Geschichten im Schwarzen Raum – Michael Fehr erzählt in der Blinden Kuh

Ein nebliger Sonntagmorgen, die Sinne schlaftrunken – zusammen mit Michelle und Seraphin betrete ich die «Blinde Kuh». Mäntel und Taschen werden eingeschlossen, Notizbuch und Handy abgenommen: festhalten, schreiben und fotografieren, das geht hier nicht – wir werden zu «richtigen» Zuhörerinnen. Obgleich die Dunkelheit der Nacht noch nicht weit zurückliegt, brauchen die Augen Zeit, um sich an das Schwarz zu gewöhnen. Um die süsse Erinnerung an den Schlaf zu bannen, bestelle ich mir einen Kaffee. Irgendwann erlangen die Hände eine Ahnung für den Raum.

Michael Fehr streckt nach eigenen Angaben am Schluss der Geschichte „Welch Einfall“ die Hände weit aus

Das Restaurant füllt sich, lebhafte Gespräche und das Klirren und Klappern der Teller und Gläser erinnern an eine normale Beiz. Die Dunkelheit ist nun nicht mehr beengende Abwesenheit, sondern schärft die Sinne für anderes, auch für Michael Fehrs Stimme, die alsbald den Raum einnehmen wird. Die Süppchen sind leer und die Häppchen weg, als der Lyriker uns mitteilt, dass seine erste Geschichte von Essen handle. Er erzählt von der Königin im Wald, von einer Schlange, die einen alten Mann verspeisen möchte, um ihre stattliche Postur zu bewahren. Sie prahlt ausufernd mit ihrer Schönheit, Grösse und Stärke, die so weit reiche, dass ein Stein von ihrem Biss zu bluten beginne. Der alte Mann verliert ob dieser Selbstinszenierung die Furcht und wagt es, sich von der Schlange zu entfernen. Das Publikum bleibt ratlos zurück, und Michael Fehr verkündet: «So ist die Geschichte fertig».

Er wolle bewusst offen lassen, ob die Schlange lüge oder die Geschichte ein Märchen sei, in der Steine zerbissen werden können. Darin liege gerade das Potential einer Erzählung: die Zuhörer in einem Schwebezustand zu belassen, der Vieldeutigkeit, nicht aber Beliebigkeit bedeute. Denn beliebig ist keine der Geschichten, die uns Michael Fehr an diesem Morgen erzählt. Ihre Sinnkonstruktionen entstehen zwar nicht durch das Abrufen bekannter Muster, aber durch Farben, Bilder, Klänge und Rhythmen.

Um das Publikum zu schonen, habe er mit einer «leichten» Geschichte begonnen, denn andere Texte erzählten expliziter von Gewalt. Ironisierende Distanz zu schaffen, wie er es sich sonst gewöhnt sei – durch Mimik und Gestik seiner zierlichen Statur – gelinge heute nicht. Im Dunkeln sind wir den Worten viel direkter, beinahe schonungslos ausgeliefert.

Doch die «Blindheit» öffnet vielleicht auch einen neuen Zugang zum Raum der Fantasie, für den der Lyriker an diesem Morgen plädiert. Das «westliche Schreiben» sei geprägt vom Psychologisieren und knüpfe an seine Tradition an. Aber vielleicht liege gerade im Mut, sich Neues auszudenken und zu schaffen und dabei das Anknüpfende, Erklärende in den Hintergrund zu rücken, eine wirkliche Kraft. «Ich war schon alt, als ich zu schreiben begann. Ich hatte keinen klaren Platz», sagt Michael Fehr. Durch das Erzählen, vielleicht auch sich selbst erzählen, kann man sich einen Platz schaffen, in Momenten wo man ihn nicht noch zu kennen meint. So brauche es oftmals nur einen kleinen Schritt, um sich zu lösen. Doch liege es in der Natur des Menschen, dass man diesen oft nicht gehen könne – wie der Protagonist in der Erzählung Im Schwarm, der in einer Sommernacht von Mücken zerstochen wird und es nicht schafft, sich aus dem Licht zu begeben.

Als ich die «Blinde Kuh» verlasse, fordert die grelle Sonne eine zweite Gewöhnung, doch die aus Dunkelheit geschaffenen Bilder vertreibt sie nicht. Und mir wird bewusst, dass es weder Stift noch Kamera braucht, um einen Zugang zu gewinnen. In erinnere mich an einen Satz von Kafka: «Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen», sagte Janouch, und Kafka erwiderte: «Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschliessen.»

Sci-Fi trifft auf Phantastik im Sachbuchverlag

Autorenkollektive scheinen im Trend zu sein. Mit »AJAR« und »Gravity Assist« sind gleich zwei bei »Zürich liest’17« vertreten. Doch was kommt dabei heraus, wenn ein Unternehmensberater gemeinsam mit einem Account-Manager, einer Psychologin, einem Augenarzt und einer Kommunikationsspezialistin ein Buch schreibt, das diese »selber gerne lesen würden«? Eine Antwort darauf bietet der Debütroman des Autorenkollektivs »Gravity Assist«.

