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Politische Alltagspoesie

Die Frage, wie Literatur und Politik zusammengehen, verzeichnet eine bemerkenswert stabile Konjunktur. Li Mollets neuer Band «Weisse Linien» erprobt eine mögliche Antwort in Miniaturform, die im poetischen Gedankenspiel programmatisch über sich hinausweist.

Von Katja Lindenmann
8. November 2021

Gedankenspiele

Josefine O. wacht auf, macht Sport und unterhält sich dann bei einer Tasse Kaffee mit ihrem Küchenstuhl. Li Mollets neues Buch Weisse Linien ist ein Selbstgespräch. Doch Josefine ist in ihren Gedanken nicht allein: Da ist auch ein kleines Mädchen, das ausspricht, «was alle sehen können», eine Frau mit leiser Stimme, ein Ich, ein Sie und ein Er.

Die Rahmenerzählung umspannt einen Tag in Josefines Leben, der durchzogen wird von Eindrücken der anderen Figuren. Dabei setzt sich der Text aus einzelnen Sequenzen zusammen, wodurch die Figuren in einen Dialog gebracht werden, ohne dass sich ihre Wege aber je kreuzten. Gedankenräume überlappen sich. Indem sie an die bedrohte Zukunft denken, überdenken sie die Gegenwart. Widerstand müsste jetzt geleistet werden, doch die Figuren scheitern daran, über das Denken hinauszukommen. Wohin führen sie uns also? Läuft das Buch etwa ebenfalls auf ein blosses Gedankenspiel hinaus?

Zur Autorin

Li Mollet, geb. 1947 in Aarberg (Bern), Studium der Erziehungswissenschaften und Philosophie. Es folgten Lehrtätigkeiten an Fachhochschulen und Gymnasien und die Publikation von Aufsätzen über Pädagogik und Kunst. Mollets literarisches Debüt «nichts leichter als das» erschien 2003. Ihre Prosa wurde mehrfach prämiert, u.a. zweimal mit dem Literaturpreis des Kantons Bern (2013 und 2019). Li Mollet lebt heute als freischaffende Autorin in Spiegel bei Bern.
Foto: © Eva Mollet

«Es war einmal ist heute»

Weisse Linien ist kein politisches Manifest, sondern ein intimer Text, dessen Stärke gerade in seiner vermeintlichen Passivität liegt. Wo anders beginnt Politik als im eigenen Kopf? Dieser Text betreibt vielleicht selbst keine Politik, setzt sich aber literarisch mit ihr auseinander – indem er aufmerksames Beobachten und Zuhören einfordert. Li Mollet predigt nicht, sie diskutiert und zwar in einer lyrischen Sprache, die komplexe Themenfelder beschreibt und öffnet. Medienkritik, Feminismus, Migrationspolitik liegen zwischen den Zeilen und werden nicht aus-, aber angesprochen und lyrisch ausgearbeitet.

In seiner lyrischen Ungreifbarkeit zeichnet Li Mollets neues Buch den Zeitgeist so präzise, dass er deutlich in Erscheinung tritt, ohne jedoch aufdringlich und plakativ zu werden. Sie zeigt eine politisierte Klimajugend und die neuen Feminist*innen als selbstbewusste, laute Frauen. Deren Selbstbild, das einer digitalen Welt entstammt, stellt sie aber gleichzeitig als oberflächlich dar. Dabei geht es immer auch um die Distanz zwischen Menschen. Die in Gedanken versunken erzählenden Figuren bestätigen dies. So schwingt ein Kulturpessimismus mit, der auf eine kulturelle Stagnation trotz technischem Fortschritt verweis: «Es war einmal ist heute», sagt die Frau mit leiser Stimme dazu.

Von der Poesie zum Widerstand

Im Flattersatz und mit den Gedankenspielen kommt der Text leicht daher. Er schafft jedoch keinen Raum für weltferne Luftschlösser und Tagträumereien, sondern für das, was «das Erzählen auslässt, was es nicht erzählen kann». Li Mollet schafft es, dass sich die Leserin in ihrem Text wohlfühlt, obwohl die gezeigte Welt eine eher ungemütliche ist. Dies erreicht sie durch eine erfrischend einfache und dennoch dichte Sprache, die den Alltag mit liebevoller Präzision ausmalt. Diese Alltagspoesie und Miniaturen prägten bereits Mollets frühere Werke, in denen auch ihre sprachpädagogische Arbeit mit Mitgrant*innen ihre Spuren hinterliess. Der neue Text der Seeländer Autorin regt dazu an, die eigene Umwelt zu beobachten, so wie es Mollets Figuren tun – und dann über den Text hinauszugehen. Weisse Linien ist ein politisches Buch, gerade weil es einem diesen Schritt aus den Gedanken heraus und in den Widerstand hinein nicht abnimmt. Lyrik wirkt erst in ihrer Rezeption politisch: auf geht’s.

Li Mollet: Weisse Linien. 96 Seiten. Klagenfurt a. W.: Ritter Verlag 2021, ca. 19 Franken.

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