Unauffälliges Vorstadthäuschen – was steckt eigentlich dahinter?

Es ist immer anders als es scheint. So auch in Simone Meiers neuem Roman „Kuss“, der mit den Tabus von Beziehungen und den Wertesystemen unserer Gesellschaft spielt. Simone Meier hat ein kontroverses Buch verfasst, dessen Titel einen anderen Inhalt antizipiert als der Roman selbst. „Kuss“, der dritte Roman der Autorin, ist kein typischer „Liebesroman“, – vielmehr werden den Lesern brüchige Beziehungsbilder und konfliktbehaftete Rollenbilder offenbart, die ohne weiteres in Anlehnung an die heutige Zeit projiziert werden. Hier stellen Beruf, Familie, Freunde und Heim nicht mehr Orte der Geborgenheit und des Glückes dar, sondern werden als wackeliges Konstrukt präsentiert, das zusammenzufallen droht. „Mit der Liebe war es wie mit der Arbeit: Sie war das Glück der anderen. Nicht ihres.“ Dabei wird mit Gegensätzen wie Proletariat und Akademikern, Single-, und Beziehungsdasein, arm und reich sowie erfolgreich und arbeitslos gespielt. „Natürlich hielt sich Gerdas Mutter für sehr viel besonderer als die Eltern von Yann, sie hatte in ihrem Leben wenigstens ein Bildungsziel erreicht und Yanns Eltern nur eine kaufmännische Ausbildung.“

„Kuss“ ist ein schonungsloser Roman, dessen Autorin frivol und witzig zugleich die Liebe seziert. Die Autorin und Journalistin, Simone Meier, wurde 1970 in Lausanne geboren und arbeitete in der Vergangenheit für die „Wochenzeitung“ und beim „Tages-Anzeiger“. Seit 2014 ist sie bei „watson“ in Zürich tätig. Aufgrund ihrer Arbeit hat Simone Meier zahlreiche Preise und Stipendien gewonnen. Ihr erster Roman aus dem Jahr 2000 war „Mein Lieb, mein Lieb, mein Leben“. Wie auch ihr letzter Roman „Fleisch“ wird „Kuss“ durch den Verlag Kein&Aber veröffentlicht und wirft primär die Frage auf, was es in diesem Roman mit der Liebe auf sich hat.

In einer Vorstadtsiedlung würde man wohl kaum an Affären, Brutalität oder Intrigen denken. Hier ist doch alles immer so gepflegt und so herrlich aneinandergereiht. Die Bewohner dieser Vorstadthäuschen stellt man sich stets glücklich und aufrichtig vor, wo sie doch in dieser behüteten Gegend wohnen mit all den netten Nachbarn, die sich um das gegenseitige Wohl des jeweils anderen sorgen und sofort zur Hilfe eilen, sobald sie etwas Auffälliges beobachten oder hören. Die Hauptcharaktere Yann, Gerda und Valerie finden sich desillusioniert und überrascht in solch einer Wohngegend wieder und werden als „Alien“ ähnliche Neulinge skizziert. Im Zuge dessen scheinen sie mit ihrer aktuellen Lebenssituation nicht glücklich zu sein und werden von Selbstzweifeln, Versagensängsten und sexuellen Phantasien geplagt. Das trifft vordergründig auf die Generation von Yann und Gerda zu, die als Paar Rat bei ihren Eltern suchen, da sie sich in ihrer eigenen Beziehung in einem Leerlauf befinden. Yanns Mutter äußert: „Eine Beziehung ist wie eine Bibliothek voller Romane. Die einen sind Meisterwerke, die anderen nicht, die einen sind leichter, die andern schwerer. Das sammelt und stapelt sich mit den Jahren, bei manchen hast du Lust, noch einmal darin zu blättern, und andere schmeißt du weg, weil du sie schon viel zu gut kennst und nicht mehr lesen magst.“ Als Leser kommt man durch solche und ähnliche Passagen ins Grübeln und denkt über diese und die eigenen Beziehungen nach. Hier werden zwei Generationen einander gegenübergestellt. Die eine hält einen Ratschlag bereit, während die andere ratlos dahinwelkt. Das Thema der Liebe ist zentral, wenngleich es kritisch beleuchtet wird und sich als bröckeliges Fundament entfaltet. Der ein oder andere Leser wird sich fragen, was es mit den Affären auf sich hat, die sich zunächst nur vor dem geistigen Auge der Hauptfiguren abspielen. Dahingehend wird der Partner / die Partnerin in der jeweiligen Geschlechterrolle kritisch hinterfragt. Das andere Geschlecht und verschiedene Charaktere werden zunehmend interessanter und die Distanz zum eigenen Partner wird größer. Dabei scheinen das komplexbehaftete Selbstbild und die eigenen