Wie man die Blindmaus vertreibt

«Ich bin neidisch, weil Sie Wasser haben.» Meir Shalev ist angetan von der Zürcher Stadtgärtnerei. Bei ihm zuhause im Norden Israels sei es von Juni bis September völlig trocken. Nur zwei oder drei Blumen wachsen in dieser Zeit in Shalevs Garten. Von dem erzählt der Autor im Gewächshaus einem fachkundigen Publikum – auf Nachfrage gibt mehr als die Hälfte der Besucher an, selbst einen Garten zu beackern.

Sein Garten sei wohl das Gegenteil eines schweizerischen Gartens: unprofessionell und wild. «Er ist ein Durcheinander.» Das Gärtnern hat sich Shalev selbst beigebracht. Vor achtzehn Jahren bezog er sein Haus und sah Blumen im Garten des Nachbarn. Da kam er auf den Geschmack und begann selbst, die Fläche um sein Haus zu bepflanzen. Wildblumen pflanzte er, weil diese stark genug seien, sowohl das harte Klima als auch seine schlechten Gartenkenntnisse überleben können. In seinem Buch «Mein Wildgarten» versammelt er Anekdoten aus seinem Gärtneralltag.

Meir Shalev mit Moderatorin Jennifer Khakshouri

Shalev berichtet von den Verwüstungen einer Blindmaus, die besonders gerne die Zwiebeln seiner liebsten Blumen angriff. Selbst für einen friedlichen Gärtner wird solch ein Gast zum Erzfeind, gegen den ein «totaler Krieg» begonnen werden muss. Nach etlichen gescheiterten Versuchen, das Tier zu ertränken, erschrecken, erschiessen oder zu erschlagen, hält Shalev jedoch inne. Er hat seine Zeit vergeudet, sich und der Umwelt geschadet. Warum und mit welcher Wirkung? Wer ist hier der Schädling? Heute pflanzt er seine wertvollsten Blumen in Töpfen und «verwaltet» den Konflikt mit der Blindmaus.

Es ist köstlich, diese und andere Anekdoten zu hören. Der Schauspieler Jaap Achterberg liest die Passagen zur hörbaren Freude des Publikums sehr anregend und dynamisch. Neben den gelesenen Passagen aus seinem Buch kommentiert Shalev seine Arbeit. Er spricht über seine Wildblumen und über die Tiere, die nachts aus dem angrenzenden Wildreservat seinen Garten besuchen. Das Gärtnern sei sein erstes richtiges Hobby geworden, erinnert sich Shalev.  Was hat das Schreiben mit dem Gärtnersein gemeinsam? Man brauche viel Geduld. Manche Samen, egal ob aus ihnen Blüten oder Geschichten kommen, müssen lange Zeit ruhen, um wachsen zu können.

Sein Buch «Mein Wildgarten» ist in Israel zum Bestseller geworden. Shalev vermutet dahinter auch religiöse Gründe. Denn sein Buch beschreibe den Garten als «einzigen normalen Ort in Israel». In einem Land, dessen Boden seit Jahrhunderten von drei Weltreligionen verehrt und umkämpft wird, biete der unspektakuläre und bescheidene Wildgarten einen beruhigenden Perspektivwechsel. Davon ist Shalev überzeugt. Gerade weil er nicht heilig ist, gerade weil niemand Besitzansprüche an sie stellt, werde die Erde seines Gartens zum Ort für neue Reflexion. «Jesus hat nie meinen Garten betreten.»

Shalev schlägt auch politische Töne an. Sowohl das Land, als auch der Autor werden im nächsten siebzig Jahre alt. «Wir sind beide siebzig, aber ich sehe besser aus.» Zum Geburtstag wünscht er dem Land vor allem eine bessere Regierung.

Enrico Ehmann, Julien Reimer


 

Zutritt verwehrt! Krieg und Vertreibung büssen auch im Comic nichts von ihrer Tragik ein

Welche Ironie: Olivier Kugler kann trotz deutschem Pass und englischem Wohnsitz nicht in die Schweiz einreisen. Für uns wirkt es wie Ironie, aber für die Menschen, die er porträtiert hat, ist es wohl eher Sarkasmus. Kugler halten meteorologische Gründe in England fest. Die Vernissage seines Erstlings findet ohne ihn statt. Der Verleger und zwei Mitarbeiterinnen von MSF füllen die Leere mit einem improvisierten Gespräch.

Im Auftrag von Médecins Sans Frontières (MSF) reiste Olivier Kugler nach Kurdistan, Griechenland und Frankreich, um syrische Flüchtlinge zu porträtieren und auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Auf der Basis von Fotos und übersetzten Gesprächen vor Ort entstanden in seinem Atelier in London gezeichnete Reportagen von Flüchtlingen, die genügend Vertrauen hatten, ihre Geschichte zu teilen. Die Zeichnungen stecken voller Details, die im Leben der Porträtierten von grosser Bedeutung sind: Hier eine Plastikblume, dort ein Spielzeug oder eine Packung Schokoladenkekse. Der Stil ist comichaft, der Text wird jedoch nicht von Sprechblasen eingerahmt und nimmt viel Platz ein. Kugler selbst nennt seinen Stil gezeichnete Reportagen oder Comicreportage.

