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«Sex wird zu einem kreatürlichen Grundrecht». Gespräch mit Corinna T. Sievers (Teil I)

Corinna T. Sievers

Mit «Vor der Flut» hat Corinna T. Sievers nicht nur den radikalsten, sondern auch einen der unter literarischen Gesichtspunkten interessantesten Texte des noch jungen Schweizer Buchjahrs 2019 geschrieben. Anlass für uns, sich mit der Autorin zusammenzusetzen und sich ausführlich mit ihr über geschriebene Sexualität und das Drama der Geschlechter zu unterhalten.

Von Redaktion Buchjahr
16. Februar 2019

Corinna, im Zentrum von «Vor der Flut» steht eine erotomane Frau, Judith, die verheiratet ist und im Wissen ihres Mannes, Hovard, sexuelle Beziehungen zu anderen Männern eingeht. Ihr Mann ist bezeichnenderweise Psychiater und liest Freud, der einen spezifischen Komplex der Untreue entwirft: Die Untreue soll vermieden werden, doch um sie zu vermeiden, muss man Eifersucht in der Ehe instrumentalisieren.

Ich fand das sehr bemerkenswert, Freud sagt ja: Der Wunsch nach Untreue ist jedem bekannt und immanent. Dem Mann aus einer Schwärmerei für die Frau heraus, der Frau hingegen aus Gefallsucht. Aus feministischer Sicht ist diese Unterscheidung sehr interessant, aber auch überholt.

Das, was in dem Buch passiert, liegt ja bereits jenseits dieses normativen freudianischen Konzepts.

Hovard thematisiert darin ja sein eigenes Leid, was er lange verborgen hält und das die Protagonistin bis zum Ende nicht erkennt. Interessant finde ich die Lösung, die Freud anbietet, nämlich dass dieser Drang zur Untreue dann am eigenen Objekt befriedigt wird. Das heisst: Schauen ist erlaubt, begehren im Geist ebenso, nur die Befriedigung am fremden Objekt ist nicht erlaubt. Und ich glaube, dass sich seither nichts geändert hat, dass diese Norm immer noch wirksam ist. Die Protagonistin verhält sich jedoch entgegen diesen Erwartungen und ihr Ehemann liest ihr Freud aus dem Wunsch heraus vor, sie käme zurück auf Freud und könnte von ihrer Promiskuität lassen. Doch eigentlich befinden sich die beiden in einer aporetischen Situation: Selbst wenn sie sich an Freud hielte, könnte sie ihre sexuellen Bedürfnisse nicht bei ihrem Mann befriedigen, da er sich ihr verweigert.

Freud verfolgt mit seiner Programmatik ein übergeordnetes Ziel: Er möchte ein Gleichgewicht und verteidigt damit eine bestimmte Form der Kultur. Wenn es um gesellschaftliche Modelle geht: Finden wir in diesem Buch eine Position, die ein anderes gesellschaftliches oder ein gegengesellschaftliches Modell vertritt?

In diesem Buch findet man nur ein Scheitern an diesem Modell und ich wüsste auch kein Gegenmodell, ausser sich komplett frei zu machen von gesellschaftlichen Erwartungen. Aber diesem Ehepaar gelingt es nicht, obwohl ich finde, dass sich Judith in einem gewissen Sinne schon befreit, was sowohl mit Hovards Tod als auch mit ihrem Alter zu tun hat. Die Gefallsucht nimmt sicher mit dem Alter ab, was eine Erleichterung darstellt. Ich bemerke das gerade an mir selbst – und wie erlösend das ist.

Zur Autorin

Corinna T. Sievers, geboren auf der Ostseeinsel Fehmarn, lebt bei Zürich. Die Autorin studierte Politik, Wirtschaft, Musikwissenschaften, Medizin und Zahnmedizin. Doktorarbeit über die Prognostizierbarkeit von Schönheit. Ihr erster Roman, «Samenklau», erschien 2010 in der Frankfurter Verlagsanstalt, 2016 folgte der Roman «Die Halbwertszeit der Liebe». Beim Bachmann-Wettbewerb 2018 in Klagenfurt las sie einen vielbeachteten Auszug aus «Vor der Flut». «Propofol» ist Sievers sechster Roman.
Foto: © Stefan Baumgartner

Dominiert wird der Roman nicht zuletzt durch die Balance von Lust- und Todestrieb, die durch die Ehe gestiftet werden soll. In dem Moment, in dem man die Balance nicht mehr hat, sucht man die Lust und in ihr den Tod.

Ich denke, dass man in der Lust die Überwindung des Todes sucht. Mit der Lust und mit dem Sexualtrieb beweist man sich immer wieder seine eigene Lebendigkeit und je älter man wird, desto mehr. Gleichzeitig erlebt man beim Orgasmus eine Art Auslöschung des Ichs, ein Bewusstseinsverlust, der dem Tod ähnlich ist. Auf paradigmatische Weise setzt Judith den Tod und Sex gleich, weil sie dabei dieselben Empfindungen hat. Sie leidet ja unter sich selbst und ist in diesem Moment ihrer selbst enthoben. Doch auch unabhängig davon hat sie suizidale Züge, die etwas Psychotisches haben und nichts mit Sexualität gemein. Auf Hovards Frage, wieso sie zweimal ihr Leben riskiert habe, antwortet sie, dass sie sich den Tod wie Ferien vorstelle. Da sie sich und ihr Leben als sehr anstrengend empfindet, wird der Tod für sie zu einer Erlösung, einer Verlockung. Der Tod stellt für suizidale Personen keine Bedrohung mehr dar, sondern wird zu etwas Begehrenswertem. Im Moment, bevor sich eine Person vor den Zug wirft, empfindet sie Freude: Darüber, die eigenen Probleme auf einen Schlag loszuwerden, aber auch die Welt von sich erlösen können. Eine Freundin von mir ist psychiatrische Oberärztin und erzählt mir immer wieder davon, wie schwierig es ist, suizidale Personen von ihrem Wunsch abzubringen. Es ist eine Art Weihnachtswunsch, den sie sich dann erfüllen.

