Fest des Sinnlichen

Die algerische Küste, der Geruch von Meersalz in der Luft und ein brausendes Meer, das in rhythmischer Gleichmässigkeit an den Felsen zerschellt. In der aufgebrachten See spiegelt die Sonne wie in tausendfachen Scherben wieder. Es blendet.

Michel Voïta kneift im grellen Scheinwerferlicht die Augen zusammen und blickt auf einen imaginären Punkt über dem im Dunkeln sitzenden Publikum. Als stünde er am Rand dieser Küste und schaute hinaus auf das tosende Meer, durchfährt es ihn: quelle splendeurs du monde!

Mit einem Mal befinden wir uns nicht mehr in dem komplett in Schwarz gehaltenen Saal im Theater Neumarkt, sondern in der grell-blendenden Welt Albert Camus‘. In einer faszinierenden, szenischen Darbietung beschwört der Waadtländer Schauspieler Michel Voïta die Stimme des grossen Existenzialisten des 20. Jahrhunderts herauf. Die Texte, derer er sich dabei bedient, sind die autobiographischen Essaysammlungen Noces (dt. Titel: Hochzeit des Lichts) und L‘été, die in einer gewaltigen lyrischen Sprache der Absurdität unseres Daseins die Schönheit dieser Welt gegenüberstellt.

Es ist ein Fest des Sinnlichen, das in der Beschreibung einer algerischen Küstenstadt im Frühling in Versen gefeiert wird. Fast überschlägt sich Voïtas Stimme an der hyperbolischen Sprache, und immer wieder endet ein Satz in einem dramatischen Ausruf: les femmes! la mer! la nature! le désir de vivre!! Als versuchten sie die Schönheit dieser Welt auf ihrem Höhepunkt für immer zu bewahren und in Worte zu bannen. Das lyrische Ich nämlich weiss um die Vergänglichkeit und seinen eigenen Tod, der ewigen Dunkelheit danach und beschliesst sich gerade deshalb zu einer radikal gegenwärtigen Lebensweise. Camus schrieb Noces bereits 1938 im zarten Alter von 23 Jahren und die Zeilen zeugen bereits von seiner später so populär gewordenen existenzialistischen Philosophie als einer Philosophie des Absurden. Bei Camus ist das menschliche Leben von fundamentaler Sinnlosigkeit, aber le monde est beau – und das Leben trotz allem lebenswert, ja glücklich. Damit bricht er gleichwohl mit der christlichen Weltanschauung und folgt Friedrich Nietzsche in der häretischen Annahme, dass genau wie das Leben der Tod sinnlos ist und nach dem Tod nichts auf uns wartet.

Michel Voïta vermittelt die Tragik dieser Worte, offenbart auch die politische Subversion, die in ihnen mitschwingt, der Aufruf zur inneren Revolte, dieses Leben zu leben trotz ihrer Absurdität. Und so schliesst Voïta mit den Worten: Au milieu de l’hiver, j’apprends enfin qu’il y avait en moi un été invincible.

 

Zürich liest hin und wieder auch französisch. Mit dem welschen Schrifstellerkollektiv AJAR, der senegalesischen Schriftstellerin Mariètou Mbaye Biléoma, die unter dem Pseudonym Ken Bugul schreibt, und dem Comédien und Schauspieler Michel Voïta vertreten dieses Jahr drei Veranstaltungen die zweite Landessprache.

Eine angeklagte Kröte, eine Kiste voll Sinnlosigkeit und die kleinste Mundharmonika der Welt

Was nach dem Inventar eines Kuriositätenkabinetts klingt, ist tatsächlich die gestrige Benefiz-Veranstaltung im Zürcher Tanzhaus in a nutshell. Vier ungleiche Autoren – Rolf Lappert, Henriette Vásárhelyi, Daniel Illger und Peter Weber – lasen im Tanzhaus  aus ihren Romanen und noch in Arbeit befindlichen Manuskripten. Der Erlös der von Dana Grigorcea und Gunda Zeeb monatlich veranstalten Leseabende geht zur Gänze an die Schweizer Soforthilfe in Flüchtlingscamps am Mittelmeer. Der Zweck einigte in diesem Fall die Mittlerinnen und Mittler, die unterschiedlicher eigentlich nicht hätten sein können.

