Revolution ist: eine Frau, die Fahrrad fährt

«Dieses Buch wirft einen Blick in eine Brennpunkt-Situation; nach Ägypten», sagt Bernhard Echte, der Gründer des Nimbus Verlags über SAYEDA, den neu erschienenen Fotoband von Amélie Losier. «Von der politischen Revolution im Nahen Osten haben wir viel gelesen, jedoch nicht über die gesellschaftliche Revolution, die sich dort zwischen den Geschlechtern abspielt.»

Am Donnerstagabend fand in der Modissa an der Bahnhofstrasse die Buchvernissage von «SAYEDA Frauen in Ägypten» statt, gefolgt von einem Gespräch und einer Ausstellung ausgewählter Fotografien. Mit so viel Andrang hatte Jean-Pierre Kuhn, der Geschäftsführer des Modehauses, nicht gerechnet. Seit drei Jahren veranstaltet er in der Filiale im Kreis 1 Lesungen und Gespräche zum Thema «Mut für die Macherin». Mit Losier verliess das Gefäss zum ersten Mal die Schweizer Grenzen und thematisierte mutige Frauen aus Ägypten. Ein Publikum aus Frauen allen Altersklassen füllten die Sitzplätze restlos aus. Darunter waren auch ein paar wenige Männer, die ihre Frauen begleiteten.

Susanne Schanda, Jean-Pierre Kuhn, Amélie Losier

Das Gespräch mit der französischen Fotografin Amélie Losier führte die Nahost-Expertin Susanne Schanda. Selbst Schanda, die seit 20 Jahren regelmässig nach Ägypten reist, muss gestehen, dass sie ihr bisher unbekannte Szenen in den Fotografien entdeckt hat. Da war die Frau auf dem Fahrrad, die Taxichauffeurin, die Töpferin oder die geheimnisvolle Shisha-Raucherin. 2014 reiste Losier zum ersten Mal nach Ägypten. Kritische Zeitungsberichte wie jene der Journalistin Mona Eltahawy  weckten ihr Interesse für Ägypten und öffneten ihr Blick für die patriarchalen politischen Strukturen, mit denen die Ägypterinnen täglich zu kämpfen haben. Während ihrer Reise wollte sie herausfinden, «wo» sich die Frau im öffentlichen Raum befindet und «was» sie dort tut. Den Zugang zu einem fremden Land und einer neuen Kultur schafft sich Losier über die Fotografie von Menschen auf der Strasse. Denn fotografieren heisst für Losier lernen. Auch führte sie lange Gespräche mit den Frauen, die sie porträtieren wollte. Durch die Gespräche mit den Frauen habe sich ihr Blick sensibilisiert für die kulturellen Feinheiten. Beispielsweise die Frau auf dem Fahrrad wäre ihr am Anfang der Reise nicht aufgefallen. Durch die Interviews wusste sie aber, dass dieser Anblick in Kairo nicht der Normalität entsprach. Losier hielt die Frau auf dem Fahrrad an, um mit ihr ins Gespräch zu kommen. Es war eine junge Studentin auf dem Weg zur Universität. Sie erzählte, dass der Sicherheitsmann der Universität sie anfänglich nicht auf den Campus lassen wollte mit ihrem Fahrrad. Mittlerweile toleriert er sie, doch von Akzeptanz kann noch nicht die Rede sein.

«SAYEDA Frauen in Ägypten» Nimbus. Kunst und Bücher

Die Interviews und weitere Kontext-Informationen, verfasst von der Kunsthistorikerin Hoda Salah und der Politikwissenschaftlerin Franziska Schmidt, sind ebenfalls Teil des Buches und ergänzen die Fotografien. Mit 30 sehr persönlichen Porträts gibt Losier einen authentischen Einblick in die ägyptische Gesellschaft und zeigt Frauen die keinen Klischees entsprechen.

Zutritt verwehrt! Krieg und Vertreibung büssen auch im Comic nichts von ihrer Tragik ein

Welche Ironie: Olivier Kugler kann trotz deutschem Pass und englischem Wohnsitz nicht in die Schweiz einreisen. Für uns wirkt es wie Ironie, aber für die Menschen, die er porträtiert hat, ist es wohl eher Sarkasmus. Kugler halten meteorologische Gründe in England fest. Die Vernissage seines Erstlings findet ohne ihn statt. Der Verleger und zwei Mitarbeiterinnen von MSF füllen die Leere mit einem improvisierten Gespräch.

Im Auftrag von Médecins Sans Frontières (MSF) reiste Olivier Kugler nach Kurdistan, Griechenland und Frankreich, um syrische Flüchtlinge zu porträtieren und auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Auf der Basis von Fotos und übersetzten Gesprächen vor Ort entstanden in seinem Atelier in London gezeichnete Reportagen von Flüchtlingen, die genügend Vertrauen hatten, ihre Geschichte zu teilen. Die Zeichnungen stecken voller Details, die im Leben der Porträtierten von grosser Bedeutung sind: Hier eine Plastikblume, dort ein Spielzeug oder eine Packung Schokoladenkekse. Der Stil ist comichaft, der Text wird jedoch nicht von Sprechblasen eingerahmt und nimmt viel Platz ein. Kugler selbst nennt seinen Stil gezeichnete Reportagen oder Comicreportage.

Die meisten Geschichten handeln von dem, was zurückgelassen wurde: Angehörige, Besitz und Lebenspläne, aber auch von den umständlichen Fluchtwegen sowie den Beschwerlichkeiten des Lagerlebens. Viele syrischen Flüchtlinge sind Akademiker. Sie geben sich extrem Mühe, Haltung zu bewahren,  während sie ausserhalb der EU hin- und hergeschoben werden. Viele von ihnen wollen eigentlich gar nicht nach Europa.