Die meisten Geschichten handeln von dem, was zurückgelassen wurde: Angehörige, Besitz und Lebenspläne, aber auch von den umständlichen Fluchtwegen sowie den Beschwerlichkeiten des Lagerlebens. Viele syrischen Flüchtlinge sind Akademiker. Sie geben sich extrem Mühe, Haltung zu bewahren,  während sie ausserhalb der EU hin- und hergeschoben werden. Viele von ihnen wollen eigentlich gar nicht nach Europa.

Europa ist nicht unser Traumziel. Es ist nicht das Paradies… Es ist nicht der Himmel. Ich wäre lieber in Syrien, aber ohne Krieg. (Flüchtling in Calais, FR)

Nach Europa kommen diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben, heimkehren zu können. Oftmals werden sie zusätzlich von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie fortgegangen sind. Je weiter weg von ihrer Heimat Kugler die Flüchtlinge antrifft, desto weniger Vertrauen bringen sie ihm entgegen; sie sind schon lange auf der Flucht und unwillkommen.

Das zentralste Problem in den Lagern ist der fehlende Zugang zu den öffentlichen Gesundheitssystemen. Aus diesem Grund ermöglicht MSF insbesondere Hilfe für werdende Mütter und Personen mit chronischen Krankheiten. Eine zentrale Aufgabe ist die psychologische Betreuung. Viele trauen sich nicht, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Depressionen und Selbstmordgedanken sind aber weit verbreitet.

Olivier Kugler ist momentan nicht für MSF unterwegs. Er arbeitet jedoch an einem neuen Projekt in Kolumbien. Er will dort eine syrische Flüchtlingsfamilie porträtieren für den Strapazin, ein in Zürich beheimatetes Comicheft. Sein Buch Dem Krieg entronnen – Begegnungen mit Syrern auf der Flucht erschien erst auf Deutsch. Die Veröffentlichung auf Englisch und Französisch ist in Planung und soll durch Crowdfunding finanziert werden.

Kuglers engagierter Erstling zeigt Menschen, die einst ein ähnliches Leben geführt und ähnliche Ziele verfolgt haben wie durchschnittliche Europäer. Auf eine ansprechende Art rückt Kugler eine der brennendsten gesellschaftspolitischen Debatten in den Fokus. Er präsentiert keine Patentlösung, aber Geschichten, die von der ungeklärten Situation verursacht werden. Olivier Kugler berührt und fordert dazu auf bewusst hinzusehen. Die Freude an seinem Buch wiegt die Enttäuschung über seine Abwesenheit beinahe auf.

Knöcherne Lieder – Bunte Figuren

Noch vor wenigen Monaten haben wir uns nach Martina Clavadetschers Auftritt in Solothurn nach erklärenden Worten gesehnt. Es gab keine Fragen, nur ein hypnotisiertes Publikum, das verstört auf seinen Stühlen zurückgelassen wurde. Liess auch das verspätete Eintreffen der begleitenden Musikerin Isa Wiss dem Kulturhaus-Helferei die Gelegenheit, die Autorin der Knochenlieder vorweg für ein kurzes Interview in Anspruch zu nehmen – aus der Höhle locken liess sich das Ungetüm nicht, das so mancher hinter besagten Gesängen schlummern glaubt. Das Auditorium musste sich mit einer klanglosen Inhaltsangabe eines vorwiegend melodiösen Textes und einer weiteren Frage zum Städtchen Brunnen SZ abfinden – das ist nicht unbedingt das, was uns an diesem Text die Haare zu Berge stehen lässt.

Umso schlagender trifft die Performance. Knöchern ächzt ein unsauber angestrichenes Cello, schallt rustikal angestimmter Gesang durch kahl geschnittene Texte, in denen urzeitliche Beständigkeit und postmoderner Zerfall zusammenprallen. Anadiplosen, Paronomasien, Alliterationen und Diaphern führen durch einen archaisch wuchernden Garten rhetorischer Simplizität. «Wortwiederholung wird zum Weg über die Wiese»; «einfallslose Form folgt hier einfallsloser Form» (den find‘ ich besonders hübsch). Und als geschehe es beiläufig, klingen, weitaus häufiger als man es dem Zufall zutrauen will, hie und da ein altes äolisches Kolon oder anhaltende alternierende Passagen aus den Liedern auf.

Bereits das Manuskript der Knochenlieder gewann im Vorjahr den Literaturpreis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung; das Buch wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Auftakt zu «Zürich liest»

«Wir könnten eigentlich ein ganzjähriges Festival ausrufen.» So beginnt Stephanie von Harrach vom Ressort Literatur der Stadt Zürich die Eröffnungsveranstaltung. Denn Zürich liest, schreibt, übersetzt, verlegt, illustriert, vermittelt, berät und verkauft, rezensiert und stellt aus. Und die Akteure, die genau das machen, haben sich am Mittwochabend im Kaufleuten eingefunden. So befanden sich im Publikum unter anderem Gesa Schneider (Literaturhaus Zürich), Corina Freudiger (Kaufleuten Literatur), Dani Landolf (Geschäftsführer Schweizer Buchhändler- und Verleger-Verband), Esther Schneider (SRF) und Anica Jonas (Dörlemann Verlag). Moderiert wurde der Abend von der Kulturmoderatorin Monika Schärer.