Zu hören waren sie an der Alderstrasse 21, dem Verlagssitz von rüffer & rub. »Seit 17 Jahren machen wir hier tolle Bücher.« Damit eröffnet ihre Verlegerin Anne Rüffer den Anlass. Zunächst thematisiert sie mit den Beteiligten den Entstehungsprozess der »Schwarzen Harfe« – so der Titel des Romans. Mit Nachdruck würdigt sie den 18-monatigen Entstehungsprozess und ruft zum Applaus auf. Der Hauptautor Stefan Bommeli offenbart im Gespräch, er habe schon immer den Wunsch gehegt einen phantastischen Roman zu schreiben. Im Schreibprozess hat er allerdings gemerkt, dass er für sein ehrgeiziges Projekt Unterstützung benötigen würde. Kontinuierlich hat sich Bommeli so Menschen und Kompetenzen an Bord seiner Raumfähre geholt. Zuerst den Freund aus Studientagen, dann die Ehefrau, den Schwager und eine weitere Vertraute. Es sei eh immer um den Roman gegangen, meint Berenice Bommeli. Da habe sie immerhin mitbestimmen wollen.

Die Autoren betonen das Gewicht einer einheitlichen Logik, stimmiger Psychologie und der Anschlussfähigkeit an unsere Welt und sind zuversichtlich, diesen Ansprüchen in ihrem Buch gerecht geworden zu sein. Rüffer gar lässt diesbezüglich keine Zweifel gelten. In der Auseinandersetzung mit dem rot-weiss gestreiften Untier namens »Kupran« offenbart das Kollektiv jedenfalls Phantasiereichtum. Im Gespräch berichten die Debütierenden von ihrer jeweiligen Lieblingsfigur, mit der sie sich stark identifizieren. Sie bezeichnen diese teilweise sogar als ihr »alter Ego«. Das Genre in dem sie schreiben, scheint also Tendenzen in Richtung Auto-Science-Fiction aufzuweisen. Zudem wirken auch tatsächlich romantische Motive hinein. Vielleicht hilft dabei ja der Umstand, dass einer der Koautoren ein Hoffmann im Doppelnamen führt. Als solches phantastisch-romantisches Element erscheinen im Roman metaphysische Träume und die brüchige Grenze zwischen Sinn und Wahn wird neu verhandelt. Die Verbandlung der oft gegeneinander ausgespielten Genren Sci-Fi und Phantastik scheint mithin das grösste Potential für wirklich Neues zu bieten – so die Hybridisierung denn gelingt!

Vergegenwärtigt man sich nochmals, dass Rüffer & Rub eigentlich Sachbücher macht, lassen sich die eingebauten Auszüge aus dem fiktiven »Illban-Allmanach« fast schon als wissenschaftssatirischen Impetus lesen. Vieles im Roman erinnert an bekannte Geschichten der Reverenzgenren. So gibt es etwa auch in der »Schwarzen Harfe« eine Spezies mit zurückgefahrenen Emotionen oder gar eine (Ring-)Handelsföderartion. Im Gespräch zeigt sich Stefan Bommeli bescheiden. Er ist sich bewusst, dass Frank Herberts »Dune«-Reihe, die er bewundert, einen sehr hohen Referenzpunkt abgibt und es anmassend wäre, den eigenen Roman in eine Linie damit zu stellen. Die Verlegerin hingegen verspricht sehr viel und legt dem Publikum das Buch demonstrativ nahe. Ob der Roman über die Standards eines epigonenhaften Machwerks hinausreicht, wird sich mit Beginn der Lektüre zeigen.

«Ich suche immer den Abgrund»

Es ist ein minimalistischer grauer Saal, in dem sich das Publikum am Samstagabend im Landesmuseum versammelt, um mehr über Chris Kraus‘ zweiten Roman «Das kalte Blut» zu erfahren. Unter der Moderation von Philipp Theisohn gibt Kraus Einblicke in das umfangreiche Werk. Auf mehr als 1000 Seiten wird die Geschichte der Rigaer Brüder Hubert und Konstantin geschildert, die zunächst im nationalsozialistischen Deutschland und später beim deutschen Bundesnachrichtendienst Karriere machen. «Mein eigentlicher Anspruch war, die Geschichte des Bundesnachrichtendienstes zu erzählen», erklärt Kraus.

Für den Roman habe er sich dabei stark an der eigenen Familiengeschichte orientiert. Kraus, dessen Grossvater beim Geheimdienst arbeitete, will hinter die Fassade blicken: «Was sind das für Menschen?» Daher konstruiert er seine Romancharaktere als ambivalente Figuren, die mal Opfer, mal Täter sind. «Ich suche hinter den Figuren immer die Abgründe.»

Vordergründig gibt sich das Buch als Agentenroman aus. Tatsächlich dreht es sich aber um alle möglichen Versionen der Täuschung und geht der Frage nach, wie Vertrauen zerstört wird. Natürlich folgt die Verdichtung der Lebensläufe den Regeln der Fiktion, aber «alle Situationen, die im Buch beschrieben werden, sind mehr oder weniger so passiert», versichert Kraus.

Manchmal fällt es gleichwohl schwer, dem Autor in sein Romanuniversum zu folgen. Kraus kennt sich mit seiner Materie aus, aber das Publikum verliert hin und wieder den Faden, wenn er ambitioniert historische und familiäre Zusammenhänge zu erklären versucht. Den Kopf schwer von Gedanken verlässt man im Anschluss an die Lesung den Saal.

Mut zu Wahrheit und Tat – ein Portrait und Aufruf

Franziska Greising, die am Samstagabend in der Buchhandlung Beer zu Gast war, schreibt am liebsten über grosse Frauengestalten. So handelt ihr letztes Buch vom Leben Rösli (Rose) Näfs, oder, genauer gesagt: von vier Jahren dieses Lebens.

