Der schöne Schein

Der schöne Schein

Simone Meiers dritter Roman „Kuss“ katapultiert den Leser in die nicht ganz so idyllische Vorstadt Zürichs. Auch die drei Hauptfiguren stellen Prachtexemplare der Zürcher Hipstergesellschaft dar. Ein Beziehungsroman, der die Auswirkungen der Digitalisierung genauer unter die Lupe nimmt – oder dies zumindest versucht.

Nur teilweise freiwillig landen Gerda, Yann und ihre Nachbarin Valerie in einem Vororthäuschen. In diesem verwirklicht sich die arbeitslose Grafikerin, während ihr Freund Yann in einem Thinktank arbeitet. Seine Arbeitskollegen und Freunde bewegen sich in der lokalen Kunst- und Partyszene. Die beiden Thirtysomethings, bis vor kurzem noch DINKs, tun sich schwer mit Gerdas Arbeitslosigkeit – es entspricht nicht ihrem gewünschten Selbstbild. Daher verheimlichen sie diese „blamable“ Situation auch vor Freunden und Familie. Es geht um Anerkennung, aber auch um das bürgerliche Rollenbild der einfachen Hausfrau und des männlichen Alleinverdieners, das in ihren Kreisen kaum mehr akzeptiert ist. Eine Möglichkeit der Image-Politur? Kinder.

Doch Gerda und Yann sprechen nicht darüber, ja sie sprechen kaum noch wirklich miteinander. Obwohl erst drei Jahre zusammen, ist in jeglicher Hinsicht die Luft raus aus der Beziehung. Flexibilität und Abwechslung ist das oberste Gebot der Stunde, in der Routine zum Unding wird. Yann erklärt sich daher kurzerhand zum guten, modernen Mann, der „grundsätzlich unschuldig“ ist. An den Problemen der Welt, aber auch unschuldig bezüglich Beziehungsproblemen. Und erst recht an der peinlichen Versorger-Situation der beiden. Gerda hingegen flüchtet sich in eine imaginäre Affäre mit Yanns Arbeitskollegen Alex, um dem öden Alltag zu entkommen. Derweil verpasst sich die 50-jährige Valerie, ihres Zeichens alternde Promi-Journalistin, eine Verjüngungskur. In Form eines jungen Liebhabers.

Mittelpunkt der Erzählung bildet Gerdas Emotional Affair, die ein aktuelles Problem deutlich hervortreten lässt. Wie ein Teenager verbringt sie Stunden vor dem Computer, nur um zu sehen, ob Alex online ist. Dabei fantasiert sie über mögliche Gespräche und Treffen mit ihm. Doch die tatsächlichen Begegnungen mit Alex können nicht mit dem Kopfkino mithalten. Immer wieder erweist sich die Realität als störend, unbefriedigend – was Gerda in den Wahnsinn treibt. Überhaupt fällt es ihr zunehmend schwer, das fabulierte vom echten Leben zu unterscheiden. Ein Problem, mit dem sie angesichts der durchschnittlich online verbrachten Zeit heutzutage kaum alleine ist. Gleichzeitig lassen die Hirngespinste das Paar noch weiter auseinanderdriften und lösen die dramatische Wendung am Ende aus.

Meiers Figuren können nicht mehr zwischen Realität und Darstellung unterscheiden. Sie müssen sich darstellen um zu leben. Ein für die Social-Media-Gesellschaft typisches Phänomen, wenn auch überspitzt dargestellt. So könnte der Roman zum Überlegen anregen. Darüber, wie viele von uns online leben, sich präsentieren, und dabei das real existierende Gegenüber und Leben völlig vergessen oder verdrängen. Doch es bleibt bei einem könnte. Denn obwohl „Kuss“ wichtige Themen anspricht, fehlt es der Geschichte an Tiefgang. Die Gedankenwelt der Figuren und die Gründe für ihre Handlungen bleiben unzulänglich, was jedoch nicht unbedingt Spannung hervorruft. Auch das jähe Ende vermag die vielen offenen Fragen nicht zu klären. Es gelingt Meier schlussendlich nicht, die Problematik eines digitalisierten Lebens vollständig einzufangen. Ein Manko, worüber auch die durchaus selbstironischen, bisweilen amüsanten Passagen nicht hinwegtäuschen können.

Diskussion (1)

  1. Liebe Corina
    Vielen Dank, das ist schon sehr vielschichtig und gegen Ende hin auch mit viel Schwung geschrieben. Umgekehrt könntest du am Anfang noch versuchen, etwas klarer und ruhiger zu schreiben, um deinen LeserInnen den Einstieg in die Rez. zu erleichtern. Vielleicht genügt es schon, die „Geheimniskrämerei“ um Zürich zu streichen und einfach Zürich als Handlungsort anzunehmen… Sonst ist es sehr umständlich am Anfang…
    Die zweite Hälfte ist dann schon fertig, schön auch, wie du am Ende klar und fair wertest!

    Herzlicher Gruss,
    Christoph

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