Ein abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus

Josefstrasse 106. Ein unscheinbarer Durchgang führt in den Hinterhof, rechts abbiegen… und hier ist es: das 1998 von Peter Brunner und Doris Aebi in der damaligen Kantine des Hauses gegründete sogar theater. Vor dem Eingang des mint-grünen Hauses inhaliert der eine oder die andere noch kurz eine Zigi  – oder bloss die nasskalte End-Oktoberluft? Es ist frisch hier draussen und das wohlig warme Interieur lockt – deshalb ab ins Innere zu Kosovë is everywhere.

Nach der donnerstäglichen Lesung von Dominic Oppliger im stockdunklen Raum mit Nachttischlampe (so bleibt auch das weisseste Notizbuch zwangsläufig leer..) nun schon zum zweiten Mal eine herzliche Begrüssung der Co-Leiterin Tamaris Mayer. Die Literaturveranstalterin Mayer, die von 2011 – 2015 zürich liest mitgegründet und aufgebaut hat und beim Luzerner Verlag Der gesunde Menschenversand  (spezialisiert auf Publikationen von Spoken Word und Bühnentexten) tätig ist, hat in diesem Sommer gemeinsam mit der Regisseurin Ursina Greuel die Verantwortung des beliebten Kleintheaters an der Josefstrasse 106 übernommen. Es ist der erste Leitungswechsel in seiner bereits 20-jährigen Geschichte! Eine Schande, dass ich als mehrjährige Kreis-5-Bewohnerin nicht schon früher den Weg hierhin gefunden habe, denk ich mir… Denn die Atmosphäre ist sehr laid-back und sympathisch, man fühlt sich sofort willkommen im sogar theater. Weder zu gross noch zu klein ist das Lokal, die hauseigene, offene Bar lädt nach der Vorstellung zum Diskutieren und Verweilen ein, und die mal leicht erhobene, mal gar nicht vorhandene Bühne sagt: hier will man Sprache nicht auf den Sockel stellen, sondern direkt und ohne Schnickschnack vermitteln.

Mit vier Autor*innen und einem Musiker ist das Spoken-Word-Ensemble Bern ist überall angereist, im Gepäck Ausschnitte aus ihrem neuesten Projekt Kosovë is everywhere. Ein Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz soll in Gang gebracht werden, kündigt das Programmheft an. Doch gelingt dies in der 75-minütigen Präsentation tatsächlich? Die einzeln, im Duo oder im lautstarken Chor vorgetragenen Texte von Antoine Jaccoud, Blerina Rogova Gaxha, Shpëtim Selmani und Ariane von Graffenried führen jedenfalls die Bandbreite aktuellen literarischen Schaffens in den Schweizer Landessprachen Französisch und (Schweizer-)deutsch sowie in Albanisch eindrücklich vor. Die fremdsprachigen Texte sind untertitelt, was vom Publikum ein aufmerksames Mitlesen- und hören erfordert. Oder man konzentriert sich ganz auf die unterschiedliche Musikalität und den Rhythmus der Sprachen und lässt sich vom mal leiseren und nachdenklicheren, mal lauteren und fordernderen Stimmen-Teppich berieseln.

Doch trotz der pointierten, scharfsinnigen Beiträge der Autoren entfaltet der angekündigte Dialog zwischen der literarischen Welt des Kosovo und der Schweiz nicht sein ganzes Potential. Zu platt und oberflächlich, wenn auch sehr unterhaltsam wirken Antoine Jaccouds Beschreibungen von Tattoos und Piercings auf der runzeligen Haut exjugoslawischer Grosis und Grossväter in einem Schweizer Altersheim im Jahre 2063 neben den scharfen, politisch motivierten Sprach-Kreationen von Shpëtim Selmani oder der nachdenklich stimmenden Poesie von Blerina Rogova Gaxha. Ansätze eines fruchtbaren Austauschs zeigen sich immer dann, wenn die einzelnen Sprachen direkt miteinander konfrontiert werden und gleichzeitig erklingen. Denn im allgemeinen Stimmengemurmel scheint sich noch immer die aktuelle Beziehung der Schweiz mit ihrer inoffiziellen fünften Landessprache zu widerspiegeln. Es bleibt also zu hoffen, dass der in Gang gebrachte Dialog weitergeführt und vertieft und der albanischen Kulturproduktion auch in der Schweiz vermehrt eine Bühne gegeben wird. Kosovë is everywhere ist ein wichtiger Anfang für einen sprachübergreifenden Austausch, soll Kosovo in Zukunft kein „abgeschiedenes Zimmer in einem Schweizer Haus“ (Shpëtim Selmani) mehr bleiben.