Rose kam ursprünglich aus dem Glarnerland. Da ihre Eltern wenig Geld hatten, verdingte sie sich als Aupair in Lugano, London und Genf und lernte so nebenbei Fremdsprachen. Als sie einen Bericht der SAG über die Judenverfolgung in Deutschland und Frankreich las, meldete sie sich sogleich zum Freiwilligendienst und wurde Leiterin eines Heimes mit 100 jüdischen Flüchtlingskindern im Süden Frankreichs. Als beinahe die Hälfte der Kinder, alle über 16 Jahre, verhaftet und ins Internierungslager nach Le Vernet gebracht wurden, war sie die einzige Fürsprecherin der Kinder. Das Rote Kreuz, als Organisation der das Kinderheim angehörte, und die Schweiz versagten ihr jegliche Un

Franziska Greising im Gespräch

terstützung. Da sie das Vertrauen in ihre Arbeitgeber verloren hatte, widersetzte sie sich deren Anweisungen und suchte Hilfe bei der Résistance. Der Polizeiminister von Vichy half ihr, die Kinder in letzter Minute aus dem Lager zu befreien. In Nacht- und Nebelaktionen und grüppchenweise schickte sie die Kinder in Richtung Genf. Die meisten von ihnen konnten die Grenze überqueren und fanden Zuflucht bei den von der SAG vermittelten Patenschaften. Viele von ihnen reisten weiter nach (damals) Palästina oder Amerika. Unter denjenigen, welche die traumatischen Erlebnisse verarbeiten konnten, nahmen sich nicht wenige jedoch später das Leben.

Greisings Buch widmet sich ganz dem eindrücklichen Mut und der aufopfernden Handlungsweise Rose Näfs. Wenn ihr Schreibstil sich auch sehr detailreich und dadurch auch etwas langatmig ausnimmt, so sorgte die Grundthematik jedoch für eine fesselnde Lesung, was durch die sich anschliessende lebhafte Frage- und Austauschrunde dokumentiert wurde. Viele Besucher konnten an Erzählungen ihrer Grosseltern anknüpfen; insbesondere die Rolle des Roten Kreuzes und der offiziellen Schweiz gab Anlass zu Diskussionen, aber auch der Aktivdienst an der Grenze für alle wehrtauglichen Männer.

Vieles von dem, was heute anklang, ist noch nicht aufgearbeitet und richtiggestellt, wird tabuisiert und totgeschwiegen, obgleich die Spuren der Schuld und die Traumata heute immer noch sichtbar sind. Dank Autorinnen wie Franziska Greising bleiben diese Missstände als solche jedoch in der Debatte. Bleibt zu hoffen, dass die Schweiz ebenfalls Mut zeigt und Verantwortung für ihre vergangenen, oder eben unterlassenen Taten übernimmt.

Die erfundene Minderheit

Wo geht’s denn hier zum Literaturhaus? «Nie gehört. Aber ich finde es schön, dass es so etwas gibt.» Na das finde ich doch auch, und schliesslich auch in die Lesung von Sten Nadolny. Als «nicht nur Autor der Entdeckung der Langsamkeit», stellt Christine Lötscher den stattlichen älteren Herrn vor, der ins ebenfalls stattliche ältere Publikum zwinkert. Nadolny – das sei einer, der in seinem Werk konsequent die Spielarten des Unmöglichen erkunde, und auch in seinem aktuellen Briefroman Das Glück des Zauberers verkleide sich in verspielten Konstruktionen ein Plädoyer für Fantasie. Um missliebigen Interpretationen vorzugreifen, etwa als literarische Antwort auf Harry Potter, setzt der Autor hinzu: Seine Zauberer seien als erfundene Minderheit zu verstehen, deren Perspektive die distanzierte und analytische Erzählung mancher Kerngeschehnisse des 20. Jahrhunderts ermögliche. Bevor er anfängt zu lesen, wünscht er dem Publikum, es möge nicht unter seinem Husten leiden. «Ich leide überhaupt nicht, ich hab ja meinen Text», versichert er so verschnupft wie vergnügt.

Und von was erzählt dieser Text nun? Zauberer Paroc, 106 Jahre alt, schreibt Briefe an seine kleine Enkelin, die ihr magisches Erbe soeben angetreten hat, indem sie mit verlängertem Ärmchen dem Grosspapa die Brille von der Nase wischt. Was die Briefe enthalten, ist eine plauderlustige Melange aus eigenem Lebenslauf als Sohn einer Indianerin und eines Berliner Tanzschulbetreibers, Kommentaren zu politischen Umwälzungen und kulturellen Neuerungen aus Sicht der Zaubergemeinschaft sowie Unterweisung in den magischen Künsten, wozu in weiterem Sinne auch die Liebe gehört. Nützlich werden diese Fähigkeiten etwa beim schriftlichen Griechisch-Abitur, aber auch Gedankenlesen, Fliegen oder Gestaltwechseln kann Paroc, und mit über vierzig Jahren lernt er eine spezielle Art des Zauberns schätzen: «im Nu Geld zu machen».

