Bücher auf den Augen, Züge auf den Ohren

Das Bild zeigt den Innenraum der Kulturbar GLEIS, Sonnenlicht fällt durch die Fenster ein, draussen sieht man die Zuggleise und Häuser von Zürich.

Es ist ein sonnig-warmer Sonntag, fast schon klischeehaft herbstlich. Ich sitze auf der Terrasse vom GLEIS, links von mir erstreckt sich das namengebende Gleismeer, rechts von mir trudeln Gäste langsam ein. Eine Grenze zu ziehen zwischen Besucher*innen vom Silent Reading Rave und einfach Kaffeetrinkenden fällt mir schwer. Fast alle haben ein Buch dabei, ob auf den Tisch gelegt oder in der Hand. Man sitzt umrahmt von Topfpflanzen und Möbeln variierend in Stil, Farbe, Form und Größe.

Ich selbst habe «Babel» von R.F. Kuang dabei, vielleicht beginne ich ja endlich mit lesen; das Buch lag nun schon ein paar Wochen unberührt auf meinem Nachttisch herum. Bevor ich das Haus heute morgen verlassen habe, hat es mich so vorwurfsvoll angesehen, ob ich es wirklich nicht mitnehmen wollte, wenn ich ja schon meinen Tag dem Lesen widme. Also sind wir jetzt zusammen hier, und das Buch kämpft mit der Teetasse um meine Aufmerksamkeit.

Die Menschen an den Bistrotischen sind genauso verschieden wie die Bücher, die sie mit sich brachten. Ich schaue mich um, suche vergebens nach bekannten Titeln und Autoren. Von einigen habe ich schon mal gehört, vielleicht im Buchjahr. Ich entdecke eine unerwartete Bandbreite in den Werken: Biografien und Krimis, Klassiker und Schulbücher, Poesie und Fremdsprachen.

Ich frage mich immer mehr, wer wohl auf die Idee gekommen ist, diesen Anlass ins Leben zu rufen. Ein Silent Reading Rave steht ja sehr stark im Kontrast zu anderen Zürich Liest-Events. Vorlesungen, Diskussionen, überall steht hauptsächlich der Austausch im Vordergrund. Um was geht es denn hier überhaupt? Ich war mir im Vorherein auch nicht wirklich sicher, und trotzdem hat es mich hierhin gezogen. Und nun soll ich versuchen, euch ein gerechtes Fazit zu geben.

Für mich geht es um das stille Zusammensein, darum, miteinander zu lesen, ist es doch die Grundlage für all die Diskussionen, die wir führen. Es nimmt das Literaturfestival wortwörtlich beim Namen: «Zürich Liest». Zürich trifft sich am Wochenende in einem Café. Zürich isst zusammen Brunch. Zürich liest eben seine Bücher.

Es wird eine Auszeit angeboten; eine wohlverdiente Pause, wenn ihr mich fragt.

Im Eingangsbereich unterhalten sich zwei Fremde aufgeregt über ihre Lektüren, streng bemüht, die herrschende Ruhe nicht zu stören. Nur ergänzt vom Klirren von Kaffeetassen, dem Blättern von Buchseiten und dem fast konstanten Ein- und Ausfahren von Zügen, verleiht die Stille dem Café ein schon fast magisches Flair.

Immer mehr vertiefen wir uns in unsere Bücher, immer spärlicher werden die Gespräche. Mein Tee ist sicher schon lange kalt – das gehört ja dazu.

Tabea Bernet

Bild von Nikkol Rot via dasgleis.ch


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