Vom Vorüberziehen der Katastrophen

Vom Vorüberziehen der Katastrophen

In „Der ich bin“ spürt Armin Senser dem dreissig Jahre zurückliegenden Suizidversuch seines Bruders nach. Überlagert werden die Erinnerung an das persönliche Drama von Erinnerungen an mediale Katastrophenmeldungen und Reflexionen über das eigene Leben. Senser zeigt: Wenn man sich unverständlichen Katastrophen überhaupt irgendwie annähern kann, dann über die Literatur.

„Chronik des Vergessens“ lautet der Untertitel von Armin Sensers zweitem Band seiner als Trilogie geplanten autobiographischen Reihe. In diesem Rahmen entwirft Senser, einer der bedeutendsten Schweizer Lyriker der Gegenwart, eine Collage aus Erinnerungsfetzen. Er tritt in einen Dialog mit dem eigenen Ich und befasst sich mit dem Vergessen und Erinnern in privaten und öffentlichen Kontexten: Einerseits wirft er Fragen zur eigenen Identität („Wer ist Ich?“), zu seiner Beziehung zu Bruder und Eltern sowie zum Schreiben selbst auf. Andererseits thematisiert Senser die Flut medialer Katastrophenmeldungen, welche Hurrikans, Selbstmordattentate und weitere Schreckensbilder direkt ins eigene Wohnzimmer spült. Ob beim Suizidversuch des eigenen Bruders oder bei 9/11, bei Senser steht stets die Frage im Zentrum, welchen Einfluss Meldungen vom Grauenvollen auf das eigene Leben haben. Als zentrales Motiv tritt das „Gefühl, davongekommen zu sein“ hervor, welches das Leben in all seiner Fragilität darstellt.

„Es ist der Sound, der das Schreiben macht. Nicht die Idee“, hält Senser fest. Diese Haltung manifestiert sich programmatisch im neuen Buch: Senser zeigt sich in „Der ich bin“ nicht als Romancier, sondern wie gewohnt als Lyriker – er erzählt nicht, er assoziiert vielmehr, entwirft und verwirft Bilder, die von der Sprache getragen werden. Sensers Sprache ist karg, nie blumig; seine Sätze sind kurz, von Auslassungen geprägt. Dieser Stil hemmt den Lesefluss spürbar und lässt einen straucheln. Auch die Struktur des autobiographischen Prosabandes ist durchgängig fragmentarisch: Immer wieder werden dieselben Themen und Ereignisse anzitiert, aber nie vollständig ausgeführt.

Mit dieser zyklischen und zugleich zerrütteten Struktur sowie der radikal subjektiven Perspektive liegt mit «Der ich bin» keine Chronik im engeren Sinne vor. Trotzdem scheint Sensers neues Buch einen chronistischen Anspruch zu erheben: Dieser ist aber im Literarischen und nicht im Dokumentarischen verortet. Mit seiner Kritik an den Massenmedien greift Senser ein viel besprochenes Thema auf, bringt durch den direkten Vergleich mit der Literatur jedoch einen neuen Aspekt ein. Literatur funktioniert laut Senser langsamer; gegenüber der oftmals oberflächlichen Informationsflut moderner Medien scheint sie aber durch Reflexion aufzutrumpfen. Ihrem Konsum geht ausserdem das Voyeuristische ab: Katastrophen, das macht Senser deutlich, entfalten ihr Ausmass in Einzelschicksalen und sind über eine literarische, subjektive Perspektive eher fassbar als über eine vermeintlich objektive.

Den Einblick ins Einzelschicksal verschafft Senser über den bereits beschriebenen «Sound». Beim Lesen der nahezu verstümmelten Sätze lassen sich die Einschnitte, welche die geschilderten Katastrophen im Leben des Autors hinterlassen haben, erahnen. «Der ich bin» ist weder inhaltlich noch sprachlich leichte Kost, überzeugt aber durch seine performative Kraft. Senser entwirft virtuos ein Bild des Lebens vor dem Panorama vorüberziehender Katastrophen und leistet überdies einen beachtenswerten Beitrag zum gegenwärtigen Mediendiskurs.

 

 

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