«Rainer, sag nur immer Ja zu allem was ich will.»

Zürich liest. Und Rilke liebt Russland. Während die lebenden Dichterinnen und Dichter in der Limmatstadt eintrudeln, nutzt Nadia Brügger die Ruhe vor dem Sturm, um die aktuelle Rilke-Ausstellung im Strauhof zu begutachten. Die nicht nur im Programmheft, sondern auch in Liebesdingen ganz vorne dabei ist.

Die Nase tief in fremde Liebesbriefe hineinstecken, dazu ermuntert die aktuelle Ausstellung im Strauhof. Thema ist die vielschichtige Beziehung von Rainer Maria Rilke zu Russland. Der Briefwechsel zwischen dem 1875 in Prag geborenen Dichter und der russischen Poetin Marina Zwetajewa ist dabei omnipräsent; neben Trouvaillen wie unserem Titelzitat lassen sich auch voyeuristische Gelüste stillen. Das merkt die Besucherin, wenn sie sich dabei ertappt, schon etwas gar lange vor den einzelnen Liebesblättern zu verharren, nur um nach einem Abstecher zu Rilkes Trinkglas dann doch wieder vor die verlockenden Vitrinen zu eilen, deren letzte in der ganzen Einsamkeit einer unbeantworteten Frage dasteht (oder hängt? Das Labyrinth, das man zu durchqueren auszieht, bringt in der Erinnerung die Raumverhältnisse durcheinander).

Der Eingang ist von Birkenstämmen flankiert, die von Rilke-Zitaten geziert sind. Durch die gesamte Ausstellung wird man von Fotografien von Barbara Klemm und Mirko Krizanovic begleitet, die Russland bildlich kontextualisieren sollen. Es kommt einem bisweilen so vor, als trügen sie in ihrer ernsthaften Schwarzweissästhetik eher zur Ver- als zur Erklärung eines Landes bei, von dessen Bewohnerinnen und Bewohnern Rilke selbst sagt, es schliefe die Kunst in ihnen: «Ich ahnte, dass ein Mensch, der Kunst schaffen wollte, ebenso geduldig, ebenso ernst, ebenso zeitlos weit sein müsse, wie es diese russischen Menschen waren.»

An diesem ruhigen Nachmittag, immerhin dem Warm-up für Zürich liest 2017, sind wird etwa zu fünft, die wir unsere schweren Köpfe gemeinsam über die gläsernen Kästen neigen. Wird die Demutsgeste zu beschwerlich (bei Rilke sind es die sich Verneigenden, die sich darin zu ihrer riesenhaften Grösse aufrichten), lässt es sich auch mit dem Audioguide durch die Räume wandeln. Im Abgleich mit dem Gerät kann man zum Beispiel versuchen, Rilkes Handschrift zu entziffern, oder in einer Ecke vorgetragenen Gedichten lauschen.

Als ich die Ausstellung verlasse, ist es Abend geworden, und es zittern mir die Sinne und ein freches Lachen in der Kehle darüber, dass Rilke in seinen Erinnerungen mit festem Blick Tolstoi standhält, der ihn möglicherweise nicht einmal anschaut.

Für uns bei «Zürich liest»:
Nadia Brügger

Bis vor Kurzem hat Nadia Brügger an ihrer Masterarbeit zu Ilse Aichinger herumgeschraubt und für die Denkbilder nach Ablauf jeglicher legaler Deadlines Editorials geschrieben, in denen Elias Canetti selten fehlte, weil es sich an ihm so schön abarbeiten lässt. Am liebsten würde sie in Co-Autorinnenschaft eine Dissertation verfassen mit dem Titel: Tod und Begehren.
In den nächsten Tagen wird Brügger im Sphères ein Glücksseminar besuchen – dabei hoffentlich herausfinden, was ALF mit Lydia Davis zu tun hat – und beim Jungen Literaturlabor unter anderem den Romanauszügen einer Sek-Klasse aus Schlieren lauschen. Im Theater Neumarkt wird sie jederzeit dazu bereit sein, Queen B zu verteidigen und Laurie Penny und Andi Zeisler zur Zukunft des Feminismus zu befragen. Am Sonntag schliesslich wird Brügger im Sofa versinken, während Yael Inokai aus ihrem neuen Roman Mahlstrom liest, in dem auffällig oft vergebens gewartet wird.