Die Kiste fand sich in Henriette Vasarhelyis neuem Roman Seit ich fort bin. Im Roman geht es um den Verlust eines geliebten Menschen und das Ansammeln, Archivieren und Anschreiben gegen das Vergessen. In einem Karton bewahrt Anis den ganzen Staub der Wohnung, in der sie selbst noch bis vor kurzem mit ihrer nun verstorbenen Mutter gelebt hatte. Die Ich-Erzählerin sieht «Flusen, Fussel, Krümel und Körner“, Anis hingegen eine versteckte, verschlüsselte Botschaft der Mutter, die sonst nichts zurückliess, «keinen Brief, keine Notiz – keine Erleichterung».

In Rolf Lapperts Lesung muss sich eine Kröte vor einem vierköpfigen Kindergericht verantworten. Sein noch im Entstehen begriffenes Buch Leben ist ein unregelmässiges Verb strickt die Geschichte von vier Geschwistern, die in einer Kommune aufwachsen. Überzeugt von der gefährlichen Ideologie der Gesellschaft, beschliessen die Eltern, ihre Söhne und ihre Tochter davon zu bewahren. Die «Winnipegs» wachsen auf einem abgelegenen Bauernhof auf, werden zuhause unterrichtet und lernen, bis zum Einschreiten der Behörden Jahre später, keine anderen Kinder kennen. Zwischen kindlich-naiver Glückseligkeit ahnen sie doch ihre beschränkte Freiheit. In der gelesenen Passage spielen sie draussen auf dem Feld, um der Langeweile zu entrinnen. Die dunkle, feuchte Haut und Warzen einer Kröte sind in ihren Augen Indizien eines Lebens in der Verborgenheit, doch auf diese Anklage reagiert die Kröte freilich nicht. Die Richter werden selbst zu Henkern.

Die kleinste Mundharmonika der Welt schliesslich brachte Peter Weber zur Freude der Zuhörerinnen und Zuhörer nicht nur erzählerisch mit: Seine humorvollen Texte über Zürich und über die Musik interludierte er gleich selbst mit dem Mini-Instrument. Dazwischen veranstaltete er so etwas wie ein Wortdomino, bei dem Doppel- und Kofferworte den Text kurzerhand in ein völlig neues Bedeutungsfeld überführten. So wird etwa die Schaltstelle im Hirn, die gleichermassen für Sprache wie für Musik verantwortlich ist, von einem Hirnforscher als kirschgross beschrieben, wobei die Äste zwischen den Hemisphären bei regelmässigem Praktizieren zu regelrechten Baumstämmen erwachsen können. Während sich dieser weiter über die Verwandtschaft von Sprache und Musik auslässt, sinniert der Gesprächspartner über Kirschbäume, bis schliesslich aller «Sinn in Klang zergeht» und noch ein letztes Mal die Mundharmonika erklingt.

Nicht so recht in die Reihe des unerwartet Kuriosen passen wollte ausgerechnet der Fantasy-Roman Daniel Illgers. Im Gegensatz zu den anderen Romanen schien dieser geradezu mimetisch real, wenn er von zwei flüchtende Schwestern erzählt, die etwas sehr melodramatisch erkennen müssen, dass «Hunger und Not nicht vor der Strafe des Diebstahls retten».

Den Einblick in vier so unterschiedliche Werke konnte man im Anschluss bei einer Schüssel selbstgemachter Suppe diskutieren, denn wie die veranstaltende Autorin Dana Grigorcea betonte, soll der «Lesesalon» ein Ort des Austausches sein.

 

Für uns bei «Zürich liest»:
Salomé Meier

Als Bloggerin für das Buchjahr an den Solothurner Literaturtagen hat sich Salomé Meier für Zürich liest bereits den Veteraninnenstatus verdient. Diesen Herbst interessiert sie sich für literarische Einblicke in die Ferne durch das Guckglas berühmter Schriftstellerinnen und Schriftsteller: Mit Rilke teilt sie die Faszination Russland, deren Inspiration in Tagebüchern, Dokumenten und Bildern im Strauhof ausgestellt wird; im Theater Neumarkt ist sie gespannt auf Michel Voïtas Inszenierung von Albert Camus‘ Algerien-Ästhetik und mit dem Porträt der Schweizer Journalistin und Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach reist sie mal eben an die «äussersten Flüsse des Paradieses». Was fasziniert an der Fremde und weshalb ist sie immer wieder Quell und Schauplatz literarischer Werke? Diesen Fragen geht sie im Blog nach.

Salomé Meier studiert Germanistik und Kulturanalyse und lebt in Zürich.