Bärfuss ist eher Vogel als Ornithologe

«Schön, dass doch noch ein paar gekommen sind», sagt der Moderator Stefan Humbel ironisch zu dem gefüllten Landhaussaal, vor dem sich bereits eine halbe Stunde vor Lukas Bärfuss‘ Lesung eine Schlange gebildet hat. Den gefeierten Autor einmal aus seinem neusten Roman «Hagard» lesen zu hören ist ein Erlebnis, bei dem die manchmal auch sperrige Geschichte neu zu erfahren ist. Bärfuss blüht im gehässigen inneren Monolog des Protagonisten Philip förmlich auf, wenn dieser wie ein Gejagter im öffentlichen Verkehr vor den gelben Westen der Kontrolleure flieht und die halbe Welt beschimpft. Ohne eine Miene zu verziehen und mit einer Sprachmelodie, die erst beim Vorlesen zum Vorschein kommt, bringt Bärfuss mit seinem Text den ganzen Saal zum Lachen.

In Bezug auf den Romantitel «Hagard» – was in der Falknerei für einen unzähmbaren Wildfang steht –, beschreibt Bärfuss sich selbst im kurzen Gespräch mit Humbel eher als Vogel denn als Ornitologen. Beim Schreiben sei er wie ein Jäger, der ausharren und auf seine Beute warten muss. Dabei beschäftigt Bärfuss die Frage, woher sich ein Autor das Recht nimmt, mit seinen Figuren so umzugehen? Vor allem Frauen in bürgerlicher Literatur fallen ihren Autoren zu Opfer wie etwa Madame Bovary, die grauenvoll am Boden verenden muss. Bärfuss fragt sich, was es dem Publikum gibt, diese Figuren so leiden zu sehen? Entweder sei es die Empathie oder eben einfach Schadenfreude. Er vergleicht das mit dem unverschämten Gefühl der Leichtigkeit, wenn man von einer Beerdigung nach Hause gehe und froh ist, dass es einen selbst noch nicht erwischt habe. Diese Überlegungen zeigen sich im Roman in der Fokussierung auf die Erzählfigur, welche ihr Verhältnis zur Geschichte von Philip immer wieder reflektiert.

Flurin Jecker sagt siebenmal Nein

Obwohl er zum ersten Mal an den Solothurner Literaturtagen aus seinem Debütroman «Lanz» liest, lässt sich der 26-jährige Flurin Jecker in keine Schubladen stecken. Auf beinahe jede Frage der Moderatorin Karin Schneuwly antwortet er mit einem bestimmten „Nein“ und lässt diese am Schluss etwas ratlos zurück. Im Protokoll liest sich das etwa so:

Ist dein Debutroman «Lanz» eine stille Verneigung vor Büchners «Lenz»?

Nein, ich habe dabei gar nicht an dieses Buch gedacht. Natürlich hatte ich beim Schreiben auch andere Literatur im Kopf, aber als eine Hommage ist «Lanz» nicht zu lesen.

Die Flucht des Protagonisten Lanz aus der Projektwoche aufs Land ist ja schon fast eine politische Haltung, im Sinne von: geht von der Schule weg und findet euch…

Nein, das ist nicht politisch. Vor allem ist es harmlos. [Lanz packt einen Tag vor Ferienbeginn seine Sachen ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen und fährt mit dem Zug ins Bündnerland zu seinen Verwandten.] Meine These ist eben gerade, dass die Jugendlichen nicht immer schlimme Sachen tun wollen, wie etwa ein Auto klauen, wie das alle erwarten würden. Lanz findet sein Glück in altmodischen Sachen, wie Gespräche oder die Verbundenheit mit der Natur – in dem er mit seinen Cousins etwa Maulwurfhügel sucht. Dadurch findet er wieder zu sich selbst.

Idealisierst du damit nicht das Land gegenüber der Stadt?

Diese Gefahr besteht, aber ich glaube es geht bei dieser Flucht viel mehr darum, dass Lanz nicht mehr nur in seinem Kopf lebt. Und dass er zu einem Ort voller Kindheitserinnerungen zurückkehrt. Das könnte auch in der Stadt geschehen.

Das Hauptthema der Jugendlichen ist ja Sex…

Nein, dem würde ich widersprechen. Ich bin ja jetzt 26 Jahre alt und die Faszination dafür hat immer noch nicht aufgehört. Deshalb sollte Lanz nicht darauf reduziert werden. Er will ja auch nicht eine vögeln, sondern viel lieber mit einem Mädchen schreiben.

Handelt es sich dabei etwa um eine Ödipusgeschichte?