Verblüffend sind vor allem die fliegenden Wechsel zwischen humoristischem Fabulieren und Passagen, die im Betroffenheitsmodus daherziehen, vorzugsweise wenn Paroc vor der Jahrhundertmitte in die Gesellschaft wutgeladener Männer gerät, die von der «Schmach der Väter», Gleichschaltung und Endsieg faseln. Nur an der Front ist Paroc letztlich sicher vor Spitzeln. «Das habe ich deswegen gemacht, damit alles, was es an Schrecklichem im 20. Jhd. gab, tatsächlich vorkommt.» Und tatsächlich erschöpfen sich die tiefgreifenden Kriegsereignisse auch in ihrer Eigenschaft als Vorkommnis; Nadolnys Schilderung entbehrt der erschütternden Tragikomik eines Hašek – sein Paroc ist kein braver Soldat Schwejk. Vorgetragen wird das alles mit der gemütlich-markanten Stimme eines Käpt’n Blaubärs, die, bedächtig und gleichmütig, auch während Sentenzen wie «Wer aus Liebe schummelt, liebt wirklich» oder «Bleibe frech und nach Möglichkeit amüsiert» auf Tiefsinn pocht.

Paroc als Figur verbandelt fidelen Humor und schmerzlichen Ernst zu einem seltsam kompakten Weltbild, dessen schlichte Parameter die Willkür als zivilisatorische Errungenschaft heiligen – da hat die Vorliebe für Bach spontan universale Bedeutsamkeit, frei nach Pep Guardiola: «Bach oder nix!» Paroc bleibt dabei stets und selbstverständlich auf der Seite des Guten: Im Zweiten Weltkrieg bedroht und verfolgt, kümmert er sich später um ungarische Refugees oder fungiert als Fluchthelfer in der DDR.

Heute abend wird man von jeglicher Anstrengung entbunden. Fragen, die man sich als artige Germanistin verkneift, etwa nach autobiographischen Zügen des Ich-Erzählers, werden einem von Loetscher flugs abgenommen. Paroc habe viele Dinge nicht verstanden, so Nadolny, und zufälligerweise seien es genau die von ihm selbst nie verstandenen. «Das macht das Buch sicher interessant», folgert er trocken. Zaubern als Parabel auf das Schreiben? Auch in diesem Punkt müssen wir nicht lange mutmassen. Nein, Zauberer als geistig bewegliche Menschen, und somit bekanntlich immer in der Minderheit, sollen Geheimnisse haben dürfen, unbehelligt von Überwachung und staatlicher Überregulierung. Das Gefühl, den grossen Zusammenhängen auf der Spur zu sein, so der Autor, treibe diese intelligenten, kreativen und einfallsreichen Individuen an. Das Schmunzeln der Zuschauer legt nahe, dass sie sich nur allzu gerne als solche verstehen.

«Merci, Herr Honegger, aber Zürich ist leider schon übermöbliert»

Freundschaft ist für Gottfried Honegger, wenn man sich geistig nackt gegenübersteht. Das verrät er Ruedi Christen in einem Interview. Als wirklichen Freund nannte er einzig Max Frisch. Ob Christen diesen Status bei Honegger ebenfalls erreichen konnte, war für ihn bis zum Ende nicht ganz klar. Seit 1993 führte Christen mit diesem zahlreiche Gespräche und Interviews und veröffentlichte im September dieses Jahres «Eine Biographie in Gesprächen» über den Künstler und Grafiker. Das Buch wäre pünktlich zu dessen 100. Geburtstag erschienen, wäre Honegger nicht im Januar 2016 verstorben.

Christen hat vieles zu erzählen über Gottfried Honegger, den international bekannten Vertreter der Konkreten Kunst mit Zürcher Wurzeln. Er holte die Gruppe der «Zürich liest»-Gäste beim Karl der Grosse ab und führte sie 200 Meter weiter zur Kirchgasse 50. Kurz nach dem Krieg ist Honegger mit seiner Frau Warja Lavater und ihren zwei Töchtern in das Haus des Deutschen Generalkonsulats eingezogen. Sie bewohnten eine wunderschöne grosse Wohnung und führten im selben Haus ein Grafik-Atelier mit zwei Angestellten. Honegger und Lavater kannten sich aus ihrer Zeit beim Basler Grafiker Hermann Eidenbenz. Sie waren zuerst Geschäftspartner und wurden dann ein Liebespaar. Christen erzählte, dass Lavater und Honegger sich aus eher praktischen Gründen für eine Heirat entschieden haben. Während des Krieges wurde der Briefverkehr auf Ehepartner beschränkt. Da die beiden auch während Honeggers Zeit im Militär in Kontakt bleiben wollten, heirateten sie kurzentschlossen. An einem ganz normalen Tag, am Morgen noch gearbeitet, ging es am Nachmittag schnell zum Standesamt.

Ruedi Christen

Honegger war mittlerweile ein erfolgreicher Grafiker und Ausstellungsmacher geworden. Er hatte sich abgefunden, dass er sein Geld als Werbegrafiker verdiente. Bis zu dem Tag im Juni 1958, der einige Veränderungen mit sich brachte. Er realisierte, dass er niemals Maler würde, wenn er nicht sofort sein Atelier und seine Anstellung kündigte und auch als Künstler lebte. Noch am gleichen Tag setzte er sein Kündigungsschreiben auf und stellte seine Angestellten frei. Ihren Lohn erhielten diese weiterhin regelmässig bis zum Ende des Jahres. Es war ein Schock für die Familie. Honegger verkaufte alle teuren Möbel, selbst das Spielzeug der Kinder. Sie zogen in eine bescheidenere 3-Zimmerwohnung an der Feldeggstrasse. Nicht nur seine Familie reagierte mit Unverständnis, auch seine ehemaligen Arbeitskollegen und Freunde. Viele Freundschaften gingen in dieser Zeit zu Bruch.