Dann steht der Todeswunsch von Judith aber doch in Verbindung zu ihrer Sexualität. Als Erotomanin muss sie diese zwanghaft ausleben und somit unablässig organisieren: Vom Herrichten bis zur Desinfektion danach und Verstauen der Dinge.

Es ist natürlich eine grosse Anstrengung, untreu zu sein. Ich kenne nicht wenige Frauen, die sich aus diesem Grund die Untreue versagen. Judith hat das Glück, dass Hovard ihr diese Untreue gewährt. Somit ist sie nicht noch zusätzlich durch ein Verheimlichen belastet, das einen weiteren grossen organisatorischen Faktor darstellt.

Am Ursprung von Judiths Promiskuität steht eine traumatische Erfahrung: Ihr sexuelles Begehren wird von Hovard zurückgewiesen. Rächt sich hier eine Frau über ihre Lust an den Männern? Zwei Referenzfiguren des Textes legen das ja nahe: Penthesilea und Judith.

Penthesilea wird oft als eine Figur gelesen, die sich nicht zwischen Zärtlichkeit und Gewalt entscheiden kann. Die Einsicht geht jedoch viel tiefer: Das eine bedingt das andere. Man kann nur richtig begehren, wenn es nicht mehr nur Spiel ist – das heisst, der Eros muss töten. Hinter der Promiskuität von Judith steckt aber auch eine gewaltiger Zorn auf die Männer. Es ist ihre Triebfeder, enttäuscht worden zu sein und mit jedem Sexualakt wieder enttäuscht zu werden. Sie überträgt auf jeden dieser Männer ihre Wut.

Ausserdem gibt es noch eine bemerkenswerte Parallele zu Hebbels Judith. Die Judith in deinem Buch setzt Feminismus mit Sexpositivität gleich, kommentiert aber an einer Stelle auch, dass viele das nicht verstehen werden. Hebbels Judith wird ebenfalls von ihrer Magd als Verräterin verschrien, als sie sich zu Holofernes aufmacht.

Die Parallele zwischen der biblischen und meiner Judith-Figur finde ich sehr interessant: Beide setzten die Verführung ein, um sich den Mann gefügig zu machen und dann von hinten zuzuschlagen. Das geht über Feminismus hinaus, ist viel radikaler. Auch eine kontroverse Form der feministischen Aneignung männlicher Machtformen ist die Verwendung von Sprache und Fantasien der Männerpornographie durch die Judith in meinem Buch. Das Spiel mitzuspielen, ist für eine gewisse Form des Feminismus Tabu und eine Enttäuschung.

Weil Judith das Machtspiel aber kennt, nimmt sie den nächsten Zug schon vorweg und weiss: Um das System zu ändern, muss ich auf die andere Seite kommen.

Andererseits muss man ihr abnehmen, dass sie wirklich die Liebe sucht. Nicht nur die Rache ist vorhanden, sondern es steht über allem ein universaler Liebeswunsch. In ihrem Fall ist diese Liebe eine ganz naive Vorstellung von lebenslanger Hingabe in sexueller wie geistiger Beziehung. Das bürgerliche Modell, dem wir immer noch ausgesetzt sind. Es ist diese naive Liebe, die Judith in ihren Sexualkontakten sucht, wenngleich sich das verselbständigt hat und sie eigentlich weiss, dass dieser Wunsch ihr nicht erfüllt wird.

Interessant ist auch die Umkehrung in der Repräsentation sexuellen Verlangens: Das komplette sexuelle Versagen, das Asexuelle, ist in diesem Text auf der männlichen Seite, weshalb diese Männerfiguren die Illusion hegen, dass Frauen eine bestimmte Reinheit besitzen. Judith wiederum ist sexuell hoch aktiv und vollzieht paradoxerweise gerade durch die Auslebung ihres sexuellen Triebes eine Art Reinigungsritual.

Sex wird in meinem Buch als ein kathartischer Akt enthüllt: Ich muss durch den Schmutz der Welt hindurch, um mich danach umso reiner zu machen. Das ist jedes Mal eine Fast-Vernichtung. Das Entscheidende ist aber, dass es für Judith keine Katharsis geben kann. Sie ist permanent auf der Suche nach Erlösung, ob im Sexualakt oder wenn sie selbstzerstörerisch handelt, aber jene bleibt ihr versagt. Indem Hovard ihr permanent ein schlechtes Gewissen macht, wenn er sie aufgrund ihrer Promiskuität therapiert, verstärkt er diesen Konflikt auf dramatische Weise. Er suggeriert ihr beständig, dass etwas nicht mit ihr stimmt. Judith versucht tragisch zu sein, kann es aber nicht. Erlösung findet sie dann zumindest teilweise in dem Moment, als sie dem Engel begegnet und er sie von dieser vermeintlichen Sünde freispricht, indem er ihr sagt, dass es tief in ihrem Frausein liegt, ihre Sexualität in der Weise ausüben zu müssen. Er nimmt sozusagen den Schmutz von ihrer Sexualität. Sex wird zu einem kreatürlichen Grundrecht.

Der zweite Teil des Gesprächs folgt am kommenden Montag, den 18.3.2019.

Corinna T. Sievers: Vor der Flut. 224 Seiten. Frankfurt a.M.: FVA 2019, ca. 32 Franken.

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