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Eine groteske Ahnengalerie

Tom Kummer

In der zweisprachigen Wiederveröffentlichung seines Romans «Die Wölfin/La luffa» entführt Leo Tuor die Leser in eine bizarre Welt grotesker Vorfahren.

Von Sandro Buchli
26. Oktober 2019

Die Alten sind unbestechlich: Der Tat (dt. Grossvater) Pieder Paul Tumera, genannt Turengia und die geheimnisvolle Basatta (dt. Urgrossmutter) Onna Maria Tumera, die greise Stammmutter – beide scheinen gegen jedwelche Propagandamaschinen, Doktrinenverschreiber und Moralistenprediger resistent zu sein. Diktate von Autoritäten und Ideologienschreibern stossen bei diesen Figuren der knappen Worte auf Granit: Sie werden gar nicht wahrgenommen – und falls doch, werden sie in ihrer Lächerlichkeit entlarvt, indem Kant oder Schopenhauer oder Alltagsweisheiten zu Rate gezogen werden. Über die Banalität des Lebens wird gelacht, das homerische Gelächter ist die stärkste Waffe dieser Liebhaber des Generals Napoleon und Puschkins, die zugleich Anhänger regionaler Helden wie des Landrichters Theodor de Castelberg oder des Bündner Land- und Alpbesitzers Regett Safoya sind.

Tuors Figuren – zu Tat und Basatta gesellt sich ein weitverzweigter Familienclan – sind unverwechselbar, originell, regelrechte erratische Blöcke. Fest verwurzelt mit der alten Welt stehen sie da, mit unverrückbaren Meinungen («Wir wollen einen Papst mit Bart!») und einer heroischen Genealogie: «Einer deiner zweiunddreissig Ururururgrossväter, der Urgrossvater deiner Urgrossmutter, Mutter von Grossmuter Fina, Crest Adalbert Genelin, geboren am 1.12.1730, war Landeshauptmann gewesen. Er war verheiratet mit Maria Baselgia, geboren am 16.9.1735, von Sumvitg.» Usw. usf.

Zur Person

Leo Tuor, geboren in der Val Sumvitg, studierte Philosophie, Geschichte und Literatur in Zürich, Fribourg und Berlin. Er schreibt Erzählungen, Essays, Kolumnen, Kurzgeschichten und Beiträge für Zeitungen, Zeitschriften und Anthologien. Tuor hat kürzlich den Georg-Aliesch-Davaz-Preis für sein langjähriges Schaffen erhalten. Werke: «Giacumbert Nau» (1988), «Onna Maria Tumera» (2002) – Reedition als «Die Wölfin» (2019), «Settembrini, veta e meinis» (2006) und «Catscha sil Capricorn en Cavrein» (2010). Alle Werke sind auch auf Deutsch und teilweise auf Französisch und Italienisch erhältlich.
Foto: © Hubert Burda Stiftung

Der Enkel, aus dessen Perspektive das Buch erzählt wird, ist überwältigt vom biblischen Ausmass seiner Ahnengalerie, die letztlich vom Wolf abstammen soll, und die – insbesondere in der Figur des Grossvaters Turengia – mit einer unerschöpflichen und unbestechlichen Erinnerungsgabe ausgestattet ist. Der Enkel ist fasziniert von diesem grotesken Rebellen mit seiner Armprothese, der sich gesellschaftlichen Normen und Bestimmungen widersetzt: «Grossvater liess sich nicht stören von dem, was gesagt wurde. Unbeirrt las er mir und der Katze Plinius vor.»

Die Komik des Turengia ergibt sich aus den offensichtlichen Gegensätzen zwischen seinen banalen Handlungen und seinen sublimen Gedanken: Er, autarker Philosoph und Bergler zugleich, zitiert Lehrsätze von Immanuel Kant, wenn er an der Migroskasse einen Salsiz erwirbt. Er steht in der Küche, rührt die gelbe Suppe mit der Holzkelle von Persil und liest zwischendurch die Biografie des römischen Historikers Flavius Josephus.

Es sind Charaktere, die – trotz enger Verwebung mit der «Realität» – des Alltags enthoben sind und die alte Welt über die Zeit retten wollen. «Die Wölfin/La luffa» ist ein literarisches Sippengemälde der edlen und etwas verrückten Nachfahren des Wolfes, geschrieben in klarer kompromissloser Sprache. Die kurzen Passagen sind Fragmente eines Kaleidoskops ohne Anfang und Ende. In einer Bemerkung des Grossvaters könnten wir eine treffende Metapher für Leo Tuors Schreiben und die Ordnung des ganzen Textes vermuten: «Das Leben ist kein Roman, das Leben ist ein Haufen unfertiger Geschichten, oder vielleicht sogar nur ein Fotoalbum? Der Tod jedoch ist ein Schuhkarton voll Totenbildchen.»

Leo Tuor: Die Wölfin / La Luffa. Roman. Übersetzt von Peter Egloff. 368 Seiten. Zürich: Limmat Verlag 2019, ca. 38 Franken.

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