Das ehemalige Restaurant Schifflände

Christen führte seine spazierenden Zuhörer wieder zurück, am «Karl der Grosse» vorbei, zum Hechtplatz, dem zweiten wichtigen Schauplatz. Dort befindet sich am Eck das ehemalige Restaurant Schifflände, in welchem sich damals der von Honegger ins Leben gerufenen «Club zur Schifflände» eingenistet hatte. Der Club entstand aus dem Bedürfnis, einen Ort für die Intellektuellen der Stadt zu schaffen, die sich nach dem Krieg aus den Augen verloren hatten. Es gab sie bereits, die Treffpunkte der Intelligenzija: das Odeon, das Terrasse, die Kronenhalle. Der «Club zur Schifflände» wollte aber noch exklusiver sein. Jedes Mitglied musste einstimmig angenommen werden und bezahlte einen Mitgliederbeitrag von 1’000 Franken. Zu den ausgewählten Mitgliedern gehörten u.a. Max Frisch, Paul Lose, Arnold Kübler, Emil Oprecht und Friedrich Dürrenmatt. Besonders betonte Christen die Rolle des Professors Etienne Grandjean, der die Verbindung zur ETH herstellte. Honegger war es wichtig für einen reichhaltigen Austausch nicht nur Künstler, sondern auch Forscher unter den Mitgliedern zu haben.

Seine künstlerische Leistung wurde 1987 mit dem Zürcher Kunstpreis ausgezeichnet. Zum Dank wollte Honegger der Stadt eine Skulptur schenken. Diese lehnte das grosszügige Geschenk ab mit der Begründung, die Stadt sei bereits übermöbliert. Dass er nicht befragt wurde, wenn es um die bauliche Umgestaltung der Stadt ging, hat Honegger zeitlebens gekränkt. Er, der Ästhet, der sich auch kulturpolitisch für die Gesellschaft einsetzten wollte, sah darin eine Möglichkeit, die Gesellschaft menschlicher zu machen. «Ich glaube, dass in einer ästhetisch schönen Welt der Mensch besser lebt. Nicht sehr viel anders, aber ein bisschen besser.» Mit diesem Zitat Honeggers beendet Christen den Spaziergang und entlässt seine Gäste wieder ins Getümmel des «Zürich liest».

Going home disappointed

Das Theater Neumarkt gleicht bei der Gesprächsrunde zwischen Laurie Penny und Andi Zeisler mit seiner Empore beinahe einer Arena. Und doch wird es Penny und Zeisler an diesem Abend in keiner Weise darum zu tun sein, verbale Kämpfe auszutragen. Es lässt sich fragen, ob der Eindruck vermieden werden möchte, dass die vielfältigen Stimmen innerhalb des feministischen Diskurses auch uneins sein können. Die Moderation von Franziska Schutzbach jedenfalls ist so aufgebaut, dass man gerade so gut zwei Einzelgespräche hätte führen können: Eine Frage an Penny, eine an Zeisler. Die beiden grossen Feministinnen werden so bedauerlicherweise nicht dazu aufgefordert, mehr in ein Gespräch miteinander zu treten und auch darüber zu diskutieren, was sie voneinander unterscheidet. Wenn sie sich von den Fragen etwas entfernen und so etwas wie ein persönliches Gespräch zwischen den beiden entsteht, verkommt der Dialog bisweilen zur Slapstick-Einlage darüber, ob feministische Unterhosen jetzt mit angriffslustigen Zähnen geschmückt sein sollten, und die Rednerinnen bleiben in der Komfortzone des Gebiets, innerhalb dessen sie sich einig sind.

Unverständlich ist schliesslich, weshalb die Moderatorin zwei Bilder zeigt – einmal von den Riot-, dann von den Spice Girrrls – und dazu rhetorisch-süffisant fragt: «What happened?» Viel ist passiert. Und man muss ja sowohl das Riot Girl als auch das Spice Girl in einem Kontext verstehen, der nicht das eine mehr oder weniger politisch als das andere machen würde – von einer Industrie vereinnahmt sind ja sowieso beide.

Genug der Stänkerei: Die Textpassagen, die von der Schauspielerin Oriana Schrage aus den Werken Pennys und Zeislers vorgelesen werden, sind eindringlich und in klarer, gut verständlicher Sprache gehalten. Es wird durch Schutzbachs Fragen etwa evident, weshalb der Begriff der «Rape Culture» vonnöten ist, da sich mit seiner Hilfe erklären lässt, welches Leben als wertvoll betrachtet, welche Personen als glaubwürdig eingestuft werden. Der Hashtag «Me Too» wird kritisch beleuchtet und auf sein Potential hin befragt, das Problem wird benannt, dass Frauen, die am Arbeitsplatz belästigt werden, still bleiben, weil am kapitalistischen Arbeitsplatz ihre Körper Teil davon sind, was «for sale» ist. Penny erklärt ihren Begriff des «Neuen Chauvinismus», der ohne toxische Männlichkeit, Xenophobie und Misogynie nicht zu denken ist und es sich zur Aufgabe macht, nur die «richtigen» Frauen (also weisse Cis-Frauen) zu beschützen – und als Eigentum zu verstehen. Sie räumt mit sexuellen Märchen auf (die verharmlosende Redewendung «boys will be boys» kursiert im Internet momentan unter dem Meme «boys will be held accountable for their actions»), die auch davon zehren, dass Frauen untereinander die Solidarität aberzogen wird: Eher werden sie dazu angehalten, um männliche Aufmerksamkeit zu buhlen. Ihre lebensweltlichen Berichte werden als Klatsch und Tratsch abgetan, und die gleiche Kultur, die den Frauen beibringt, dass sie die Schuld an einer Vergewaltigung zu tragen haben, lehrt dies auch den Männern. Zeisler behandelt das Problem des «Marktplatzfeminismus»: Feministische Sprache und feministisches Gedankengut werden zunehmend für die Produktvermarktung verwendet; man könnte dabei prekärerweise meinen, im Feminismus sei schon alles passiert, was passieren kann. Spannend ist die Frage, welche Forderungen des Feminismus schlicht unvereinbar mit dem kapitalistischen Gesellschaftskonzept seien. Leider bleibt Penny bei der Antwort dann doch eher vage: «social welfare» und das Problem der «unpaid labour».

