Der Rote Diamant – Zwischen Biographie und Fiktion


Die Atmosphäre und Familiaritätsgefühl eines Hauskonzertes: die kleine, gemütliche Hirslanden-Buchhandlung ist für eine Stunde zu einem Ort der Gleichzeitigkeit geworden: Ich fühlte mich gefangen zwischen der griechischen und römischen Antike, zwischen Geschichte und Fiktion, zwischen Freiheit und Gefangenschaft. All diese Elemente waren in den gelesenen Passagen aus dem Roman “Der Rote Diamant” von Thomas Hürlimann, das auch für den Schweizer Buchpreis 2022 nominiert wurde, stark spürbar. Es erzählt die Geschichte des jungen Knaben Arthur Goldau, der von seiner Mutter im Herbst 1963 im Klosterinternat geschickt wird. Dieses Internat in den schweizerischen Bergen, wo die Zeit im Stillstand zu sein scheint, hat ein Geheimnis: hier findet sich ein sehr wertvoller Diamant, der aus der Habsburgerzeit kommt. Zusammen mit seinen Freunden begibt sich Arthur auf der Suche nach diesem Diamant und erlebt viele Abenteuer. 

Ich bin immer wieder leicht verblüfft davon, wenn ich den Menschen, der hinter einem Buchtitel steckt, dessen Geist und Persönlichkeit das ganze Buch durchdringt, in Fleisch und Blut sehe. Aber nicht nur sehe, sondern auch höre, wie er eine Beschreibung lebendig macht oder einem Charakter ein Leben und eine Stimme gibt. 

Bei der Lesung waren drei Schlüsselszenen aus dem Roman zu hören: zuerst die Beschreibung des roten Diamanten, die der (Vor)Geschichte und die der drum herum entstandenen Legende dieses Diamanten; es folgte die Passage, in der Arthur im Kloster angekommen ist. Einige fiktive Elemente flechten sich dabei ganz natürlich in die Schulerinnerungen des Autors.

Der Höhepunkt der Lesung bildet die Erzählung einer Unterrichtsszene, die von einer Art Prozess gefolgt ist. Die Schüler mussten einen Aufsatz über die Jungfrau Maria schreiben. Arthur lässt sich von der Geschichte und den Gerüchten von dem roten Diamant inspirieren und schreibt fast frenetisch einen vierseitigen Aufsatz (eine Hochleistung, die fast unmöglich ist). Leider vergeht die Zeit, die die Schüler für das Schreiben zur Verfügung hatten, bevor Arthur den Bogen zu der Jungfrau Maria schafft und seinen Aufsatz endet. Es folgt einen “Prozess” mit den Priester im Kloster. Der Deutschlehrer glaubt nicht, dass der junge Arthur seinen Essay nicht abgeschrieben hat. In der Erzählung findet sich die perfekte Mischung zwischen Ernsthaftigkeit, Humor und Ironie. Auf dieser Weise behält Thomas Hürlimann die Aufmerksamkeit der Zuhörer wach und bietet ihnen einen genussvollen Leseabend. 

Nach der Lesung folgte eine interessante Fragerunde. Thomas Hürlimann ging hier noch mal auf die starken biographischen Bezüge in seinem Roman ein. Die Internatserfahrung sei für ihn sehr bereichernd und gut gewesen. Er hat seinen Lehrern viel zu danken, und schloss Freundschaften, die noch heute andauern.

«Es ist aber eine Frage der Zeit; man muss das Buch aus dem Kontext ihrer Zeit lesen und verstehen.»

Thomas Hürlimann

Im heutigen sozio-politischen Kontext sind einige Elemente des Romans nicht mehr aktuell. So sind beispielsweise einige pädagogische Techniken und Methoden für den Kontext des Romans selbstverständlich, aber für uns heute kaum vorstellbar. Zum Schluss ein interessanter Gedanke war der indirekt angesprochene Vergleich zwischen den heutigen pädagogischen Ansätzen und jenen, die aus Thomas Hürlimanns Roman herauszulesen sind. 

Parallel zu den amüsanten kleinen Geschichten die er anfangs erzählt hat, brachte Thomas Hürlimann humorvoll dieses Lese-Erlebnis zu Ende, sodass alle Zuhörer mit einem Lächeln im Gesicht nach Hause gingen.


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