Nein, die Versöhnung von Lanz mit seiner Mutter findet statt, weil er am Ende der Geschichte seine Lebendigkeit wieder findet und deshalb die Verbindung zu ihr wieder sucht.

Ist das Buch als eine stille Kritik der Überreizung der Jugendlichen durch die sozialen Medien zu lesen?

Nein, im Gegenteil. Es geht ja vor allem ums Schreiben, was ja völlig «reizunterflutend» ist. Meine These ist, dass Lanz diese Reize eben nicht braucht und vor dieser Überflutung eher flüchtet.

Das Buch hat ja eine ganz eigene Sprache. Hast du zu diesem Zweck 14-jährige beim Sprechen beobachtet?

Nein, überhaupt nicht. Viele haben mit zwar diesen Tipp gegeben, aber das hat mich überhaupt nicht interessiert. Das wäre ja auch unsinnig, da sich Sprache immer so schnell weiterentwickelt. Um dies einzufangen ist der Literaturbetrieb ja viel zu langsam. Die Sprache sollte nicht einer spezifischen Zeit, sondern der Hauptfigur des Romans treu bleiben. Kein Jugendlicher heute würde etwa das das Wort «ultra» benutzen, aber Lanz nehme ich das ab.

Sechs Figuren suchen eine Autorin

In der Westschweiz schon lange kein Geheimtipp mehr, im Osten hingegen noch fast ungesehen, hatte die „Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands“ – kurz: L’AJAR – gestern abend ihren ersten eindrücklichen Auftritt in Solothurn.

Im Zentrum der Performance stand die fiktive Autorin Esther Montandon, eine der „meistgelesenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts“, die auch das von L’Ajar herausgegebene „Vivre près des tilleuls“ verfasst hat und der die sechs Akteure gestern im Kino Uferbau ihre Stimmen liehen. Es war eine ganz eigene Art der Autorfiktion, die sich da abzeichnete: Nach und nach reicherte L’Ajar die knappe Lebensbeschreibung der Montandon mit Parenthesen an, bis da auf einmal eine ganze Erzählung vor den Zuschauern stand. Aus der Überzeugung des kollektiven Schreibens erwuchs so reziprok wieder Autorschaft – nur um dann in einer zweiten Performance wieder zu zerfallen. Die literarische Arbeit in der Community wurde auf einmal als ein Zersetzungsprozess im Wordprozess sichtbar, immer wieder wurde der an die Wand projizierte Text umgeschrieben, bis er auf jene vier Zeilen heruntergekürzt war, die das vierundvierzigste Kapitel von „Vivre près des tilleuls“ bilden:

Personne ne m’avait expliqué le vide au creux des entrailles, le vrombissement dans le cerveau, le tremblement des mains. Qu’on me rende ma fille quelques années, quelques jours. Elle me manque.

Der Vortrag des programmatischen Schlusstextes blieb dann leider etwas hinter den vorigen Darbietungen zurück, allein das Timing der gesprochenen Einzelsequenzen war bewundernswert. Und so blieb dann am Ende dasjenige über, was Esther Montandon uns zu verstehen aufgetragen hat: „la fiction n’est absolument pas le contraire du réel.“

P.S.: Wer L’Ajar gestern verpasst hat, kann das Versäumnis am Sonntag um 14 Uhr – erneut im Kino Unterbau – nachholen. Dann allerdings gibt es „Lecture“.

Von Dystopien und Scheinheiligen

Die Cantina del Vino, eine charmante Weinbar gleich an der Aare, ist seit kurzem  auch ein Radiostudio: Hier werden in den nächsten Tagen Live-Beiträge von SRF 2 übertragen. Heute Abend zu Gast: Martina Clavadetscher, Schriftstellerin und Kolumnistin und Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur von „Der Freitag“.

„Gutes Wetter und Literatur schliessen sich nicht aus“, so die Einstiegsworte von Moderatorin Luzia Stettler, die auf die überfüllte und frischluftarme Cantina del Vino anspielt. Die Hitze tut der gespannten Stimmung im SRF-Provisorium aber keinen Abbruch: Der Kurzlesung von Martina Clavadetscher aus ihrem soeben erschienenen Roman „Knochenlieder“ wird gebannt gelauscht, auch wenn die Autorin düstere und verstörende Zukunftsvisionen zeichnet. „Knochenlieder“ erzählt die Geschichte zweier Familien, die zunächst als Aussteiger in einem Wald leben, deren Kinder aber die Welt sehen wollen und aus dem sicheren Hafen ausbrechen. Die Welt „draussen“ ist jedoch ein erbarmungsloser Überwachungsstaat, der die Menschen nach ihren Passierscheinen beurteilt und stark an George Orwells 1984 erinnert. Ist diese Dystopie möglicherweise bald Realität? Clavadetscher verneint – zaudernd. Die heutige Welt sei bloss ihr literarischer Nährboden gewesen. Aber: „Es ist wichtig, dass wir unsere Probleme reflektieren und dass man den Finger auf aktuelle Wunden legt“, so Clavadetscher. Darin sehe sie auch die Stärke und das Potential von Literatur.