Der Abend endet damit, dass Penny und Zeisler gebeten werden, uns ihre Vorstellung einer «optimalen Welt» nachzuzeichnen. Das stimuliert sogleich eine lebhafte Diskussion darüber, dass von Feministinnen häufig eine vorgefertigte Lösung verlangt wird, die die beiden aber unmöglich leisten können. Zeisler bemerkt dazu traurig-schwarzmalerisch: «Feminism has a lot to do with going home disappointed.» Zuerst müsse einmal alles festgestellt werden, was falsch läuft. Damit sei man aber noch lange nicht so weit, dass man einen (Denk-)Raum hätte, auf dessen Basis sich eine neue, bessere Welt entwerfen liesse. Negative Energie – das Nachdenken über und wütende Streben wider Fehler des Systems –, so Schutzbach, habe ein grosses Potenzial, kenne aber im kapitalistischen positive thinking kaum einen Platz mehr.

Unsere Utopie jedenfalls hätte folgendermassen ausgeschaut: Mehr Kontroverse zwischen den beiden Feministinnen. Reibungspunkte hätten sie garantiert gehabt. Eine engagiertere Moderation, die so etwas wie ein echtes Gespräch in Gang gebracht hätte. Und vernünftige Fragen aus dem Publikum. Den Typen, der ernsthaft versuchte, die Frauen wegen der falschen Erziehung ihrer Söhne («like little kings») als Ursache des Problems darzustellen, hätte es nämlich wirklich nicht gebraucht. Wir haben uns dafür ein paar Feierabendbier mehr gegönnt.

 

Nadia Brügger und Simon Leuthold

«Wer liest hier überhaupt?!»

Passender hätte der Ort nicht gewählt sein können: Das Cabaret Voltaire –  vor 100 Jahren die Keimzelle des Dadaismus – wird 2017 erneut zum Schauplatz literarischer Innovation. Das Literaten-Kollektiv AJAR (Association de jeunes auteurs romandes et romands) aus der Romandie präsentiert am Samstagabend seinen Roman «Unter diesen Linden», der in diesem Jahr in der deutschen Übersetzung erschienen ist. Das französischsprachige Original von 2016 hatte Aufsehen erregt, weil es nicht von einem, sondern von 18 Autorinnen und Autoren geschrieben wurde.

Im Cabaret Voltaire sind AJAR zu viert: Julie Mayoraz, Bruno Pellegrino, Lydia Schenk und Guy Chevalley stellen ihren Roman vor. Und sie sprechen nicht nur über ihn – sie führen auch vor, wie das Buch entstanden ist. Die vier Autoren setzen performativ Versatzstücke in zwei Sprachen zusammen. Eine beginnt auf Französisch, die nächste steigt auf Deutsch ein, später kommen die beiden anderen hinzu – bis alle zusammen puzzleartig einen Text vortragen, der erst in der Vielstimmigkeit Sinn ergibt.

In diesem Moment der mehrsprachigen, simultanen Darbietung scheint der Geist Tristan Tzaras durch die Gewölbe des Cabaret Voltaires zu wandeln: Das Echo des einst hier zusammen mit Richard Huelsenbeck und Marcel Janko vorgetragenen Simultangedichts «L’Admiral cherche une maison à louer » hallt im Wortgemisch AJARs eigentümlich nach. Die Idee der kollektiven Autorschaft – sie ist also bestimmt nicht neu. Aber sie scheint, zumindest im literarischen Kontext, immer wieder in Vergessenheit zu geraten. Im digitalen Zeitalter hat sich aber zumindest ihre Umsetzung erleichtert.

Mittels einer multimedialen Performance gibt AJAR Aufschluss über den eigenen Schreibprozess. Sie machen Musik auf einem kleinen Saiteninstrument, sprechen zeitgleich auf Französisch und Deutsch in Mikrofone und bilden auf der Leinwand ab, wie AJAR live an einem Word-Dokument arbeiten. Texte werden markiert, verändert, verschoben, erweitert, gekürzt, gelöscht. Dazu sind Aufnahmen zu hören, in denen die Autoren über ihre Arbeit sprechen.

«Es geht uns nicht nur um das Projekt Buch, sondern wir experimentieren mit verschiedenen Formen der Literatur.» Das wichtigste Ziel von AJAR sei die Auflösung der Autorschaft. Niemand wisse jetzt mehr, wer welche Teile zum fertigen Buch beigesteuert habe. Ab dem Zeitpunkt, zu dem man einen Textbaustein an alle sendet, sei das Kollektiv dessen Autor.

