Auf See


Es ist viel los am Schiffsteg. Die Menschen geniessen den sonnigen Sonntagnachmittag mit Freunden und Familie oder schauen amüsiert dem Pantomimen zu, der in einen Föhn „I want to break free“ lipsynct und im Ton eines Quietschentchens kommuniziert.

Das auf uns wartende Schiff ist edel hergerichtet. Auf den Tischen locken Sandwiches, Schokomuffins, Vermicelles, Früchtetörtchen und Weingläser. Die Sonne blendet durch die Fenster ins Schiffsinnere und wärmt den Innenraum angenehm auf. Ich kann getrost meine Jacke und meinen Schal ausziehen. Ganz im Gegensatz dazu steht die erste Textstelle, mit der Theresia Enzensberger die Lesung beginnt.

«Die See war ruhig und schwarz. Mein Vater mochte es nicht, wenn ich an Deck ging, aber die erste Morgenstunde gehörte mir. Ich sollte meditieren, stattdessen setzte ich mich auf das Dach meines Schlafquartiers in eine Mulde, schaute über die Seestatt hinaus aufs Meer und dachte über die Zukunft oder, besser gesagt, über die Wahrscheinlichkeit ihres Ausbleibens nach.»

Auf See

Die Ich-Erzählerin Yada lebt zusammen mit ihrem Vater Nicholas und anderen Forschern auf der sogenannten Seestatt einer künstlichen Insel in der Ostsee. Die Seestatt ist von ihrem Vater gegründet worden, um sich vor dem Weltuntergang zu retten. Yada kommt mit sieben Jahren auf die Seestatt, wo sie durch ein striktes Tagesprogramm zu seiner Nachfolgerin erzogen werden soll. Kunst, Literatur und Musik werden ihr vorenthalten, da ihr Vater irrationale Tendenzen der Tochter fürchtet. Diese sind laut Vater das Erbe der Mutter, die angeblich an einer rätselhaften geistigen Krankheit gestorben sei.

Yadas Mutter, Helena, ist eine Künstlerin, die durch den plötzlichen Erfolg eines Videos mit zwölf Prophezeiungen versehentlich bekannt wurde. Sie wird als Künstlerin oder gar als Orakel bejubelt und lebt noch auf dem Festland. Yada hingegen wurde von ihrem Vater auf die Seestatt mit- und somit ihrer Mutter weggenommen. Seither leidet Helena an einem unverarbeiteten Trauma, das ihre Verantwortungslosigkeit verstärkt. Das zeigt sich unter anderem darin, dass sie mit allen Mitteln versucht, die Ideen ihres ehemaligen Partners Nicholas zu zerstören. Dafür gründet sie eine Sekte, um die Gefahr aufzuzeigen. Ausserdem lebt sie trotz ihres ansehnlichen Einkommens sozusagen als Nomadin in Wohnungen von Bekannten. Auch Nicholas leidet an einem Trauma. Dieses liegt darin, dass die Dringlichkeit seiner Pläne zur Verhinderung des Weltuntergang von anderen Wissenschaftlern lange nicht ernst genommen wurde.

Der fiktive Staat ist das Thema, das sich durch den ganzen Roman zieht. Die Seestatt ist ein Beispiel dafür, aber auch im sogenannten Archiv sind verschiedene Versionen eines fiktiven Staates beschrieben.

«Irgendwo südlich von Honduras, an der Küste des heutigen Nicauragua, findet sich ein fruchtbarer Landstrich, in dem das Königreich Poyais beheimatet ist. (…) Poyais gibt es nicht. (…) In Wirklichkeit stammt das irrsinnige Manuskript aus der Feder eines gewissen Gregor MacGregor, der sich selbst zum König des fiktiven Poyais ernannt hat.»

Auf See

Das Archiv ist eine Sammlung von Helena, die die Gefahr in dieser antidemokratischen Idee des fiktiven Staates aufzeigt, gleichzeitig jedoch das lockende Zukunftsversprechen aufzeigt. Auch ich empfand einige dieser fiktiven Staaten auf den ersten Blick als ansprechende Alternative zu unserer jetzigen Welt. Sie stellen einen Ausweg für Menschen dar, die keinen Platz in der Gesellschaft finden und sich so eine neue Gesellschaft aufbauen. Der Weltuntergang bietet die Möglichkeit, die Welt von Grund auf neu gestalten. Die Thematik ist allerdings mit Kolonialismus und Gentrifizierung verbunden, wie man am Beispiel vom Tiergarten sieht. Im Tiergarten, einer Zeltstadt, treffen sich Helena und Yada wieder. Mit dem Bau der permanenten und zudem sehr hübsch gestalteten Hütten bringen Helenas Halbbruder und Freundin die Zeltstadt in Gefahr.

Einige Charaktere im Roman sind an die Realität angelehnt. So zum Beispiel Helena, die wie der Dichter Lord Byron, über Nacht berühmt wurde. Zudem werden im Buch Inzestgerüchte zwischen Helena und ihrem Halbbruder Augustus thematisiert. Auch dies basiert auf real existierenden Gerüchten zu Lord Byron und seiner Halbschwester Augusta.

Auch wir kommen viel zu schnell wieder in die Realität zurück. Das Schiff legt wieder am Steg an.

Rahel Büchi

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