Europa ist nicht unser Traumziel. Es ist nicht das Paradies… Es ist nicht der Himmel. Ich wäre lieber in Syrien, aber ohne Krieg. (Flüchtling in Calais, FR)

Nach Europa kommen diejenigen, die keine Hoffnung mehr haben, heimkehren zu können. Oftmals werden sie zusätzlich von einem schlechten Gewissen geplagt, weil sie fortgegangen sind. Je weiter weg von ihrer Heimat Kugler die Flüchtlinge antrifft, desto weniger Vertrauen bringen sie ihm entgegen; sie sind schon lange auf der Flucht und unwillkommen.

Das zentralste Problem in den Lagern ist der fehlende Zugang zu den öffentlichen Gesundheitssystemen. Aus diesem Grund ermöglicht MSF insbesondere Hilfe für werdende Mütter und Personen mit chronischen Krankheiten. Eine zentrale Aufgabe ist die psychologische Betreuung. Viele trauen sich nicht, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Depressionen und Selbstmordgedanken sind aber weit verbreitet.

Olivier Kugler ist momentan nicht für MSF unterwegs. Er arbeitet jedoch an einem neuen Projekt in Kolumbien. Er will dort eine syrische Flüchtlingsfamilie porträtieren für den Strapazin, ein in Zürich beheimatetes Comicheft. Sein Buch Dem Krieg entronnen – Begegnungen mit Syrern auf der Flucht erschien erst auf Deutsch. Die Veröffentlichung auf Englisch und Französisch ist in Planung und soll durch Crowdfunding finanziert werden.

Kuglers engagierter Erstling zeigt Menschen, die einst ein ähnliches Leben geführt und ähnliche Ziele verfolgt haben wie durchschnittliche Europäer. Auf eine ansprechende Art rückt Kugler eine der brennendsten gesellschaftspolitischen Debatten in den Fokus. Er präsentiert keine Patentlösung, aber Geschichten, die von der ungeklärten Situation verursacht werden. Olivier Kugler berührt und fordert dazu auf bewusst hinzusehen. Die Freude an seinem Buch wiegt die Enttäuschung über seine Abwesenheit beinahe auf.

Knöcherne Lieder – Bunte Figuren

Noch vor wenigen Monaten haben wir uns nach Martina Clavadetschers Auftritt in Solothurn nach erklärenden Worten gesehnt. Es gab keine Fragen, nur ein hypnotisiertes Publikum, das verstört auf seinen Stühlen zurückgelassen wurde. Liess auch das verspätete Eintreffen der begleitenden Musikerin Isa Wiss dem Kulturhaus-Helferei die Gelegenheit, die Autorin der Knochenlieder vorweg für ein kurzes Interview in Anspruch zu nehmen – aus der Höhle locken liess sich das Ungetüm nicht, das so mancher hinter besagten Gesängen schlummern glaubt. Das Auditorium musste sich mit einer klanglosen Inhaltsangabe eines vorwiegend melodiösen Textes und einer weiteren Frage zum Städtchen Brunnen SZ abfinden – das ist nicht unbedingt das, was uns an diesem Text die Haare zu Berge stehen lässt.

Umso schlagender trifft die Performance. Knöchern ächzt ein unsauber angestrichenes Cello, schallt rustikal angestimmter Gesang durch kahl geschnittene Texte, in denen urzeitliche Beständigkeit und postmoderner Zerfall zusammenprallen. Anadiplosen, Paronomasien, Alliterationen und Diaphern führen durch einen archaisch wuchernden Garten rhetorischer Simplizität. «Wortwiederholung wird zum Weg über die Wiese»; «einfallslose Form folgt hier einfallsloser Form» (den find‘ ich besonders hübsch). Und als geschehe es beiläufig, klingen, weitaus häufiger als man es dem Zufall zutrauen will, hie und da ein altes äolisches Kolon oder anhaltende alternierende Passagen aus den Liedern auf.

Bereits das Manuskript der Knochenlieder gewann im Vorjahr den Literaturpreis der Marianne-und-Curt-Dienemann-Stiftung; das Buch wurde für den Schweizer Buchpreis nominiert.

Das grosse Lesungs-Bingo

Jedes Genre bringt seine typischen Merkmale mit sich. Das gilt für Musik, Literatur, Malerei – und auch für kulturelle Veranstaltungen. Wir haben ein paar Floskeln und peinliche Ereignisse zusammengetragen und eine Bingokarte daraus gemacht. Für alle, die einen zusätzlichen Ansporn suchen, bei den Lesungen genau aufzupassen.

Wer schafft fünf in einer Reihe? Fertige Fünfergruppen bitte in der Kommentarspalte mit Verweisen auf Ort und Zeit der Ereignisse angeben!

Julien Reimer, Carla Peca, Laura Clavadetscher, Simon Leuthold

 

Dunschtig has broken

Ein sonniger Morgen im Zürcher Niederdorf. Die Redaktion freut sich auf einen ereignisreichen Lesetag. Neben Mord mit Morf, der Vernissage der Kriegs-Comic-Reportage von Oliver Kugler und des SAYEDA-Bandes über Frauen in Ägypten stehen heute u.a. die Lesung der für den Buchpreis nominierten Martina Clavadetscher, ein Gartenplausch mit Meir Shalev und das Trampeltier of Love mit Matto Kämpf auf dem Programm. Aber auch die junge Literatur, die Buchpremiere von Gion Mathias Caveltys Tag, an dem es 499 Franz Klammers regnete oder Lorenz Langenegger mit Dorffrieden werden unsere Aufmerksamkeit finden. Der Rest wird nicht verraten. Aber gerated. Früher oder später. Viel Vergnügen.