«Es geht uns nicht nur um das Projekt Buch, sondern wir experimentieren mit verschiedenen Formen der Literatur.»

Die von einem etwas irritierten Publikum gestellten Fragen werden von ihnen konsequent ignoriert. Sie antworten stattdessen mit starren Statements zu ihrer Arbeit. Ganz getreu ihres Credos: «La fiction n’est absolument pas le contraire du réel.» – «Die Fiktion ist absolut nicht das Gegenteil des Wirklichen.» In dem daraus entstandenen Roman «Unter diesen Linden» spielt die Autorschaft keinerlei Rolle mehr. Selbst die fordernde Frage eines Zuhörers, ob es sich bei der Erzählerin und Autorin Esther Montandon denn nun um eine fiktive Person handle oder nicht, muss offen bleiben. Am Samstagabend ist im Cabaret Voltaire 2017 der Autor ein weiteres Mal gestorben – um der Stimme des Kollektivs Platz zu machen.

Mirja Keller, Theresa Pyritz, Julien Reimer

Anschwellender Boxgesang

Nach der fulminanten Premiere im Kaufleuten vor wenigen Wochen brachte der Zürcher Spoken Beat-Poet Jurczok 1001 sein neues Programm gestern im vollbesetzten Kosmos zur Aufführung.  Dessen eigenwillige Architektur – statt auf einer erhöhten Bühne steht der Performer im Foyer, das sich nach hinten zu einer Art Hörsaaltreppe öffnet und zur Seite durch ein Schaufenster den Passanten – stellte den Charismatiker durchaus vor eine Herausforderung: Vor allem Jurczoks kraftvolle, teils hypnotische Stücke, eine Art anschwellender Beatboxgesang, der Soundschicht auf Soundschicht stapelt und doch jeden Atemzug registriert, rufen eigentlich nach einer dunkleren, konzentrierten Atmosphäre.

Aber der 1974 in Wädenswil geborene Dichtersängerrapper, seit mehr als zwei Dekaden im Geschäft und zuletzt mit wichtigen Preisen bedacht, ist ein Profi. Und eröffnet den Abend mit einem Sprechtext, der erst einmal zu lachen gibt, in seinem prononcierten Vortrag jedoch schon mal den Performance-Claim absteckt: Das hier wird lustig, berührend, ironisch, politisch, elegisch, pointiert. Aber all das nur, weil hier einer weiss, was ein Sprachkunstwerk ist.

Als ein solches geben sich die Shirt Stories denn auch gleich zu erkennen. In order of appearance hat Jurczok dafür an einem New Yorker Herbsttag alle Slogans notiert, die ihm auf Brust und Bauch entgegen getragen wurden. Komisch ist daran weniger die erwartbare Heterogenität der Zeilen-Brüche von Black lives matter zu Nike und Co. als vielmehr der Kontrast von rhythmisch-nachdenklichem Vortrag und flüchtigem, meist banalem objet trouvé. Da entsteht ein Resonanzraum, den die Wiederaufnahme der Shirt Stories im zweiten Teil des Programms, dann als pathetischer Beatboxgesang im Nachgang der aktuellen Single Chumm, mi schlafed, noch verstärken wird.

Das wunderbar vielfältige Publikum – vom Sek-Schüler bis zur Studienrätin, von der Wiediker Kulturschaffenden bis zum Dietiker Homeboy ist alles vertreten – dankt es mit Applaus, sieht über ein etwas tief in Stand up- und Slam-Gefilden wilderndes Intermezzo zum Thema Langstrassen-Silikon-Implantate hinweg und wird schon bald mit dem nächsten Höhepunkt belohnt: Die mit höchster demagogischer Konzentration vorgetragene Köppel-Imitation zum Thema Scheinbevölkerung führt vor, wie dank einer über die bekannten rhetorischen Strategien weit hinausgehende Rhythmisierung und Akzentuierung noch die grösste Scheinlogik und Widersprüchlichkeit als besorgte politische Analyse durchgehen kann. Diese nicht einfach vorschnell und selbstgerecht der Lächerlichkeit preiszugeben, sondern ihre Wirksamkeit und Mechanismen in einer fast erschreckenden Anverwandlung vorzuführen, geht über die frühere, auch schon grossartige Wältwuche-Nummer weit hinaus. Fast schien es, als müsse der Magier das gebannte Publikum anschliessend erst aus der Hypnose holen. Grandios dabei die Schlusspointe, den Applaus im Namen des schmeichelnden Demagogen einzufordern. Dessen Imitation war trotz oder wegen ihrer Überzeichnungen so überzeugend, dass nicht wenige Zuschauerinnen und Zuschauer einen Moment brauchten, ehe sie realisierten, dass sie ruhig klatschen durften, weil da vorne eben doch kein Köppel auf der Bühne stand.

Sondern ein vielseitiger Performer, dem es in jahrzehntelangem Feintuning gelungen ist, noch die scheinbar widersprüchlichsten poetischen und musikalischen Verfahren zu einer Einheit zu führen, die so mühelos und organisch wirkt, wie nur eine bis in den 1001. Winkel durchkomponierte Kunst zu wirken vermag. Dass Jurczok keines seiner Verfahren verschleiert, jederzeit zeigt, dass und wie er zeigt, und trotzdem niemand sonst an seiner Stelle vorstellbar ist, gehört zu den beglückenden Geheimnissen einer singulären Präsenz.

