwielichtigen Anzugsträgerpuppen auf der Bühne proklamiert: Wie in der Folge schnell klar wird, ist es ihnen darum zu tun, die Sehnsucht nach dem flüchtigen Konzept in erster Linie vermarkten zu können. Den gierigen Glücksmarktvertretern zur Seite gestellt werden mit Anna Karger und Delia Dahinden zwei Bibliothekarinnen – musikalisch begleitet wird die Glückssuche von Urs Sibi Sibold –, die in den Untiefen von inneren und äusseren Bibliothekslandschaften nach Texten stöbern gehen, die auf die Risse der Glückslust und -sucht aufmerksam machen und falschen Versprechungen auf die Spur kommen. Was an Text aus der Tiefe an die Oberfläche gehoben wird, reicht von Ingrid Lausunds Sofa-Monolog bis hin zu Lydia Davis’ A Position at the University. In Lausunds Satire geht es um einen Mann, der von der Marktforschung zur Zielgruppe «Leander» gezählt wird. Und dies weiss. Aus Rebellion legt er sich ein Sofa aus der Zielgruppe «Horst» zu. Mit dem er prompt unglücklich wird. Die Lacher im Publikum sind an dieser Stelle laut und legen sich schnell wieder – das Bedauern darüber, nur zu genau zu wissen, worum es hier geht, erfüllt kurzzeitig das gut besuchte Lokal. Bei Davis hingegen, die auch mit dem schönen Text The Professor vertreten ist, in dem die erzählende Figur längstens schon einen Cowboy heiraten möchte, heisst es : «I think I know what sort of person I am. But then I think, But this stranger will imagine me quite otherwise when he or she hears this or that to my credit, for instance that I have a position at the university: the fact that I have a position at the university will appear to mean that I must be the sort of person who has a position at the university.» Damit sind wir aber bei Fragen zur Identität angelangt und der Lust danach, herauszufinden, woraus das so oft und mit Nachdruck ausgesprochene «Ich» überhaupt besteht und von wem dazu gemacht wird – das Glück hat sich also, als wir draussen auf den kalten Stühlen ein letztes Bier bestellen, bereits gewieft aus dem Staub gemacht.

«Rainer, sag nur immer Ja zu allem was ich will.»

Zürich liest. Und Rilke liebt Russland. Während die lebenden Dichterinnen und Dichter in der Limmatstadt eintrudeln, nutzt Nadia Brügger die Ruhe vor dem Sturm, um die aktuelle Rilke-Ausstellung im Strauhof zu begutachten. Die nicht nur im Programmheft, sondern auch in Liebesdingen ganz vorne dabei ist.

Die Nase tief in fremde Liebesbriefe hineinstecken, dazu ermuntert die aktuelle Ausstellung im Strauhof. Thema ist die vielschichtige Beziehung von Rainer Maria Rilke zu Russland. Der Briefwechsel zwischen dem 1875 in Prag geborenen Dichter und der russischen Poetin Marina Zwetajewa ist dabei omnipräsent; neben Trouvaillen wie unserem Titelzitat lassen sich auch voyeuristische Gelüste stillen. Das merkt die Besucherin, wenn sie sich dabei ertappt, schon etwas gar lange vor den einzelnen Liebesblättern zu verharren, nur um nach einem Abstecher zu Rilkes Trinkglas dann doch wieder vor die verlockenden Vitrinen zu eilen, deren letzte in der ganzen Einsamkeit einer unbeantworteten Frage dasteht (oder hängt? Das Labyrinth, das man zu durchqueren auszieht, bringt in der Erinnerung die Raumverhältnisse durcheinander).