Eine nicht weniger düstere Zukunft – zumindest für alle Freunde des gedruckten Worts – imaginiert Michael Angele in seinem essayistischen Buch „Der letzte Zeitungsleser“. Typographisch wie ein Zeitungsartikel gestaltet, stilisiert Angele darin das Zeitungslesen zur Lebensform. Ist die Veröffentlichung eines wehmütigen Abgesangs auf das bedruckte Papier als Informationsquelle nicht etwas scheinheilig, wenn man  als zeitgemässer Zeitungsredakteur, selbst im digitalen Zeitalter angekommen, einen Online-Auftritt mitbetreibt, hakt Luzia Stettler nach. Und trifft damit ins Schwarze. Michael Angele muss ihr etwas zähneknirschend recht geben. Aber: „Gelesen wird ja immer“, so Angele. Wenn auch die Papierform in der Zeitungsbranche zunehmend marginalisiert wird, so erfreuen sich Bücher nach wie vor grosser Beliebtheit. Michael Angele hat für seinen Nachruf vorausschauend ein Medium von längerer Dauer gewählt. Ob da ein gewisser Zynismus mitschwingt, sei einmal dahingestellt.

 

Lesedramen

„Wie einer lebt im Jahr 2016, in Berlin, und wie dieser jemand zufällig ich ist“ – so lautet nach eigenem Bekunden die Vorgabe für Matthias Zschokkes aktuellen, von der Kritik zu Recht sehr wohlwollend aufgenommenen Roman „Die Wolken waren groß und weiß und zogen da oben hin“. Aus dem scheinbar Zufälligen, Alltäglichen poetische Prosa zu gewinnen, gehört zu Zschokkes seit mehr als drei Jahrzehnten unter Beweis gestellten Gaben. Entsprechend gross ist das Interesse, Zschokke füllt den Saal. Mit einer Prosa, die gerade die grosse Geste zu meiden sucht und sich, wie der aktuelle Roman auch thematisch macht, eher im scheinbar absichtslosen Parlando oder gar Kneipengespräch heimisch fühlt. Entsprechend schnell sucht Zschokke nach einem von allerlei Kleintier und Publikumslachern bevölkerten ersten Leseteil den Weg aus dem Moderatorengespräch. „Ich glaub, ich les am besten weiter“, unterbricht der gewohnt lakonisch auftretende Autor seinen Exkurs über die nicht unbedingt verkaufsfördernd ausstaffierten Todeswünsche seiner Figuren. Einige einleitende Worte zu dem im Roman aufgebotenen Theaterstück lässt er sich dennoch nicht nehmen. Dramen habe er immer gern gelesen und bedaure, dass diese Praxis offenbar am Aussterben sei. Thomas Bernhards prosanahe Stücke dienen denn auch seiner erfolglos um ein eigenes Drama ringenden Figur als Vorbild. Das freilich nicht ganz erreicht wird. Vielmehr erscheint ihr das eigene Sprechen „als eine Art Blähung, viel Reden bläht mich auf, darum hasse ich mich, wenn ich zu viel rede.“ Während die Figur noch räsoniert, ob den entweichenden Gasen mit einem Streichholz beizukommen sei und die eigene Bewegungslosigkeit beschwört, während um sie herum neue Geschäfte kommen und wieder verschwinden, wird es den ersten Zuhörerinnen und Zuhörern zu viel des Guten. Was keineswegs gegen Zschokkes perfekt gearbeitete, nur scheinbar absichtslos ergehende Prosa spricht. Die man einmal live erlebt haben sollte, um desto entschiedener ihre unerhörten Qualitäten als Lesedrama schätzen zu können. Dessen Ort eben nicht die ganze grosse Bühne ist.

Kinder machen mit!