«Je suis Zurichoise!» Heute bin ich keine Fremde mehr

Ken Bugul verzog keine Miene, während der Moderator Yves Raeber sie dem Publikum vorstellte. «Die senegalesische Autorin ist 1947 geboren als Mariètou Mbaye. Sie wurde mit dem Preis der Grand Prix littéraire de l’Afrique noire ausgezeichnet, lebte in 30 afrikanischen und ebenso vielen anderen Ländern. Zurzeit ist sie als Writer in Residence in Zürich zu Gast.» Als er ihr übersetzen wollte, was er soeben über ihr Leben erzählt hat, meinte sie nur: «J’ai bien compris». Sie habe schon verstanden, schliesslich kenne sie ihr Leben am besten. Von ihrer Lebensgeschichte handeln auch die meisten ihrer Bücher. Angekündigt war eine Lesung aus Le Baobab Fou, ihrem 1982 erschienenenDebüt, das ihre Kindheit und ihren Aufenthalt in Brüssel thematisiert. «Sie wollen, dass ich lese?», versicherte sie sich beim Moderator. «Wo?» Er zeigte ihr die Stelle und sie begann zu lesen. So ging das Spiel durch den ganzen Abend weiter. Die von Raeber ausgedachte Dramaturgie, die einzelne Textpassagen in eine chronologische Ordnung zu bringen, wurde von Bugul kritisch beäugt, aber befolgt. Und immer, wenn sie eine Stelle zu Ende gelesen hatte, folgte ein: «C’est vrai». «Das war wirklich so». Es wurde deutlich, dass es ihr ums Erzählen ging. Sie wollte sprechen über ihr Leben und die unglaublichen Dinge, die sie erlebt hatte. Das Lesen schien sie darin nur zu bremsen.

«Stellen Sie sich das vor!», verdeutlicht die Autorin. Das sei sehr einsam gewesen, ohne Mutter bei einem halbblinden 85-Jährigen Marabut aufzuwachsen. Ihre grösste Verletzung sei noch immer, dass ihre Mutter sie als fünfjähriges Mädchen verlassen habe. Buguls eigenes Lieblingsbuch ist denn auch De l’autre côté du regard, das von ihrer Beziehung zu ihrer Mutter handelt. «Ma pauvre mère», sagt sie an einer Stelle. Mittlerweile scheint sie doch mit ihr Frieden geschlossen zu haben.

Durch Le Baobab Fou erfahren wir von dem kolonialen Schulsystem Senegals in den 1950er Jahren. Ken Bugul identifizierte sich als Kind mit dem sauber angezogenen weissen Mädchen aus ihrem Schulbuch und war auf der Suche nach ihren Vorfahren, den Galliern. Sie las enorm viel, war fleissig in der Schule und erhielt so ein Stipendium für die Universität in Dakar. Als Teenager trug sie westliche Kleidung, oder zumindest das, was sie sich darunter vorstellte. Sie erhielt ein Stipendium für die Universität in Belgien, und ihr Traum schien in Erfüllung zu gehen. Doch in Brüssel fand sie nicht die lang ersehnte Antwort auf die Frage nach ihrer Herkunft. Im Gegenteil. Der Blick der Europäer machte sie zu einer Fremden. Zu einer Exotin.

Heute sei sie Zürcherin und keine Fremde mehr: «Je suis Zurichoise». «Gefällt es Ihnen in Zürich?», fragte Raeber nach. Es sei super, alles sei sehr sympathisch hier. Sie verbringe aber auch nicht nur Zeit in Zürich. So ein Stipendium sperre sie ja nicht ein. Berlin, Paris, Salzburg, Hamburg sind nur einige der Städte, die sie während ihres Aufenthaltes hier schon besucht hat.

«Ich lebte auf der Strasse, als ich meine autobiografische Triologie Le Baobab Fou, Cendres et braises und Riwan ou le Chemin de Sable geschrieben habe». Ken Bugul entfloh der Beziehung zu einem gewalttätigen Mann und kehrte im Alter von 30 Jahren in den Senegal zurück. Im Gepäck hatte sie keine Geschenke, sondern nur ihr Trauma. Ihre Geschichten wollte niemand hören, schliesslich galt Europa schon damals als «terre promise», ein Ort der Träume. Ihre Familie verstiess sie und die Gesellschaft verschloss sich ihr. Ein Jahr lang lebte sie auf dem Place de l’Indépendance in Dakar. Wie man sich denn das Leben auf der Strasse vorstellen soll, kam die Frage aus dem Publikum. «Das Leben auf der Strasse war super! Ich habe Lust zurückzukehren.» Sie, die später als 28. Frau des Serigne den Status einer Heiligen erhielt, kann heute gelassen auf diese Zeit zurückblicken. Die Zeit der Lesung war längst überschritten, aber das Publikum hing noch immer wie gebannt an ihren Lippen. Buguls Geschichte fasziniert. Obdachlosigkeit ist mit Vorurteilen behaftet, verkörpert Gefahr und gesellschaftlichen Fall. Diese starke Frau hat sich ihren Ängsten gestellt und sich so von ihnen befreit. Sie galt als Verrückte und lebte verstossen von der Gesellschaft. Wir, die durch unser behütetes Schweizer Leben ängstlich geworden sind, können von ihrer Narrenfreiheit nur lernen.