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Konfusion statt Revolution

Frank Heer hat einen stimmungsvollen Hippie-Polit-Thriller geschrieben, der die Virtuosität des Autors zeigt, sich allerdings nicht entscheiden kann, was er sein will.

Von Silvan Preisig
27. Juli 2022

David Bowie, Lou Reed oder Joni Mitchell bilden die Säulen von Alice, dem neuen Roman von Frank Heer und markieren so das musikalische Setting für die nostalgische Geschichte. Eine Reise in die 70er Jahre. Ich-Erzähler Max Rossmann, von Beruf Journalist, besucht seine Eltern auf dem Land. Im Schreibtisch seines Kinderzimmers findet er alte Postkarten, Led-Zeppelin-Anhänger, ein Passfoto von Alice und ein bisschen Hasch. Bis auf das Hasch interessieren ihn diese Sachen nicht mehr. Zurück in der Stadt besucht er einen Musikclub und sieht dort zufällig das Konzert der Folksängerin Alice Bay. Ihre Stimme rührt ihn zu Tränen und es kommen Erinnerungen an seine Ex-Freundin hoch, die denselben Vornamen trägt wie die Musikerin. Fasziniert von dieser Parallele, fragt er sie für ein Interview an.

Zum Autor

Frank Heer, geb. 1966 in Uzwil (St. Gallen), ist Journalist, Autor und Musiker. Er arbeitet als Kulturredaktor («NZZ am Sonntag») und schreibt als Freelancer für diverse Zeitungen und Zeitschriften. Heers literarisches Debüt «Flammender Grund» erschien 2005 bei Hoffmann & Campe. Er lebt mit seiner Familie in Zürich.
Foto: © Ayse Yavas

Zwischen Esoterik und Aktivismus

Alice Bay inszeniert sich bei ihrem ersten Treffen als mysteriöse Esoterikerin. Ihre Texte und Melodien zu den Songs finden ihren Weg als Ströme aus Vergangenheit oder Zukunft zu ihr. Sie lässt sich von ihren Gefühlen leiten und meditiert. Sie erzählt Max, dass sie beide Eltern verloren hat, durch einen Unfall und einen Selbstmord. Obwohl, oder gerade weil Max nicht viel für Esoterik übrig hat, fühlt er sich angezogen von der neuen Alice.

Was folgt, ist ein Verwirrspiel um die beiden Alices. Es werden Erinnerungssequenzen aus der vergangenen Beziehung von Max und Alice nacherzählt. So erfahren wir, dass sie sich für intellektuelle Debatten und politischen Aktivismus interessiert. Im Gegensatz zum Ich-Erzähler macht sie sich Gedanken und Pläne zu ihrer Zukunft. Die zwei Alice haben also, bis auf den Namen, wenig gemein. Auf der einen Seite der verträumte Rockstar, auf der anderen die reife Aktivistin. Obwohl die beiden Frauen-Figuren unterschiedlich geschrieben sind, weiss man beim Lesen stellenweise nicht, von welcher Alice gerade die Rede ist. Für Max sind sie Reflexionsflächen seines eigenen Lebens, das schwankt zwischen beruflichen Ambitionen und seinen politischen Überzeugungen.

«Die Dinge sind oft nicht wie sie auf Anhieb scheinen» meint ein Kollege zu Max. Das Motto wird im Roman performativ umgesetzt. Alice Bay entpuppt sich als Lügnerin. Die Geschichte ihrer Eltern hat sie erfunden, stattdessen gesteht sie Max ihre Heroin-Abhängigkeit. Das darf, bei aller Nostalgie im Roman, als kritischer Kommentar auf die Hippie-Kultur der 70er Jahre gelesen werden. Insbesondere da Max am Ende zur vertrauteren Ex-Freundin zurückfindet.

Schwanken auf der Oberfläche

Frank Heer gelingt es ausserordentlich gut, der Leserschaft die politische und gesellschaftliche Stimmung der Jahre um 1975 nahezubringen. Der Musik-Redaktor trumpft mit popkulturellen Verweisen auf, ohne dabei zu überraschen. Zwischen McLuhan, Patti Smith und Afri Cola eröffnet sich die Atmosphäre des Textes. Die politischen Diskurse im Roman, wie Meinungsfreiheit, Polizeigewalt und Sexismus bilden eine Brücke zu aktuellen Debatten. Allerdings bieten sie keine neuen Erkenntnisse oder anregende Kommentare.

Das kann an den vielen Nebenhandlungen im Text liegen. Max erhält rätselhafte Anrufe von einem alten Mann, der eine Todesanzeige für sich selbst aufgeben möchte. Zudem werden rund um die Stadt diverse Hunde gerissen und der Ich-Erzähler macht es sich zur Aufgabe herauszufinden, was für ein Ungeheuer dafür verantwortlich ist. Das ist handwerklich gut und spannend geschrieben, nur erhalten die Erzählstränge zu wenig Platz und der Roman verliert an Kohärenz. Man fühlt sich beim Lesen etwas verloren in dem Mix aus Genres. Die Handlungsstränge werden nicht zu Ende erzählt und die Figuren bleiben schemenhaft. Leider gelingt es dem Text nicht die Emotionen des Ich-Erzählers zu transportieren. So verfällt der Roman häufig dem Pathos, etwa wenn sich Max in einen Fluss stürzt, nachdem Alice mit ihm Schluss macht. Der Roman schwankt nicht nur von einer Alice zur anderen, sondern auch von einer Handlung zur nächsten. Vielleicht ist das Oszillieren bewusster Ausdruck einer jugendlichen Haltlosigkeit, nur bleibt einem nach der Lektüre auch vom Text nicht viel hängen. Alice ist ein Roman, der von rauschhafter Jugend handelt, aber immer ein Exit-Schild bereithält. Wenn er sich der Entgrenzung nähert, wird die vertraute Sicherheit der Hintertür bevorzugt. Es bleibt ein schweres Unterfangen, 30 Jahre nach der eigenen Jugend über ebendiese zu schreiben.

Frank Heer: Alice. 208 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2022, ca. 30 Franken.

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