Zu Fuss durchs Buch «Lydias Fest»


Von Anna Larcher

Es ist einer dieser seltenen goldigen Herbsttage, Trams und Autos rauschen am Bluntschlibrunnen in Richtung Bürkliplatz vorbei. Wir müssen näher zusammenrücken, um die Literaturprofessorin Hildegard Keller zu verstehen, die uns zur Literaturwanderung «Lydias Fest» willkommen heisst. Es geht an diesem Morgen zu Fuss durch das Leben der Schweizer Mäzenin Lydia Welti-Escher. Und zu Fuss mit den Autor:innen Hildegard Keller sowie Christof Burkard durch ihr Buch Lydias Fest, in der Lydia ein grosses Geburtstagsessen für Gottfried Keller veranstaltet und auf den Ehrengast wartet.

Zügigen Schrittes geht Hildegard an der Rentenwiese vorbei bis zum Gottfried Keller-Denkmal und beginnt dort von der Freundschaft zwischen Lydia Welti-Escher und dem Autor zu erzählen: Lydia lernte den Schweizer Nationaldichter über ihren Vater Alfred Escher kennen. Obwohl sie aus sozial anderen Welten stammten und anderen Generationen angehörten, haben Lydia und Gottfried Geistreichtum und das Gefühl von Einsamkeit vereint, so Hildegard. Lydia selbst sei eine kunstaffine und literaturbegeisterte Person gewesen. Ihr Vermögen setzte sie für namhafte Schenkungen für Kunstzwecke ein und gründete die «Welti-Escher-Stiftung», die nach ihrem Tod in «Gottfried Keller-Stiftung» umbenannt wurde.

Lydia Welti-Eschers Geburtshaus im Belvoirpark Zürich

Das von Hildegard Keller und Christof Burkard entwickelte Stadttouren-Format vereint Storytelling, Literatur und Stadtgeschichte. Viele Teilnehmer:innen bringen sich interessiert ein, stellen Rückfragen. Während wir den Belvoirpark durchqueren, um zu Lydias Geburtshaus zu kommen, tauchen wir in das Zürich des 19. Jahrhunderts ein – die Zeit, in der die Stadt wuchs und wuchs. Grundlegende Veränderung im Stadtbild geschahen und Infrastrukturen, wie die Trinkwasserversorgung (was die Mortalitätsrate Zürichs rapide sinken liess) wurden geschaffen. Gekonnt setzt Hildegard Keller historische Umbrüche mit Personengeschichte in Verbindung und lässt zugleich Wissenslücken bestehen: Sie frage sich zum Beispiel, warum Lydia nie an der Universität Zürich, die Frauen zuliess, studiert habe. Wäre dann alles anders gekommen? Denn Lydias Lebensgeschichte ist auch die einer Frau, die von der Schweizer bürgerlichen Gesellschaft an den Rand manövriert wurde: Nach sechs Jahren Ehe kam es zum Zerwürfnis mit ihrem Ehemann Emil Welti. Dabei spielte der Schweizer Maler Karl Stauffer eine tragende Rolle, dieses Verhältnis liege aber laut Hildegard im Dunkeln. Auf Veranlassung von Lydias Ehemann und seinem Vater, dem damalige Schweizer Bundespräsidenten, wurde Lydia in eine Irrenanstalt eingewiesen. Ihre Anamnesegespräche mit den Psychiatern, die beauftragt waren, Lydia systematisierten Wahnsinns zu diagnostizieren, dienten übrigens in der Recherchearbeit für Lydias Fest, das 2019 in der Edition Maulhelden erschien, als Quellenbasis.

Nach viermonatigem Psychiatrie-Aufenthalt, in Zürich mittlerweile geächtet als Ehebrecherin, zog sich Lydia zurück auf ein Anwesen in der Nähe von Genf, wo sie sich 1891 das Leben nahm. Im Rieterpark angekommen, wo uns Co-Autor Christof Burkhard mit einem Apéro erwartet, liest Hildegard Keller zum Abschluss ein Privattelegramm vor, das die NZZ als Reaktion auf Lydia Welti-Eschers Suizid abdruckte: «Der Todesfall berührt den Bund insofern, als der eidgenössische Fiskus fortan die Jahresrente von 70’000 Fr. nicht mehr entrichten muss.»

Bibliografische Angaben: Lydias Fest. Zu Gottfried Kellers Geburtstag. Hildegard Keller & Christof Burkard. Edition Maulhelden 2019.


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