Christian Zehnder: Die verschobene Stadt

Christian Zehnder: Die verschobene Stadt

Christian Zehnders dritter Roman handelt von den Wirren des Erwachsenwerdens vor der Kulisse Lausannes. Vom blossen Schauplatz wandelt sich die bisher literarisch noch nicht prominent erschlossene Westschweizer Stadt dabei zusehends zur Hauptfigur der Geschichte.

Um seine kranke Mutter zu pflegen, zieht Felix mit seinem ältesten Freund von Zürich nach Lausanne. Der Wohnortwechsel trifft ihn in der unsicheren Zeit zwischen nicht mehr ganz Kind sein und erwachsen werden. Von allen seinen Begleiterinnen auf diesem Weg wird die neue Stadt trotz ihrem stetigen Wandel, der wichtigste Anhaltspunkt in seinem Leben.

Was der Titel bereits andeutet, wird anhand der Stadtentstehungsgeschichte deutlich: Felix’ Freund weist ihn „am alten Seeufer“ stehend auf den scheinbaren Widerspruch hin, dass Lausanne ein Warenumschlagplatz „an einem Teich“ gewesen sein muss. Zeugen davon sind jedoch die Anwesenheit Neptuns und Merkurs, und als Erklärung für das zu kleine Gewässer gilt, dass „die Ruinen […] nach hinten gerutscht“ sind. Mit den Ruinen als Museum zusammen mit dem bewohnten Teil der Stadt, sind sowohl die Vergangenheit wie auch die Gegenwart im Raum präsent und die Verschiebung der Stadt findet kontinuierlich statt. Somit übernimmt Lausanne die Regie und eignet sich die Figuren und ihre Geschichten an. In diesem auf lange Sicht gesehenen Provisorium muss sich Felix, während er sich nach dem Tod seiner Mutter dem Medizinstudium widmet, zurechtfinden. Dabei finden ihn die Orte und nicht umgekehrt, weshalb immer wieder ausführlich beschrieben wird, wo er sich im Moment befindet. Sei es am See zum Baden mit Freunden oder zu Besuch ausserhalb der Stadt bei einer Mitstudentin, nie scheint er sich für den Weg dorthin selbst entschieden zu haben.

Weil die Wohnung mit Blick auf den Lac Léman ohne die Mutter selbst zu einer Ruine wird, findet Felix in einem Anwaltspaar samt Kind würdige Nachmieter für sie. Als er daraufhin zu seinem Freund in ein anderes Quartier zieht, scheint sich ihre bereits sehr schweigsame Beziehung auf zufällige Treffen in ihrer Hochhauswohnung zu verschieben. Umgekehrt nimmt Felix als Betreuer des dauerkranken Sohns der neuen Bewohner vermehrt an ihrem familiären Leben teil und wird je länger desto mehr von ihnen angezogen.

Bittersüss nimmt Felix sein eigenes Dasein und seine Umgebung wahr und mehr als einmal findet Zehnder in knappen Sätzen („Er fürchtete ein Unheil, so schön war der Abend“) treffende Worte, um ein Gefühl für adoleszente Verwirrungen, Hoffnungen und Träume zu vermitteln. Durch die Augen der Protagonisten vermittelt Zehnder seine persönliche Stadtlektüre und ihm gelingt es, die durch Verschiebung nicht mehr auf den ersten Blick erkennbaren Wurzeln von Lausanne und Felix aufzudecken. Sprunghaft ist Felix‘ Suche, dem Zusammenbruch nah sind seine zwischenmenschlichen Beziehungen, aber immer wieder findet er Geborgenheit in Lausanne. Die Stadt ist seine Konstante, in die er „auf der Stelle“ zurück muss, wenn er sie verlässt. So wird deutlich, dass sie ebenso wie das Ende seines Studiums unabdingbar sind auf seinem andauernden Weg zum Ziel. Der Schluss des Buches kann ebenfalls als Manifest für die jugendliche Neugier gelesen werden. Durch neue Bekanntschaften wird es Felix nicht erlaubt, sich auf dem Erfolg seines ansehnlichen Berufs auszuruhen und die „verschobene Stadt“ wird Sinnbild seiner eigenen Persönlichkeit: Neben alten und neuen Begegnungen wird sein eigenes Wesen nie zum Stillstand kommen.

Diskussion (1)

  1. Liebe Debora
    Vielen Dank, hier haben wir den schönen Fall einer Rezension, die mit jeder Zeile an Fahrt und Zugkraft gewinnt. Du musst eigentlich nur den ersten Absatz überarbeiten (s. Anmerkungen im Text), da der Einstieg zu unvermittelt ist und wir keine Orientierung über Ausgangslage und Handlung bekommen. Wenn dazu dann noch ein korrespondierender Schluss kommt, wird die Rez der Anlage des Textes sehr gerecht!

    Herzlicher Gruss,
    Christoph

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