Violanta von Salis, Janka Wüest und Martin Walker von der Festivalleitung mit Moderatorin Monika Schärer

Die Eröffnungsrede zur siebten Ausgabe des Festivals hielt der Regisseur, Autor und Essayist Milo Rau. Unter dem diesjährigen Festivalmotto «Figuren und Fakten» sprach er über l’art pour l’art und politisches Erzählen. Nach Peter Stamms Aufruf zur Zweckfreiheit von Literatur und Jonas Lüschers Relativierung in den Eröffnungsreden der beiden letzten Jahre, verhält sich Rau neutral und gibt beiden Recht. Rau plädiert für die Komplexität von Texten und Kunst an sich: «Ein engagierter Künstler ist ein Mensch, der einen Raum öffnet, wo Dinge passieren, die er selbst nicht mehr unter Kontrolle hat.» Für seine Film- und Theaterprojekte unternimmt Rau ausgedehnte Recherche-Reisen, führt lange Gespräche und guckt, was auf ihn zukommt. «Ich sehe mich oft als Müllsammler», sagt Rau über seine Arbeitsweise. Das gesammelte Material selbst dient ihm meist nicht als Gegenstand für Bücher und Theaterstücke, sondern nur als Anstoss für eine fiktionale Umsetzung. In ähnlicher Weise verfährt er mit seinem Publikum und sagt: «Guck mal, was dir das gibt.»

Mit einem letzten Stück entlässt die Cellistin und Sängerin Fatima Dunn das Publikum in den Abend und in ein dichtes Festivalprogramm. Denn, wie es Stephanie von Harrach sagt: «Wir kommen nicht zum Schlafen, weil Zürich liest.»

Fabian Hermann, Carla Peca, Theresa Pyritz, Julien Reimer

«Zürich liest» – Auftakt im Kaufleuten

Die «Zürich liest»-Empfehlungen der Auftakt-Gäste:

  • Stefanie von Harrach: «Nora Gomringer liest Dorothy Parker» im Odeon, Sa 28.10, 10:30 Uhr
  • Violanta von Salis: «AJAR – zweisprachige Performance des Autorenkollektivs» im Cabaret Voltaire, Sa 28.10, 17:30 Uhr
  • Martin Walker: «Politik der Bewegung – Florian Inhauser diskutiert mit Bruno Ziauddin und Martin R. Dean über Flucht und Migration» im Karl der Grosse, Sa 28.10, 20:30 Uhr
  • Janka Wüest: «Schifffart mit Birgit Vanderbeke – Wer dann noch lachen kann» im Theatersteg, So 29.10, 14:00 Uhr
  • Milo Rau: «Dichter-Duett: Franzobel im Gespräch mit Robert Schneider» im Karl der Grosse, Sa 28.10, 18:30 Uhr
  • Fatima Dunn: «Buchpremiere: Gion Mathias Cavelty – Der Tag an dem es 499 Franz Klammers regnete» im Kosmos, Do 26.10, 20:00 Uhr

Für uns bei «Zürich liest»:
Meret Mendelin

Um ihr Studienfach Kulturanalyse so richtig auszuleben, arbeitet Meret Mendelin an der Abendkasse eines Theaters und als Praktikantin in einem Kino. Nun möchte sie auch noch ihrem Nebenfach Germanistik die Ehre erweisen und taucht bei «Zürich liest» auf verschiedenste Arten in die Literaturwelt ein: Spazierend auf den Spuren Robert Walsers, einer nicht umerziehbaren Frau lauschend im Sogar Theater und im Tram fahrend mit dem Alt-Achtundsechziger Willi Wottreng. Besonders gespannt ist sie ausserdem darauf, weshalb Eveline Hasler nur noch Engelsgeschichten und Charles Lewinsky auf einmal Krimis schreibt.

Für uns bei «Zürich liest»:
Pia Weidmann

Pia Weidmann durfte an den Literaturtagen in Solothurn bereits erste Erfahrungen als Bloggerin sammeln.

Diesen Oktober liegt ihr Fokus auf den Kriegsopfern und den vom Leben weniger Begünstigten.  Sei es aktuelle Zeitgeschichte wie in Olivier Kuglers Comicreportage, sei es eine literarisch wiederbelebte Vergangenheit wie bei der Zufluchtbietenden Rose Näf oder dem versuchten Widerstand von Patricia Litten – die vom Krieg und der Geschichte geprägten Menschen sind es, denen Pia Weidmann am diesjährigen Zürich liest nachgeht.

Pia Weidmann studiert Germanistik und Romanistik in Zürich und arbeitet neben dem Studium in einer Stiftung für Gehörlose.