Unsicherheiten der Figuren durch, mit denen sich der ein oder andere Leser identifizieren kann. Wer kennt denn nicht das Phänomen vom schönen Haus und der perfekten Hausfrau, die einem nach und nach zu langweilig werden, da man sich nach einem Abenteuer oder einer Veränderung sehnt? Häufig kann der Mangel an Kommunikation als Hauptproblem für die Dysfunktionalität von Beziehungen ausgemacht werden. Simone Meier evoziert in ihrem Roman solch eine Kommunikationsbarriere zwischen Gerda und Yann. Es gibt Themen, die sich ausschließlich in ihrem Kopf abspielen und im Stillen erörtert werden. Als Leser fragt man sich, warum sie nicht über ihre Ängste und Wünsche sprechen. Mittels dieser stillen „Lücken“ wird eine Spannung evoziert und man wartet darauf, dass eine der Figuren endlich mit der „Sprache rausrückt“. So werden relevante und ernste Themen ausgespart wie beispielsweise Gerdas Arbeitslosigkeit oder die gemeinsame Familienplanung. „Abend für Abend erwartete sie von Yann die Bemerkung: >>Du weißt schon, wegen mir musst du nicht zu Hause bleiben, dir ist sicher langweilig.<<“ Selbstverständlich wird Gerdas Arbeitslosigkeit weder von ihr noch von Yann angesprochen, wobei Gerda dem Ringen um Anerkennung innerhalb der wirtschaftlichen Machtstrukturen nachhängt. Existenzverlust und die Kluft zwischen einfachen Arbeitern und Akademikern sind wiederkehrende Motive in Simone Meiers Roman. Einerseits wird Gerda sehr greifbar porträtiert, da ihre Schwächen, Gedanken und Ängste mit denen der meisten Menschen einhergehen. Andererseits wirft diese Figur viele Fragen auf, die sich auch im weiteren Verlauf der Romanhandlung nicht klären lassen. Beispielsweise wartet sie in ihrem neuen Dasein als Hausfrau darauf, dass ihr aufregende Dinge in den Sinn kommen, die sich mit ihren Sehnsüchten paaren lassen. Das von Simone Meier skizzierte „Biest“, Gerda, sehnt sich nach Aufregung und hofft inständig darauf „eines Tages“ ihren Sehnsüchten nachgeben zu können. So phantasiert sie über eine Affäre mit Yanns wohlhabenden und intelligenten Freund Alex. Durch diesen wird Yanns Unsicherheit geschürt, da er sich „Alex gegenüber in einem mehrfachen Nachteil“ befindet. So wird den Lesern Yanns Angst vor einem Verlust seiner Gerda an seinen „cooleren, kühneren und definitiv besser proportionierten“ Freund nähergebracht. Seine Angst ist nicht unbegründet, da Gerda über sexuelle Handlungen mit Alex phantasiert. Im Kontrast dazu wird dem Leser das sexuelle Verhältnis zwischen Gerda und Yann nur noch als Pflichtakt beschrieben. „Er gab ihr Haus und Geld, sie gab ihm ein Heim und sexuelle Gratifikation.“ Äußerst ausdrücklich weist Meier den Leser auf die Zweckmäßigkeit, die für Gerda hinter ihrer Beziehung zu Yann steht, hin. Selbstverständlich stehen hierbei die Rollenbilder des Romans im Fokus, die die Autorin noch unverhohlener kontrastiert. „So war das doch gewesen früher, als die Frauen zu Hause blieben, in ihren Vororthäuschen depressive Alkoholikerinnen wurden und beim zweiten, dritten oder vierten selbstvorgenommenen Abtreibungsversuch starben, während die Männer in den Mittagspausen blutjunge Sekretärinnen vögelten.“ Hier spannt Simone Meier den Bogen noch weiter und kritisiert im Zuge der Emanzipation und des Feminismus alte Rollenbilder. Sie schärft dem Leser ihre Kritik an veralteten Rollenverteilungen ein und versucht diesen durch die vehemente Wortwahl ihren Stempel aufzudrücken. Einerseits sympathisiert man als Leser mit der Kritik dieser altbekannten Rollenbilder, kann gar darüber schmunzeln und die Existenzängste der weiblichen Figur nachvollziehen. Andererseits sei es dahingestellt, ob ihr Roman dadurch an inhaltlicher Qualität und Kohärenz gewinnt. Teilweise fehlt es an Zusammenhängen und Gerdas plötzlich aufkeimende „sadomasochistischen Züge“ erscheinen mehr als fragwürdig und deplatziert. Meier scheint krampfhaft den Bestseller Erotikroman, „Fifty Shades of Grey“, in ihrem Roman erwähnen zu wollen, um ihn dann gleich wieder zu diffamieren. So sehnt sich Gerda auf der