Was macht man als Eltern, wenn das Kind nicht einschlafen kann? Eine Geschichte könnte helfen. Dana Grigorcea liefert mit ihrem Bilderbuch „Mond aus!“ eine Einschlafgeschichte mit Charakter. Der Wolf, der nicht einschlafen kann, wird mit scharfen Zähnen dargestellt, die Bilder sind düster in dunklen Farben gemalt. Eher ungewöhnlich für ein Kinderbuch. Eine ganze Reihe von Verlagen lehnte erstmal ab, wie die Autorin freimütig erzählt. Aber den Kindern scheint es zu gefallen. Das beweisen die Anekdoten, welche die Autorin immer wieder in ihre Erzählung einfliessen lässt und damit das Publikum zum Lachen bringt. Denn Kinder sind ein ganz anderes Publikum als Erwachsene. Kinder fiebern mit und sind Teil der Geschichte. Wenn in der Geschichte ein Frosch quakt und den Wolf dadurch am Schlafen hindert, beginnen auch die Kinder zu quaken.

Mit dem Bilderbuch sollen die Kinder zur Empathientwicklung angeregt werden, aber in erster Linie soll es sie natürlich zum Schlafen bringen, denn auch der Wolf findet am Schluss einen Weg, um einzuschlafen. Und wenn der Wolf schläft, dabei aber die Grillen immer noch wach sind, dann soll das nichts anderes bedeuten, als, dass die Eltern auch wach sein dürfen, wenn das Kind schläft.

Die Schweiz in den Wechseljahren

Das erste Schlendern durch die Solothurner Altstadt führt mich über die Kreuzacherbrücke zum Aussenpodium am Klosterplatz. Hier platze ich in eine Performance von Patti Basler – die wie ich im nachhinein herausfinde, zu den etabliertesten Poetinnen in der Schweizer Slamszene gehört und zur Zeit gerade mit ihrem Programm «Frontalunterricht» unterwegs ist. Aus diesem stammen auch die Texte, welche die gelernte Sek-Lehrerin aus dem Fricktal zum Besten gibt. Ganz im Stile des Poetry Slam spielt sie mit dem Klang der Sprache und bringt mit ihrem ersten Text, der eine kritische Anrede an die Schweiz ist, die Vorbeigehenden zum Innehalten und das bereits im Schatten sitzende Publikum zum Lachen. «Madame la Montagne, Sie sind in den Wechseljahren!» posaunt sie ins Mikrofon und stellt bedauernd fest: «Es ist vorbei mit den fruchtbaren Tagen.» Auch der Einzug der digitalen Medien in den Schweizer Alltag bleibt nicht unkommentiert: «Laut schreit nur noch Tripadvisor.»

Auf diese Rede an die Heimat folgen Erinnerungen an ihre massive Primalschullehrerin Fräulein Scheidegger, für die sie eine Berganalogie nach der anderen findet. Der Text endet mit dem gleichen Satz, mit dem er anfängt, nämlich der Lieblingsaussage von Fräulein Scheidegger: «Wichtig ist nicht, wer es macht, sondern dass es gemacht wird» – was mit der Fantasie endet, die Lehrerin mit einer von ihr angepriesenen Wortkette zu erwürgen.

Nach diesem Pointenfeuer hat es der nächste Redner Marcel Reber nicht leicht. Auch beim eine Generation älteren Schauspieler aus der Berner Kleintheaterszene  geht’s um Pädagogik, verknüpft mit Politik und dem Wetter – was leider ausser ein paar witzigen Wortspielen nicht so mitreissen mag. Doch gerade das weite Spektrum und die unterschiedlichen Beiträge, die hier einen Platz finden, gefällt an diesem Format des Aussenpodiums, wo sich jeder frühmorgens eintragen darf, um für 15 Minuten die kleine Bühne für sich zu haben. Lässt dabei die eine Pointe ein bisschen zu lange auf sich warten, kann der Zuhörer ungeniert weiterschlendern, was auch eine Form literarischer Basisdemokratie ist.

Ein sicherer Wert: Volker Braun

Gedichte sind Zufallsfunde, es muss mehr gestrichen als geschrieben werden, findet Volker Braun. Aber was er findet, hat es in sich. Seine «Handbibliothek der Unbehausten», deren Titel auf ein freistehendes Bücherregal zurückgeht, ist genau das. Eine Sammlung dieser Zufallsfunde, bei denen man das Gefühl kriegt, die ganze Welt habe sich hier bedient und wieder reingelegt. Dieser Eindruck trifft hart mit der Strenge Volker Brauns zusammen, die sich auch formal niederschlägt. Zum Beispiel, wenn auf Seite 8 im Hexameter des dritten Distichons Volker Braun die zwingende bukolische Brücke zwischen «vom» und «Fleisch» ignoriert, die dann tatsächlich «abfällt». Erleichtert hört man aber auch das «Smartfon», neckisch der eigenen Sprache angepasst.

Nur einmal wird mir unangenehm, wenn ein «abgemagerter Leib», dessen «Sternum aus der Brust ragt» sich nach einem weichen Busen sehnt, «der [das] Blut beschleunt; fest wie für ewig vertäut». Formal einmal mehr meisterlich, ist dieses Bild des alternden Herrn, der sich nach «lieblicher» Gesellschaft sehnt, doch abgenutzt bis klischiert.

Das ist erstaunlich, besonders insofern, dass Volker Braun ansonsten eigene Bilder und Klänge findet, ob nun zufällig oder nicht.

Wegschauen – Wegerzählen

„Der böse Wolf muss vorkommen!“ So die Forderung ihrer Kinder, als die bisher als Romanautorin bekannte Dana Grigorcea zu einer Erzählung ansetzt, die beim Einschlafen helfen soll. Das daraus hervorgegangene Bilderbuch erfüllt, wie die Autorin in der Solothurner Mittagshitze versichert, durchaus seinen Zweck als Einschlafhilfe – aber vom bösen Wolf keine Spur. Ein struppiges, kleines, geradezu bemitleidenswertes Geschöpf präsentiert sich stattdessen dem Leser im Mondlicht. Das den kleinen Wolf am Einschlafen hindert.

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Wo ein Fluss, da ein Heim?

In ihrem Debüt „Was den Fluss bewegt“ reflektiert Dina Sikirić ein hochaktuelles Thema: Was geschieht mit einem Menschen, der seine Heimat hinter sich lassen muss, um sich in der Fremde eine neue zu erschaffen?
Als kleines Mädchen hat sie in den 60er Jahren zusammen mit ihrer Mutter ihr Heimatland Kroatien hinter sich gelassen, um in der schweizerischen Rheinhauptstadt ein neues Leben zu beginnen. Ihre Geschichte von Um- und Eingewöhnung, von Entwurzelung und vom Fremdsein erzählt sie in diesem stark autobiographisch gefärbten Roman. Erschienen 2016 im Waldgut Verlag, ist es das dritte Buch aus der Reihe „waldgut zoom“, welche insbesondere auf junge Literatur fokussiert. „Jung“ das meint selbstredend „frisch, neue Formen für gute Ideen, ungewohnt bis unbrav, hochinteressant bis kühn“, also Literatur, die aufwühlt, die bewegt.
Und wie bewegend Dina Sikirićs Buch wirklich ist, kann das Publikum an diesem Freitagvormittag in der überfüllten Säulehalle gut mitfühlen: Sikirić liest und erzählt von ihrer Migration in fragmentarischen Erinnerungen, in leichtfüssiger, präziser Sprache. Angekommen in einer Schweiz der 60er Jahre, musste sie sich erst an die sperrigen Einheimischen gewöhnen, die sie ihre Fremdheit immer wieder spüren liessen. „Die Schweiz war damals noch ein sehr in sich verkapseltes Land“, erinnert sich Sikirić. Viele hätten nicht einmal gewusst, wo Kroatien liegt, obwohl das Land nur eine Nachtreise entfernt war. Und mit dieser noch sehr klaren Erinnerung beginnt denn auch der Roman: „Der Zug fuhr durch die Nacht“, heisst es zu Beginn. Er trägt das 5-jährige Mädchen in die Stadt mit dem grossen Fluss, die sich im Roman allerdings nie explizit als Basel zu erkennen gibt. Im ganzen Buch werden bewusst keine Ortsnamen genannt, der Text soll unverortet bleiben. So wie auch die Autorin, die einst in der ganzen Welt beheimatet, erst seit 2007 wieder fest in der Schweiz lebt. „Was den Fluss bewegt“ umschreibt also letztlich auch eine Daseinsform, ein Leben in Bewegung: Die Romanfigur tingelt zwischen den Welten, der schweizerischen und der kroatischen. In der Stadt am Fluss lebt sie zeitweise getrennt von der arbeitenden Mutter in einem katholischen Kinderheim, umgeben von Fremdheit; in den Ferien geniesst sie die Wärme und Zuneigung ihrer grossen Familie, verkörpert aber auch da das Andere. Doch die Entwurzelung ist nicht nur negativ, der Roman kein Nostalgiebericht. Fremd zu sein, das ist auch eine Chance. Die Chance zu fliessen, sich zu öffnen, für Neues. Diese Tage der Lesungen und Gespräche erinnert die Aare daran. Auch das ist Solothurn: ein Fluss. Bewegung.