Der Eingang ist von Birkenstämmen flankiert, die von Rilke-Zitaten geziert sind. Durch die gesamte Ausstellung wird man von Fotografien von Barbara Klemm und Mirko Krizanovic begleitet, die Russland bildlich kontextualisieren sollen. Es kommt einem bisweilen so vor, als trügen sie in ihrer ernsthaften Schwarzweissästhetik eher zur Ver- als zur Erklärung eines Landes bei, von dessen Bewohnerinnen und Bewohnern Rilke selbst sagt, es schliefe die Kunst in ihnen: «Ich ahnte, dass ein Mensch, der Kunst schaffen wollte, ebenso geduldig, ebenso ernst, ebenso zeitlos weit sein müsse, wie es diese russischen Menschen waren.»

An diesem ruhigen Nachmittag, immerhin dem Warm-up für Zürich liest 2017, sind wird etwa zu fünft, die wir unsere schweren Köpfe gemeinsam über die gläsernen Kästen neigen. Wird die Demutsgeste zu beschwerlich (bei Rilke sind es die sich Verneigenden, die sich darin zu ihrer riesenhaften Grösse aufrichten), lässt es sich auch mit dem Audioguide durch die Räume wandeln. Im Abgleich mit dem Gerät kann man zum Beispiel versuchen, Rilkes Handschrift zu entziffern, oder in einer Ecke vorgetragenen Gedichten lauschen.

Als ich die Ausstellung verlasse, ist es Abend geworden, und es zittern mir die Sinne und ein freches Lachen in der Kehle darüber, dass Rilke in seinen Erinnerungen mit festem Blick Tolstoi standhält, der ihn möglicherweise nicht einmal anschaut.

Zürcher Liebende in der Älpli-Bar

Die Älpli-Bar im Herzen Zürichs ist bekannt für ihre Live-Darbietungen von Schweizer Volksmusik. Am ersten Tag von «Zürich liest» stand aber die Literatur im Vordergrund. Die beliebte Radiomoderatorin Regula «Regi» Sager las aus ihrem Buch «Zürcher Liebesgeschichten. Ein Stadtführer der besonderen Art». Die Volksmusik durfte natürlich trotzdem nicht fehlen, denn Regi Sager ist nicht nur Moderatorin und Autorin, sondern auch eine talentierte Sängerin. So sorgte sie zusammen mit dem Pianisten Stefan Stahel auch gleich selber für die musikalische Untermalung ihrer Lesung.

Als jeder seinen Platz in der sehr gut besuchten Älpli-Bar gefunden hatte, die legendäre Älpli-Milch ausgeschenkt war (ein Freund hat mir eindringlich davon abgeraten, diese Hausspezialität zu probieren, also bestellte ich nur eine Stange), griff Sagers Verleger pünktlich um 19 Uhr zum Mikrofon, um seine Autorin anzukünden – und nahm dabei die Überraschung vorweg, dass Sager passend zu ihren Texten auch ausschliesslich Zürcher Lieder singen werde.

Sager führte das Publikum durch die Zürcher Geschichte und erzählte von Richard Wagners ausserehelichem Schwärmen für seine Nachbarin auf dem grünen Hügel im Enge-Quartier, von Albert Einsteins Liebe zu einer hinkenden Mitstudentin am Polytechnikum, aber auch davon, wie Thomas Mann einen Kellner im Hotel Dolder anhimmelte und zum Abschluss, wie Huldrych Zwingli sich nach Rücksprache mit dem lieben Gott über das Zölibat hinwegsetzte. Dazwischen sang Sager die Lieder «Ich han en Schatz am schöne Zürisee» und «Himmelblaue Züri-Trolleybus».

Der Verleger rühmte Sager als eine der wenigen Autorinnen, die neben dem Schreiben auch gut vorlesen können – wenig verwunderlich angesichts der Tatsache, dass man es mit einer der bekanntesten Schweizer Radiomoderatorinnen zu tun hat. Sager las ihre Texte souverän und unterhaltsam, so dass ihr die volle Aufmerksamkeit der Zuhörerinnen und Zuhörer gewiss war. Nur die etwas sehr forsche Bedienung, die das Aufnehmen von Bestellungen und das Einkassieren unbeirrt fortführte, störte das Erlebnis ein wenig. Aber vielleicht gehört das zum Älpli-Ambiente.

