Boot, Grotte, Kind

Beim diesjährigen Wettbewerb in Klagenfurt wurde Anna Sterns Text als vage beschrieben, als ambivalent und rätselhaft – dieser Eindruck bestätigt sich auch bei ihrer Lesung in der Winterthurer Coalmine. Das Ambivalente, die Scheu vor der Festlegung ist aber nicht nur Attitüde; es ist das ästhetische Strukturprinzip. In der ersten Geschichte, die Stern dem Publikum heute vorträgt, wird ein Kind, Auslöser eines tragischen Konflikts, nur «le fantome» genannt, im Anschluss verschwindet ein weiteres in den Fluten. Insbesondere das Wasser, das in ihren Texten eine wesentliche Metapher darstellt, spiegelt Sterns distanzierte Erzählhaltung wieder. Für sie, sagt Stern im Anschluss an die Lesung, «symbolisiert das Wasser die Unberechenbarkeit der Natur» – die Ehrfurcht vor dieser Unberechenbarkeit konstituiert auch die Figuren, die Geschichten, die Sprache. Im Eindeutigen ist «kein Raum für Deutung» – den findet Stern nur im Uneindeutigen. Dort setzt ihr Schreiben an, und dort setzt es auch ab. Wie sich das Wasser aus sich heraus von nichts abgrenzt und urplötzlich selbst künstlich gesetzte Grenzen übersteigt, so ist auch in Anna Sterns Texten nichts klar voneinander abgegrenzt. Alles geht ineinander über; Menschen in Orte und Orte in Menschen, die Zeit in den Raum, die Vergangenheit in die Zukunft. Die Sprache ist dabei weder Ufer noch Damm, sondern das Boot, mit dem Anna Stern auf den Wassern ihrer Geschichten ins Ungewisse schippert.

Wer sich in der Literatur mit dem Fassbaren konfrontieren will, wird diese Form der erzählerischen Annäherung und Umkreisung als unentschlossen empfinden – lässt man sich aber auf das Aufbrandende und Abebbende, auf das dauernde Fliessen als Modus Operandi des Erzählens ein, erkennt man, mit welcher formalen Entschlossenheit die Autorin hier der Textur des Ungewissen nachforscht, mit welcher Bestimmtheit sie vom Unbestimmten erzählt.

Ein Eindruck, den man von Anna Stern selbst kaum gewinnt. Fast in sich gesunken, die Hände im Schoss gefaltet, die Beine sanft gekreuzt, sitzt sie auf einem Holzstuhl an einem kleinen Tisch. Hinter ihr leuchtende Deckenlampen, die wie weisse Koffer aussehen. In ihrem Rücken, links und rechts, zwei Türen, darüber grüne Notausgangsschilder. Davor ein eher gesetztes Publikum und, vielleicht noch bedrohlicher, das wandhohe und –lange Bücherregal, der Suhrkamp-Wall des Coalmine. Aber dann fängt sie an zu lesen, die Füsse stehen plötzlich nebeneinander auf dem Boden, und mit einem Mal wirkt sie ganz bei sich, durchaus nicht eingeschüchtert, scheint sich in der eigenen Geschichte wohlzufühlen. Dort geht sie auf, und das Publikum geht mit. Der aufrichtige und anhaltende Applaus nach der Lesung bestätigt: Auch zum Vagen kann man sich frenetisch bekennen.