einen Seite danach in eine andere sexuelle Ebene mit Yann einzutauchen. Auf der anderen Seite verabscheut sie ihn und kann sich nicht vorstellen sexuelle Erfahrungen mit ihm zu teilen. Es erscheint fragwürdig, dass Meier von Yann als „Unbeholfenem“ spricht von dem eine „Gefahr blutiger Brutalität“ ausgehe, wo es doch ein paar Zeilen weiter wieder die „psychisch labile“ Gerda ist, die sich ausmalt, wie und ob sie Yann ersticken könnte. Warum überlegt sie sich, wie sich der impulsive Akt als perfektes Verbrechen tarnen ließe? Simone Meier konzipiert mit Gerda eine höchst widersprüchliche Figur, die man als Leser nicht unbedingt verstehen möchte. Noch viel dubioser und abwegig sind ihre Vorstellungen von einem Kindstod und dem Tod ihrer eigenen Mutter. Dass sie aufgrund des gestörten Verhältnisses zu ihrer Mutter keine eigenen Kinder möchte und sich eine andere Kindheit ersehnt, erscheint dem Leser einleuchtend. Warum Meier ihre Hauptfigur mehrfach von einem sterbenden Kind reden lässt, erschließt sich nicht vollends und sorgt eher für einen Bruch innerhalb der Erzählung: „Sie sah eine kleine Kinderleiche auf den Grund des Flusses sinken“. Weiterhin ist die Skizzierung des Todes der Mutter äußerst fehlplatziert und abstrus. Meier scheint hier weniger einen Liebesroman, als einen dramatischen Roman im Sinne gehabt zu haben. „Da saß sie jetzt und stellte sich vor, wie es wäre, wenn ihre Mutter auf diesem Boden verbluten, ausbluten würde – nicht, weil Gerda sie erstochen hätte, es müsste subtiler sein. Die Mutter wäre zum Beispiel Opfer eines Wahnsinnigen geworden,“. Das gestörte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter wirkt auch auf die Leser mehr als verstörend. Zudem lässt sich sagen, dass Gerda narzisstische Züge aufweist und sich in sich selbst verlieben würde, wenn sie denn könnte. Versucht Meier eine Frau der heutigen Zeit zu porträtieren, die wie so einige Frauen dem selbstdarstellerischen Wahn der sozialen Medien unterliegt? Allerdings wiegen die Selbstzweifel dieses weiblichen Charakters schwer und werden durch ihre Umgebung respektive ihre Mitmenschen hervorgerufen. Sie ist sich ihrer Schwächen bewusst, welche einen Kontrast zu ihrer narzisstischen Seite bilden. Diese zwiespältige Figur ist jedoch nicht diejenige, die ihre Leser am meisten überraschen wird.
Allgemein wirft die Beziehung der beiden Figuren Yann und Gerda viele Fragen auf.: „Lieben die beiden sich?“, „Liebt er sie oder umgekehrt sie ihn noch?“, „Haben sie sich überhaupt jemals geliebt?“, „Wer von beiden sehnt sich nach einer Affäre?“, „Geht einer von beiden dem anderen fremd?“ und nicht zuletzt „Was hat letztlich zum Zerfall der porösen Beziehung geführt?“. Die aufkommenden Zweifel von Seiten der Leser hinsichtlich der Beziehung, die die beiden miteinander führen, werden nicht zuletzt dadurch unterstützt, dass selbst Gerda fürchtet, „dass Yanns Geduld mit ihr langsam löchrig werden könnte.“

Alles in allem werden Themen wie Aufklärung, Tod, Existenzängste, Zynismus, Liebe und Rollenbilder vordergründig von Simone Meier seziert und deformiert bis das Schneckenhaus respektive Vorstadthaus zerbricht. Simone Meier verknüpft die unterschiedlichen Bildungsschichten wie Arbeiterklasse und Akademiker geschickt und weist auf das gemeinsame Leben dieser Klassen mittels der Figuren Gerda, Yann, Valerie und Alex hin. Die Autorin verwebt sie miteinander, sodass sich herauskristallisiert, dass sie ein besseres Leben führen, wenn sie miteinander, anstatt getrennt voneinander, leben. Ein ungelöstes Problem stellen die Liebe und Beziehungen dar, in denen keiner zur Aufrichtigkeit findet. Niemand fasst seinen Mut zusammen und sucht das Gespräch mit dem Anderen. Diese ungelösten Konflikte hätten besser und für den Leser zugänglicher dargestellt werden können. Es ist teilweise zu melancholisch und es bleibt zu viel angetastet und unausgesprochen. Das Buch wirft einige Fragen auf, die sich nicht oder zu spät aufklären. Wer es dramatisch und unvorhergesehen mag, sollte dieses Buch lesen.