Auftakt zu «Zürich liest»

«Wir könnten eigentlich ein ganzjähriges Festival ausrufen.» So beginnt Stephanie von Harrach vom Ressort Literatur der Stadt Zürich die Eröffnungsveranstaltung. Denn Zürich liest, schreibt, übersetzt, verlegt, illustriert, vermittelt, berät und verkauft, rezensiert und stellt aus. Und die Akteure, die genau das machen, haben sich am Mittwochabend im Kaufleuten eingefunden. So befanden sich im Publikum unter anderem Gesa Schneider (Literaturhaus Zürich), Corina Freudiger (Kaufleuten Literatur), Dani Landolf (Geschäftsführer Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband), Esther Schneider (SRF) und Anica Jonas (Dörlemann Verlag). Moderiert wurde der Abend von der Kulturmoderatorin Monika Schärer.

Violanta von Salis, Janka Wüest und Martin Walker von der Festivalleitung mit Moderatorin Monika Schärer

Die Eröffnungsrede zur siebten Ausgabe des Festivals hielt der Regisseur, Autor und Essayist Milo Rau. Unter dem diesjährigen Festivalmotto «Figuren und Fakten» sprach er über l’art pour l’art und politisches Erzählen. Nach Peter Stamms Aufruf zur Zweckfreiheit von Literatur und Jonas Lüschers Relativierung in den Eröffnungsreden der beiden letzten Jahre, verhält sich Rau neutral und gibt beiden Recht. Rau plädiert für die Komplexität von Texten und Kunst an sich: «Ein engagierter Künstler ist ein Mensch, der einen Raum öffnet, wo Dinge passieren, die er selbst nicht mehr unter Kontrolle hat.» Für seine Film- und Theaterprojekte unternimmt Rau ausgedehnte Recherche-Reisen, führt lange Gespräche und guckt, was auf ihn zukommt. «Ich sehe mich oft als Müllsammler», sagt Rau über seine Arbeitsweise. Das gesammelte Material selbst dient ihm meist nicht als Gegenstand für Bücher und Theaterstücke, sondern nur als Anstoss für eine fiktionale Umsetzung. In ähnlicher Weise verfährt er mit seinem Publikum und sagt: «Guck mal, was dir das gibt.»

Mit einem letzten Stück entlässt die Cellistin und Sängerin Fatima Dunn das Publikum in den Abend und in ein dichtes Festivalprogramm. Denn, wie es Stephanie von Harrach sagt: «Wir kommen nicht zum Schlafen, weil Zürich liest.»

Fabian Hermann, Carla Peca, Theresa Pyritz, Julien Reimer

«Zürich liest» – Auftakt im Kaufleuten

Die «Zürich liest»-Empfehlungen der Auftakt-Gäste:

  • Stefanie von Harrach: «Nora Gomringer liest Dorothy Parker» im Odeon, Sa 28.10, 10:30 Uhr
  • Violanta von Salis: «AJAR – zweisprachige Performance des Autorenkollektivs» im Cabaret Voltaire, Sa 28.10, 17:30 Uhr
  • Martin Walker: «Politik der Bewegung – Florian Inhauser diskutiert mit Bruno Ziauddin und Martin R. Dean über Flucht und Migration» im Karl der Grosse, Sa 28.10, 20:30 Uhr
  • Janka Wüest: «Schifffart mit Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann» im Theatersteg, So 29.10, 14:00 Uhr
  • Milo Rau: «Dichter-Duett: Franzobel im Gespräch mit Robert Schneider» im Karl der Grosse, Sa 28.10, 18:30 Uhr
  • Fatima Dunn: «Buchpremiere: Gion Mathias Cavelty – Der Tag an dem es 499 Franz Klammers regnete» im Kosmos, Do 26.10, 20:00 Uhr