Bravo Girl und die anthropologische Masse


An der Wand hängt ein ausgestopfter Wildschweinkopf, wir machen es uns unter den alten Holzbalken der Mühle Otelfingen bequem. Nina Kunz sitzt auf der kleinen Bühne und liest aus ihrem Buch Ich denk, ich denk zu viel, das 2021 erschien.

Vom alltäglichen Unbehagen

«Geht es euch gut? Trotz Patriarchat?» fragt Kunz lachend in die Runde. Die 29-jährige Autorin und Kolumnistin kommt mit ihrer direkten, unverfälschten Art beim altersdurchmischten Publikum gut an. Es ist eine Ehrlichkeit, die sich auch durch ihre Texte zieht ― die meisten handeln von einem alltäglichen Unbehagen, etwa aufgrund der Klimakrise, des Patriarchats oder des allgemeinen Leistungsdrucks.

Ihr schlankes Debut, das inzwischen ein Besteller ist, zwischen den Fingern, lässt sie uns mit fester Stimme an ihren Gedanken teilhaben. Sie erzählt von Hyperobjekten, davon, wie ein Junge ihre Brüste einst «Mückenstiche» nannte, und dass Youtube nicht gut für ihre Psyche sei. «Das Stimmungstief des Abends», wie sie witzelt, bildet ein Text, der nicht im Buch, sondern kürzlich als Kolumne erschienen ist. Es geht dabei um die sogenannte «anthropologische Masse», also die Fülle an menschgemachter Materie auf der Erde. Diese übersteige die natürliche Masse bereits um ein Vielfaches, wie sie erklärt. Sie finde das erschreckend. Das Unbehagen steht ihr ins Gesicht geschrieben, vielen Zuhörerinnen und Zuhörern scheint es ähnlich zu gehen, denn sie nicken und brummen zustimmend.

Ein korrumpiertes Hirn

Schreiben sei für sie etwas sehr Privates, verrät Nina Kunz. Sie schmunzelt: Wenn man Kolumnen schreibe, könne man sein Publikum gut ausblenden ― das sei bei einer Lesung wie hier weniger gut möglich. Heute sei sogar jemand da, der den Mann kenne, um den sich eine ihrer nicht sehr schmeichelhaften Erzählungen drehe, das mache sie fast etwas nervös. Sehr spannend sei allerdings, dass man den Lachern anhöre, wer welche Andeutungen und Witze mitbekomme. «Wer hatte schon einmal eine Bravo Girl in der Hand?», fragt sie die Zuhörenden. Die Hände einiger junger Frauen schnellen nach oben. Aber nicht nur die müssen lachen, als Kunz moniert, diese Zeitschrift habe ihr jugendliches Hirn korrumpiert. Mit Verweisen auf feministische Literatinnen wie Laurie Penny und Simone de Beauvoir rechnet sie mit dem Heftchen und seiner misogynen Haltung ab, verliert dabei aber nie ihren gewitzten Humor.

Der Staubsauger-Approach

Aus dem Publikum kommt die Frage, ob sie all die Werke, die sie jeweils zitiere, auch tatsächlich gelesen habe, sie wirke wahnsinnig belesen. Bescheiden verweist Kunz darauf, dass sie fürs Lesen bezahlt werde und sich deshalb seit Jahren zwei bis drei Bücher die Woche einverleibe. «Ich habe so einen Staubsauger-Approach beim Lesen», erklärt sie die Diversität ihres Literaturkonsums.

Während ihr Debut sich weiterhin grosser Beliebtheit erfreut und in zwei Wochen auf Holländisch erscheinen wird (Ik denk… dat ik te veel denk bei Noordboek), hat Kunz kürzlich ihre letzte Kolumne beim Tagi-Magi veröffentlicht. Sie möchte, wie sie sagt, in Zukunft journalistischer schreiben ― man darf also gespannt sein auf das, was kommt. Den Weg nach Otelfingen war die Lesung von Nina Kunz auf jeden Fall wert.

Ein Bericht von Ronja Holler


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