Who are you oder die Macht der Vergangenheit

Who are you oder die Macht der Vergangenheit

Who are you?

Der Macht der Vergangenheit, aber auch der Ungewissheit der Zukunft widmet sich Anna Sterns dritter Roman. Dessen Titel „Wild wie die Wellen des Meeres“ führt auf falsche Fährten: Nicht Kitsch, sondern literarische Mehrdeutigkeit ist Programm. 

Die Suche nach der eigenen Identität ist in einer immer hektischeren Welt, geprägt von ständigem Entscheidungsdruck, nicht leichter geworden. Davon künden kilometerweise die Selbstfindungsratgeber, aber auch die Romane. Was also fügt der dritte erzählerische Anlauf der unlängst beim Klagenfurter Wettlesen ausgezeichneten Winterthurerin dem Genre hinzu?

Sterns Hauptfigur Ava leidet unter dem allgegenwärtigen Entscheidungszwang. Ihre Selbstfindung erweist sich schon dann als schwierig, als ihr noch alle Wege offen standen. Doch kaum hat sich die 20-jährige Studentin entschieden, ihr naturwissenschaftliches Pflichtpraktikum im hohen Norden Schottlands zu absolvieren, erfährt sie von ihrer ungewollten Schwangerschaft. Diese verschweigt sie ihrem langjährigen Partner Paul. Auch gegenüber den Lesenden wird diese nur angedeutet. In den folgenden, tagebuchartigen kurzen Kapiteln, tauchen wir abwechselnd ein in das Jetzt von Avas Wahrnehmung und Pauls Erinnerungen. Aber auch zunehmend in seine Nachforschungen zu Avas Geschichte und ihrer gemeinsamen Beziehung.

Der scheinbar dringendsten Frage – soll sie das Kind behalten oder nicht – widmet sich Ava überraschenderweise nicht ernsthaft. Viel mehr flüchtet sie vor einer nur bruchstückhaften erzählten Vergangenheit. So bleibt nicht nur das Geschehene, sondern vor allem die Hauptfigur schwer fassbar. Ava wirkt egoistisch und weltfremd. Es ist denn auch nicht sie, sondern Paul, der ihre Vergangenheit aufarbeitet und allmählich einige Geheimnisse rund um das mysteriöse Wesen Ava lüftet. Dabei wird zunehmend klar: Avas geschilderte Erinnerungen entsprechen nicht der Realität, sondern sind verzerrte Vorstellungen.

Der von Ava am meisten zitierte Satz ihres Vaters, „Du darfst nicht alles glauben, was du siehst“, steht somit sinnbildlich für den gesamten Roman. Denn Stern überlässt es den Leserinnen und Lesern, die vielen offenen Fragen und Gedankengänge der Figuren zu interpretieren. Insbesondere Ava weckt dadurch einige nicht allzu positive Gefühle bei den Lesenden. Aber auch die Beziehung zwischen Ava und Paul bleibt bis zum Schluss befremdlich. Was vor allem an ihrer zum Scheitern verurteilten zwischenmenschlichen Kommunikation liegt.

Doch trotz des überraschenden Endes, das sich nicht so ganz mit dem Rest der Geschichte verbinden möchte und uns beinahe ungläubig zurücklässt, ist der Roman der 1990 geborenen Doktorandin der Umweltnaturwissenschaften durchaus lesenswert. Hat man sich erst einmal an den eigenwilligen Schreibstil gewöhnt und Freude daran, eigene Gedanken weiterzuführen, möchte man die vielen Geheimnisse unbedingt aufdecken und legt das Buch nur ungern zur Seite.

Diskussion (1)

  1. Liebe Corina
    Vielen Dank, das ist eine klassische, in weiten Teilen schon fertige Rezension. Stringent gegliedert und ohne verwirrende Seitenaspekte mit guter Gewichtigung von Beschreibung, Analyse und Urteil. Ich habe primär am Anfang ein bisschen redigiert, um den Einstieg plastischer und einladender zu gestalten. Gelegentlich sind die Sätze sehr lang, aber das lässt sich leicht beheben.
    Herzlicher Gruss,
    Christoph

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