«Für mich ist es schwierig, im Paradies zu sein, weil in meinem Land noch immer das gleiche Feuer brennt.»


Als ich am Samstag überpünktlich um 17:45 Uhr in der Paranoia City ankomme, ist noch nicht viel los. Gerade werden noch die letzten Stühle aufgestellt. Vereinzelt sitzen schon Menschen. Vor der Glastür, die zum Garten führt, stehen einige Mikrofone. 

«Kommt es vor,

dass du im Herzen lachst?

In diesem Moment verstehst du

den Wert des Lachens nie.»

Muska Murad in ihrem Gedichtband «Wortsprich»

Eine Viertelstunde später ist die Paranoia gerappelt voll. Bunte Stühle drängen sich durch die Bücherregale. Buchhändlerin und Kollektivmitglied Margo heisst uns willkommen zum literarischen Abend und stellt die vier Autor*innen vor, die sich vor den Mikrofonen aufgereiht haben: Ulrike Ulrich, Axmed Cabdullahi, Muska Murad und Roland Jurczok aka Jurczok 1001. Zwei Duos, zwei Bücher, zwei Lesungen im Dialog.

«Wann hast du mit dem Schreiben begonnen?», werden Muska Murad und Axmed Cabdullahi gefragt. Muska schreibt seit ihrer Kindheit; Axmed seit 2017. 

Im Alter von neun Jahren entdeckt Muska Gedichtbände, wie sie uns erzählt. Ihre Neugierde für Lyrik bleibt, bis sie schliesslich ein Buch des berühmten afghanischen Dichter Rumi Maulana Dschalal-ad Din Balkhi liest und bald darauf selber zu schreiben beginnt. Gedicht um Gedicht – immer Zweizeiler in Reimform. 2021 erschien ihr Gedichtband «Wortsprich» bei der Reihe essais agités. Darin findet sich eine Auswahl von Muskas Gedichten im Original auf Dari und auf Deutsch übersetzt.

Axmed bereut es, dass er nicht schon früher mit dem Schreiben begonnen hat. Schreiben mache ihn glücklich und sei wie eine Therapie für ihn. Während Axmed in der Sprachschule Deutsch lernt, beginnt er zu schreiben. Erst nur einzelne Sätze, dann Kurzgeschichten. Schnell gewinnt er Freude am Schreiben auf Deutsch. Wie Muskas Gedichtband ist auch Axmeds Buch im Rahmen des Jungen Literaturlabor (JULL) entstanden. Zusammen mit Ulrike Ulrich schreibt er das Buch «Alphabet vom Schreiben und Unterwegssein».

Als Erste lesen Ulrike und Axmed vor. Kurztexte darüber ohne Angst draussen unterwegs sein zu können, über Axmeds zwei Minuten ältere Zwillingsschwester, über Talent («die beiden Dinge, die ich am besten kann: Schreiben und Skifahren»), Schreiben, Neugierde, Romane, über Illegalität und Realität, über Ankommen und Anrufen.

Weder im Buch selbst noch heute beim Vorlesen wissen die Lesenden und Zuhörenden, von wem der Kurztext stammt. Beim Vorlesen bringt das eine zusätzliche Spannung: Von wem stammt der vorgelesene Text? Kurztexte über Enten («Sie sind süss und haben schöne Farben»), über Muttersprache, über Chaos und Unordnung («Chaos in Somalia ist Normalität.»), darüber, ohne Papiere zu sein, übers Schreiben, über das Y-Chromosom («Ich bin gelernte Passive»).

«Für mich ist es schwierig, im Paradies zu sein,

weil in meinem Land noch immer das gleiche

Feuer brennt.»

Muska Murad in ihrem Gedichtband «Wortsprich»

Auch Muska Murad und Jurczok 1001 lesen im Duo. Mal abwechselnd eine Passage, manchmal übersetzt, mal einzelne Zeilen, mal mit Musik, mal ohne. Zum Schluss liest Muska auf Deutsch und Jurczok 1001 auf Dari.

Ein Gedicht widmet sich dem feministischen Kampftag, dem 8. März 2020. Jurczok 1001 soll es als Mann zuerst vorlesen: «Ich bin eine Frau, deine Mutter, deine Schwester, deine Tochter und deine Frau.» 

Zwei Duos, zwei Bücher, zwei Lesungen im Dialog in einer vollen Buchhandlung. Immer wieder wird geschmunzelt oder gelacht. Die eine oder andere Träne wurde verdrückt. Es herrscht eine schöne und zugleich traurige Stimmung. Heute Abend bin ich zum Schluss gekommen, dass Gedichte in vorgelesener Form noch immer am schönsten sind.

«Mein Land ist ein Ort, an dem das Lernen ein

Verbrechen ist.

Mein Land ist ein Ort, an dem das Lachen ein

Verbrechen ist.

Ja, mein Land ist Afghanistan, wo selbst entspanntes

Atmen ein Verbrechen ist.»

Muska Murad in ihrem Gedichtband «Wortsprich»

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert