Vom Leben in einem Spalt

Ein wenig nervös erscheint Flurin Jecker zur Lesung seines Debütromans „Lanz“ in der Säulenhalle. Er: 26-jährig; das Publikum mehrheitlich doppelt so alt; der Roman ein Buch über einen pubertierenden Jungen. Ob diese Kombination funktionieren kann? Sie kann! Lanz‘ Jugendsprache, in der die Fliegen und Kühe herumlatschen und alles ULTRA dramatisch und ULTRA schlecht ist, zieht einem sofort in die Untiefen eines Teenager-Universums. Das Publikum lacht und denkt dabei wohl auch an die eigene verkorkste Jugendzeit zurück. Auch Flurin Jecker erlaubt sich bei einigen Passagen zu lachen, nun wissend, dass er das Publikum in der Tasche hat. Einziger Kritikpunkt, wenn man Lanz hört, ist, dass seine Gedankensprünge von Erzählungen über die Kindheit wieder zurück zur Realität nicht immer ganz klar sind. Ob es daran liegt, dass er in Blogform schreibt, und ein Blog eben zum Selberlesen gedacht ist?

Moderatorin Karin Schneuwly möchte denn auch von Jecker wissen, was ihn denn so an diesem Teenie-Alter fasziniert habe, dass er gleich seine Abschlussarbeit des Schweizerischen Literatur-Instituts in Biel darüber geschrieben habe. Jecker meint, er habe einfach begonnen zu schreiben. Irgendwann habe er dann gemerkt, dass seine Hauptfigur ziemlich viel zu sagen hätte, und dass diese eben noch sehr jung sei.

In diesem Alter verlässt man seine Kindheit, man verliert die Geborgenheit und enge Verbindung zu den Eltern, aber hat nichts womit man diese Lücke füllen kann. Man geht ja immer noch zur Schule; aber man lebt wie in einem Spalt – das Alte ist vorbei, das Neue aber noch nicht da.

In der anschliessenden Signierstunde zeigt sich, dass Flurin Jecker ein sympathischer junger Autor ist, der noch immer von seinem eigenen Erfolg überrascht und überwältigt ist und sich deshalb über jeden einzelnen freut, der seinen „Lanz“ mit einer persönlichen Widmung nach Hause tragen möchte.

 

Ein Pfirsich zum Liebkosen

Ilma Rakusa ist nicht nur Dichterin, Erzählerin und Essayistin, sondern in der jüngeren Vergangenheit vor allem als literarische Übersetzerin hervorgetreten. 15 Jahre sind seit ihrer letzten Veröffentlichung von Gedichten vergangen.  Als Lyrikerin zurückgemeldet hat sie sich mit dem Gedichtband „Impressum: Langsames Licht“ trägt, aus dem sie an diesem drückend heissen Samstagvormittag in Solothurn liest. 

Einführend wird Rakusa als Reisende und Weltbürgerin beschrieben. Als sie Gedichte aus dem Kapitel ‚Orte‘ vorliest, wird schnell klar, warum. Denn diese reichen von Osteuropa, über Berlin und einem nordschwedischen Universitätsstädtchen bis nach Japan und Teheran. Ihren scharfen Blick setzt sie an all diesen noch so verschiedenen Orten ein. Unterschiedlich sind aber auch die Formen, die in diesem Band zusammentreffen. Jedem der sieben Kapitel ist ein Haiku vorangestellt, ihnen folgen dann teils längere Gedichte mit fast schon epischem Charakter.

Bei ihrer Lese-Auswahl scheint sich die Autorin für viele Gedichte über Alltägliches entschieden zu haben und diejenigen mit leichterem Ton aus der Sammlung hervorheben zu wollen. Dennoch kamen dem Publikum zu Ohren, wie Leute „aufwärts sterben“, wie Farben Klänge bekommen, wie nach der „Anleitung zu einem anderen Leben“ gefragt wird.

Dass ihr das Klangliche besonders wichtig sei, führt sie im kurzen Gespräch mit Christoph Kuhn aus. Der reine Wohlklang störe sie aber eher. Sie müsse die Harmonie immer wieder brechen, weil es für sie Reibung in den lyrischen Formen brauche. Kurz darauf liest sie von den Liebkosungen eines Pfirsichs sowie dem feinen Streichen über ein Perserkissen und plädiert für mehr Zärtlichkeit in unserer Welt – dem daraufhin schmunzelnden Publikum entgegnet sie verschmitzt: „Na, probieren Sie’s mal aus“.

Aufgeweichte Welt

Julia Weber ist mit „Immer ist alles schön“ eines der wichtigsten Bücher des Frühjahrs gelungen. Die teils märchenhaft verfremdete, doch stets genau beobachtete Geschichte von Anais, die sich und ihren kleineren Bruder Bruno durch das heitere bis manische Leben mit einer alkoholkranken Mutter manövriert, ist überzeugend an der Grenze zwischen Wahrnehmen und Erkennen gestaltet. Die Kinderperspektive wird durchgehalten auch dort, wo es wehtut und die Leserinnen und Leser längst verstehen, wo die Kinder noch hoffen. Ob es denn auch eine Version mit Happy End gegeben habe, fragt die bestens vorbereitete Moderatorin nach dem ersten Leseblock. Wider besseres Wissen habe sie stets darauf gehofft, den verletzlichen Kindern eile doch noch jemand zur Hilfe. Sie habe alle Varianten ausprobiert, bekennt Julia Weber, die sich als versierte Vorleserin und reflektierte Gesprächspartnerin präsentiert. Auch schlimmere seien darunter gewesen. Am Ende jedoch habe sich der Plot aus der Sprache entwickelt. Anais‘ Hoffnung, neben der vom Alkoholdunst der Mutter „aufgeweichten Welt“ warte noch eine weitere auf sie, muss der Text enttäuschen. Meisterlich hingegen führt Julia Weber in ihrem Debüt vor, wie von einer solchen aufgeweichten Welt auf stilistisch kompromisslose, aber gerade deshalb empathiefähige Weise erzählt werden kann. Trotz vieler Details ist kein Satz zu viel, kein Stimmungsbild bloss nett arrangiertes Dekor. Das trotz hochkarätiger Parallelveranstaltungen und Mittagszeit vollbesetzte Theater lässt darauf schliessen, dass Julia Webers Können sich bereits herumgesprochen hat. Tant mieux!

Bürgerrechte für literarische Figuren?

Das Gespräch über Lukas Bärfuss und seinen „Hagard“ fällt zugunsten einer ausgedehnten Lesung eher knapp aus. Das Übliche: die zu grosse Geschichte, die Photonenwogen, das Farbenspiel, die Kämpfe, die niemals tödlich enden. Neues: der Speichelfaden, das Gezücht aus der Kreativbranche, der monumentale Hintern. Mehr als sonst zeigt Bärfuss auch das komische Gesicht seines Textes und demonstriert, dass ein leidenschaftliches Vortragen auch umfangreichen Leseauszügen grossen Anklang im Publikum verschaffen kann – der Mann weiss, wie es auf der Bühne läuft.

Eine kurze Diskussion wirft die vor wenigen Stunden bereits im Podium angerissene Frage wieder auf: Woher nimmt der Autor das Recht, über die von ihm erschaffenen Figuren zu verfügen? Wo Jonas Lüscher keine Skrupel kennt und mit den Kindern seines Geistes tut, was ihm beliebt, äussert Bärfuss moralische Bedenken. Der Autor tritt als Schöpfer in eine Verantwortung. Man bringt seine Figuren in Not und verführt sogar andere Menschen, die Leserschaft, zum Beiwohnen peinlicher Taten, privater Angelegenheiten und intimer Gedanken. Als Bühnenautor, verbildlicht Bärfuss, sei er oftmals vor die Situation gestellt, dass seine Figuren zu solchen aus Fleisch und Blut werden, zu Menschen, die Unangenehmes verkörpern müssen – Unangenehmes, das er erfunden hat, wofür er verantwortlich ist. Man müsse einen guten Grund haben, wenn man jemandem so etwas antut.

Dass fiktive Figuren über reale moralische Rechte verfügen, bleibt sicher zweifelhaft, aber dass sie in der Interaktion mit ihrem Publikum in eine soziale Verantwortung treten und im Gefüge der Gesellschaft oft wie reale Entitäten funktionieren, scheint ein beachtenswerter Gedanke. Nicht zuletzt ist es eine alte Frage: So spricht bereits Kant über die Verrohung des Menschen bei der Misshandlung menschenähnlicher Wesen, und auch in der aristotelischen Poetik finden sich Normen zum Schicksal erfundener Seelen. Diese Fragen werden die Literatur folglich noch über die Saison hinaus zu beschäftigen wissen.

Das Leben ist verrückt!

Zwei Autoren, die sich vorher nicht kennen, lesen das Werk des anderen und tauschen aus – soweit das Konzept von „Im Dialog“.  Ein Risiko, wie Urs Faes betont, schliesslich sind Autoren aufmerksame und kritische Leser und nicht zuletzt auch Rivalen. Das Gespräch zwischen Faes und Kathy Zarnegin verläuft jedoch harmonisch.

Die Diskussion kommt bald auf die übliche Leserfrage: Wie autobiographisch  sind ihre Werke? Weder Faes noch Zarnegin negieren das autobiographische Fundament. Beide schreiben aufgrund von Beobachtungen an sich selbst und ihrem Umfeld. Doch diese Eindrücke werden versprachlicht, werden exemplarisch, damit der Leser sie nachvollziehen kann. Zarnegin spricht gar davon, den Leser an die Leine zu nehmen. Sie meint damit, den Rhythmus so zu gestalten, dass die Leseraufmerksamkeit fokussiert bleibt.

Wie sehr übertreiben Autoren? Fazit; gar nicht. Im Gegenteil, sie untertreiben massiv, um ihre Glaubwürdigkeit nicht zu verlieren. So meint Zarnegin: Ein Mann, der auf ein Dekolleté starrt, ist ja eine Kleinigkeit. Faes kann nur hinzufügen: Die Wirklichkeit ist so verrückt, dass man eher zurücknimmt. Die Wahrhaftigkeit des Erzählten sei jedoch zentral. Es geht dabei nicht um Fakten, sondern um die präzise Erzeugung eines Bildes im Kopf. Dabei soll jedoch auch ein Leerraum bestehen bleiben, denn der mündige Leser selbst ausfüllt mit seinen eigenen Erfahrungen.

Eine besondere Herausforderung sieht gerade Faes im Verhältnis von Leben und Schreiben. Verpasst man über dem Schreiben das Leben? Zarnegin empfindet es nicht so: Wir haben das Glück verschiedene Leben haben zu können, mehrere. Beide haben jedoch Mühe mit den Übergängen, mit dem Anfangen. So putzt Zarnegin vorher die Badewanne, statt gleich mit Schreiben zu beginnen, während Faes auf stur schaltet. Er kann auch mehrere Stunden einfach dasitzen und auf das Startwort warten.

Nachdem im Kontext von Übertreibungen die Männerfiguren in Zarnegins Buch „Chaya“ angesprochen wurden, springt das Thema später auf die Frauenfiguren bei Faes. Zarnegin empfindet das Buch „Halt auf Verlangen“ als eine Widmung an die Frauen, die das Leben repräsentieren. Faes will da stärker differenzieren: Seine Frauen seien an das Leben gebunden, selbstbewusst und pragmatisch im Alltag.

Doch wie so oft, wenn das Gespräch richtig in Schwung kommt, ist das Ende bereits vor der Tür. Wer den beiden Autoren weiterfolgen möchte, kann Urs Faes heute um 16:00 Uhr im Palais Besenval hören und Kathy Zarnegin liest am Sonntag Nachmittag aus ihrem Romandebüt „Chaya“.

Bärfuss ist eher Vogel als Ornithologe

«Schön, dass doch noch ein paar gekommen sind», sagt der Moderator Stefan Humbel ironisch zu dem gefüllten Landhaussaal, vor dem sich bereits eine halbe Stunde vor Lukas Bärfuss‘ Lesung eine Schlange gebildet hat. Den gefeierten Autor einmal aus seinem neusten Roman «Hagard» lesen zu hören ist ein Erlebnis, bei dem die manchmal auch sperrige Geschichte neu zu erfahren ist. Bärfuss blüht im gehässigen inneren Monolog des Protagonisten Philip förmlich auf, wenn dieser wie ein Gejagter im öffentlichen Verkehr vor den gelben Westen der Kontrolleure flieht und die halbe Welt beschimpft. Ohne eine Miene zu verziehen und mit einer Sprachmelodie, die erst beim Vorlesen zum Vorschein kommt, bringt Bärfuss mit seinem Text den ganzen Saal zum Lachen.

In Bezug auf den Romantitel «Hagard» – was in der Falknerei für einen unzähmbaren Wildfang steht –, beschreibt Bärfuss sich selbst im kurzen Gespräch mit Humbel eher als Vogel denn als Ornitologen. Beim Schreiben sei er wie ein Jäger, der ausharren und auf seine Beute warten muss. Dabei beschäftigt Bärfuss die Frage, woher sich ein Autor das Recht nimmt, mit seinen Figuren so umzugehen? Vor allem Frauen in bürgerlicher Literatur fallen ihren Autoren zu Opfer wie etwa Madame Bovary, die grauenvoll am Boden verenden muss. Bärfuss fragt sich, was es dem Publikum gibt, diese Figuren so leiden zu sehen? Entweder sei es die Empathie oder eben einfach Schadenfreude. Er vergleicht das mit dem unverschämten Gefühl der Leichtigkeit, wenn man von einer Beerdigung nach Hause gehe und froh ist, dass es einen selbst noch nicht erwischt habe. Diese Überlegungen zeigen sich im Roman in der Fokussierung auf die Erzählfigur, welche ihr Verhältnis zur Geschichte von Philip immer wieder reflektiert.

Flurin Jecker sagt siebenmal Nein

Obwohl er zum ersten Mal an den Solothurner Literaturtagen aus seinem Debütroman «Lanz» liest, lässt sich der 26-jährige Flurin Jecker in keine Schubladen stecken. Auf beinahe jede Frage der Moderatorin Karin Schneuwly antwortet er mit einem bestimmten „Nein“ und lässt diese am Schluss etwas ratlos zurück. Im Protokoll liest sich das etwa so:

Ist dein Debutroman «Lanz» eine stille Verneigung vor Büchners «Lenz»?

Nein, ich habe dabei gar nicht an dieses Buch gedacht. Natürlich hatte ich beim Schreiben auch andere Literatur im Kopf, aber als eine Hommage ist «Lanz» nicht zu lesen.

Die Flucht des Protagonisten Lanz aus der Projektwoche aufs Land ist ja schon fast eine politische Haltung, im Sinne von: geht von der Schule weg und findet euch…

Nein, das ist nicht politisch. Vor allem ist es harmlos. [Lanz packt einen Tag vor Ferienbeginn seine Sachen ohne seinen Eltern ein Wort zu sagen und fährt mit dem Zug ins Bündnerland zu seinen Verwandten.] Meine These ist eben gerade, dass die Jugendlichen nicht immer schlimme Sachen tun wollen, wie etwa ein Auto klauen, wie das alle erwarten würden. Lanz findet sein Glück in altmodischen Sachen, wie Gespräche oder die Verbundenheit mit der Natur – in dem er mit seinen Cousins etwa Maulwurfhügel sucht. Dadurch findet er wieder zu sich selbst.

Idealisierst du damit nicht das Land gegenüber der Stadt?

Diese Gefahr besteht, aber ich glaube es geht bei dieser Flucht viel mehr darum, dass Lanz nicht mehr nur in seinem Kopf lebt. Und dass er zu einem Ort voller Kindheitserinnerungen zurückkehrt. Das könnte auch in der Stadt geschehen.

Das Hauptthema der Jugendlichen ist ja Sex…

Nein, dem würde ich widersprechen. Ich bin ja jetzt 26 Jahre alt und die Faszination dafür hat immer noch nicht aufgehört. Deshalb sollte Lanz nicht darauf reduziert werden. Er will ja auch nicht eine vögeln, sondern viel lieber mit einem Mädchen schreiben.

Handelt es sich dabei etwa um eine Ödipusgeschichte?

Nein, die Versöhnung von Lanz mit seiner Mutter findet statt, weil er am Ende der Geschichte seine Lebendigkeit wieder findet und deshalb die Verbindung zu ihr wieder sucht.

Ist das Buch als eine stille Kritik der Überreizung der Jugendlichen durch die sozialen Medien zu lesen?

Nein, im Gegenteil. Es geht ja vor allem ums Schreiben, was ja völlig «reizunterflutend» ist. Meine These ist, dass Lanz diese Reize eben nicht braucht und vor dieser Überflutung eher flüchtet.

Das Buch hat ja eine ganz eigene Sprache. Hast du zu diesem Zweck 14-jährige beim Sprechen beobachtet?

Nein, überhaupt nicht. Viele haben mit zwar diesen Tipp gegeben, aber das hat mich überhaupt nicht interessiert. Das wäre ja auch unsinnig, da sich Sprache immer so schnell weiterentwickelt. Um dies einzufangen ist der Literaturbetrieb ja viel zu langsam. Die Sprache sollte nicht einer spezifischen Zeit, sondern der Hauptfigur des Romans treu bleiben. Kein Jugendlicher heute würde etwa das das Wort «ultra» benutzen, aber Lanz nehme ich das ab.

Sechs Figuren suchen eine Autorin

In der Westschweiz schon lange kein Geheimtipp mehr, im Osten hingegen noch fast ungesehen, hatte die „Association de jeunes auteur-e-s romandes et romands“ – kurz: L’AJAR – gestern abend ihren ersten eindrücklichen Auftritt in Solothurn.

Im Zentrum der Performance stand die fiktive Autorin Esther Montandon, eine der „meistgelesenen Autorinnen des 20. Jahrhunderts“, die auch das von L’Ajar herausgegebene „Vivre près des tilleuls“ verfasst hat und der die sechs Akteure gestern im Kino Uferbau ihre Stimmen liehen. Es war eine ganz eigene Art der Autorfiktion, die sich da abzeichnete: Nach und nach reicherte L’Ajar die knappe Lebensbeschreibung der Montandon mit Parenthesen an, bis da auf einmal eine ganze Erzählung vor den Zuschauern stand. Aus der Überzeugung des kollektiven Schreibens erwuchs so reziprok wieder Autorschaft – nur um dann in einer zweiten Performance wieder zu zerfallen. Die literarische Arbeit in der Community wurde auf einmal als ein Zersetzungsprozess im Wordprozess sichtbar, immer wieder wurde der an die Wand projizierte Text umgeschrieben, bis er auf jene vier Zeilen heruntergekürzt war, die das vierundvierzigste Kapitel von „Vivre près des tilleuls“ bilden:

Personne ne m’avait expliqué le vide au creux des entrailles, le vrombissement dans le cerveau, le tremblement des mains. Qu’on me rende ma fille quelques années, quelques jours. Elle me manque.

Der Vortrag des programmatischen Schlusstextes blieb dann leider etwas hinter den vorigen Darbietungen zurück, allein das Timing der gesprochenen Einzelsequenzen war bewundernswert. Und so blieb dann am Ende dasjenige über, was Esther Montandon uns zu verstehen aufgetragen hat: „la fiction n’est absolument pas le contraire du réel.“

P.S.: Wer L’Ajar gestern verpasst hat, kann das Versäumnis am Sonntag um 14 Uhr – erneut im Kino Unterbau – nachholen. Dann allerdings gibt es „Lecture“.

Messerscharfe Mundakrobatik

Drei Performer mit je einem eigenen Stil, die sich aber alle in der Mundart-Szene bewegen. Eine Rapperin, die energiegeladen nach Reimen sucht, um Grenzen aufzubrechen; ein junger Texter, der sich den Schaden der Neophyten in der Schweiz zu Nutzen macht für seinen literarischen Werdegang; und eine Autorin, die das Sprachenwirrwarr mag, von sich aber behauptet, die Sprachen nicht gut zu beherrschen – das war SRF Schnabelweid «spoken word», live aus der Cantina del Vino in Solothurn. Moderatorin Monika Schärer stellte gezielt Fragen und Mundart-Redaktor Markus Gasser versuchte die Gäste Big Zis, Emanuel Bundi und Ariane von Graffenried sprachlich aus der Reserve zu locken, worauf sich diese aber nicht immer einliessen.

Big Zis’ Performance war geprägt von den klaren Rhythmen und wechselnder Stimmlage und beeindruckte durch schnelle Reime und Wortwiederholungen. Gasser meint dazu: «In diesen Wörtern kann man sich treiben lassen, sie sind mehr als nur Spielerei, denn es sind ernste Themen, die angesprochen werden.» Der Text lebt genau von diesen Bewegungen und Veränderungen und nicht vom einzelnen Wort. «Ich mag es gar nicht, wenn man diese Sachen so genau auseinandernimmt, denn dann bleibt nicht mehr viel übrig», ergänzt sie lachend. Dies hat leider auch zur Folge, dass der Zuschauer nicht jede Anspielung nachvollziehen kann, da das Tempo der vermittelten Gedanken unglaublich schnell ist. In dem Moment, indem sie von der beschwerlichen Planung des neuen Albums spricht, fliegt eine Taube aus dem hinteren Barraum zielstrebig durch die offene Tür nach draussen. Ob dies wohl die Muse war, scherzt Schärer.

Bundis Text in nicht ganz reinem Berndeutsch, wie Gasser betont, nimmt den Zuhörer mit zu einer Begegnung mit Zipfel, der im Zivildienst Neophyten zupft mit Asylanten, die dadurch lernen, wie mit Eindringlingen umgegangen wird. Was erstmal ernsthaft klingt, wird durch Bundis Performance zu einem amüsanten Erlebnis. Laut Gasser bleibt denn auch die Frage offen, wer denn jetzt wem wodurch schade und ob man darin einen gewissen Rechtspopulismus lesen könne. Bundi umschifft die Frage und betont das Positive: «Die Neophyten sind nützlich für meinen literarischen Werdegang, PUNKT.» Was wieder für einige Lacher sorgt.

Weiter über den Schweizer Tellerrand wagt sich Ariane von Graffenried hinaus. Sie trägt Texte vor, die von Fernweh und fremden Welten durchdrungen sind, und die durch wortgewandte Wendungen in Deutsch, Mundart, Französisch und Italienisch imponieren. Ihr gefalle der Klang der verschiedenen Sprachen, durch die auch immer wieder neue Reimmuster entstehen. Durch die Globalisierung vermische sich alles neu. Gasser deutet darauf hin, dass verschiedene Traditionen in ihren Texten vorkommen, z.B. Sätze von Mani Matter. Dürfe man Tradition in Häppchen servieren? «Man darf alles», ist von Graffenrieds eindeutige Antwort darauf.

Auf die Schlussfrage, was die drei denn von Trauffer und seiner Art der Mundart-Performance in «Heiterefahne» halten, überschlagen sich die Antworten. Big Zis findet es problematisch, die eigene Heimat derart zu idealisieren; von Graffenried bezeichnet Trauffers Musik als folkloristischen Schlager, der nicht zu vergleichen ist mit dem, was sie machen; und Bundi plädiert dafür, den Fans diese Illusion der schönen Heimat zu belassen. Hätte Monika Schärer die Diskussion nicht unterbrochen, wäre sie wohl noch deutlich explosiver geworden. Sie schliesst auch mit den Worten: Wir sind nun in einem kleinen Tümpel der spoken-word-Welt geschwadert und haben spannende Einblicke in das Schaffen der Performer erhalten. Und sie hat Recht, dies war ein Ausschnitt, der aufzeigt, wieviel es noch zu diskutieren und entdecken gibt, wie beispielsweise die musikalisch literarische Performance von Big Zis mit Göldin und Narcisse  am Samstag oder die Kurzlesung von Emanuel Bundi am Sonntag 

Simone Ullmann & Pia Weidmann

Von Dystopien und Scheinheiligen

Die Cantina del Vino, eine charmante Weinbar gleich an der Aare, ist seit kurzem  auch ein Radiostudio: Hier werden in den nächsten Tagen Live-Beiträge von SRF 2 übertragen. Heute Abend zu Gast: Martina Clavadetscher, Schriftstellerin und Kolumnistin und Michael Angele, stellvertretender Chefredakteur von „Der Freitag“.

„Gutes Wetter und Literatur schliessen sich nicht aus“, so die Einstiegsworte von Moderatorin Luzia Stettler, die auf die überfüllte und frischluftarme Cantina del Vino anspielt. Die Hitze tut der gespannten Stimmung im SRF-Provisorium aber keinen Abbruch: Der Kurzlesung von Martina Clavadetscher aus ihrem soeben erschienenen Roman „Knochenlieder“ wird gebannt gelauscht, auch wenn die Autorin düstere und verstörende Zukunftsvisionen zeichnet. „Knochenlieder“ erzählt die Geschichte zweier Familien, die zunächst als Aussteiger in einem Wald leben, deren Kinder aber die Welt sehen wollen und aus dem sicheren Hafen ausbrechen. Die Welt „draussen“ ist jedoch ein erbarmungsloser Überwachungsstaat, der die Menschen nach ihren Passierscheinen beurteilt und stark an George Orwells 1984 erinnert. Ist diese Dystopie möglicherweise bald Realität? Clavadetscher verneint – zaudernd. Die heutige Welt sei bloss ihr literarischer Nährboden gewesen. Aber: „Es ist wichtig, dass wir unsere Probleme reflektieren und dass man den Finger auf aktuelle Wunden legt“, so Clavadetscher. Darin sehe sie auch die Stärke und das Potential von Literatur.

Eine nicht weniger düstere Zukunft – zumindest für alle Freunde des gedruckten Worts – imaginiert Michael Angele in seinem essayistischen Buch „Der letzte Zeitungsleser“. Typographisch wie ein Zeitungsartikel gestaltet, stilisiert Angele darin das Zeitungslesen zur Lebensform. Ist die Veröffentlichung eines wehmütigen Abgesangs auf das bedruckte Papier als Informationsquelle nicht etwas scheinheilig, wenn man  als zeitgemässer Zeitungsredakteur, selbst im digitalen Zeitalter angekommen, einen Online-Auftritt mitbetreibt, hakt Luzia Stettler nach. Und trifft damit ins Schwarze. Michael Angele muss ihr etwas zähneknirschend recht geben. Aber: „Gelesen wird ja immer“, so Angele. Wenn auch die Papierform in der Zeitungsbranche zunehmend marginalisiert wird, so erfreuen sich Bücher nach wie vor grosser Beliebtheit. Michael Angele hat für seinen Nachruf vorausschauend ein Medium von längerer Dauer gewählt. Ob da ein gewisser Zynismus mitschwingt, sei einmal dahingestellt.