Wortmusik

«I read the news today oh boy, about a lucky man who made the grade…», erklingt es vom einsamen Plattenspieler auf der Bühne. Samtig weiche Klarinettenklänge ertönen von Michael Jaeger. Die Worte der Beatles mischen sich mit seiner Musik. Ich sehe mich um. Nur einige wenige haben sich zu dieser späten Stunde noch im «Karl» eingefunden, um der letzten Veranstaltung des Tages zu lauschen. Mir fällt auf, dass ich mit Abstand die jüngste Person im Publikum bin – ob ich auch die einzige im Saal bin, die nicht zur «Plattenspielergeneration» gehört? Meine Ge-Ge-Generation, so heisst auch das neuste Werk von Hugo Ramnek, aus dem er heute für uns lesen will. Darin hat er, wie er sagt, Texte zu bekannten Blues- und Rockscheiben geschrieben. Ausserdem speziell: Jeder, der sein Buch kauft, bekommt nicht nur die Texte, sondern zu jedem Text auch gleich noch einen Link, der auf den entsprechenden Song verweist. Auch im Pack mit dabei, eine Datei, bei dem der/die Leser/-in Ramneks Texte von ihm selbst laut gelesen erleben kann. Sieht so moderne Lyrik aus? Poesie, Musik und Performance in einem unter Einbezug moderner Technologien und Medien – das hört sich schon eher nach meiner Generation an. Ramneks Lesung spiegelt das Verfahren seines Buches gut wider: Text und Musik, Lesung und Performance verschwimmen vollkommen. Mal hüpfen die beiden Männer wie zwei junge Schwermetaller über die Bühne, dann wieder lauschen wir dem stillen Wortlaut von Ramneks Gedichten, untermalt vom Gesang von Jaegers Klarinette (oder ist es umgekehrt?). Ein einzigartiger Klang entsteht, von dem ich nicht mehr sagen kann, ob er Text oder Musik ist. «Sang sie? Sprach sie nicht? Las er? Sang er nicht?», liest Ramnek an einer Stelle. Oder singt er?

Mord & Totebeinli

An diesem Donnerstag Abend steigen wir hinab in die Tiefe, auf die Ebene der Toten. Nach einer kurzen Tramfahrt gehen wir zu Fuss eine vielbefahrene, hell erleuchtete Strasse entlang, bis der Torbogen des Friedhof Forums plötzlich vor uns aufragt. Dahinter erwartet uns eine andere Welt: In dichter Dunkelheit erstreckt sich der Friedhof. Wir entdecken einen Pfad aus Kerzen, der zu einer Treppe führt und steigen hinab in den Untergrund, zu Isabel Morf und ihren mörderischen Begleitern.

Die Zürcher Krimiautorin liest an diesem Abend zwei unveröffentlichte Kurzgeschichten. Die erste, Totebeinli, erzählt von einem ziemlich morbiden Leidmahl, bei dem das Publikum auch nicht leer ausgeht: Passend zum Thema darf es während der Lesung an den kleinen ‹Beinli› des entsprechenden Weihnachtsgebäcks knabbern. Isabel Morfs gutes Gespür für Atmosphäre bemerke ich an an diesem Abend immer wieder: Von der an eine Grabkammer erinnernden Location zu Witzen über den Halszither-Musiker Beat de Roche, der anfangs einfach nicht auftauchen will (natürlich möglich, dass er ermordet wurde) bis zu Morfs Poncho, der selbstverständlich immer zum Lesestoff passen muss (von schwarz passend zur Beerdigung in Kurzgeschichte Nr. 1 zu aschgrau in Nr. 2) ist alles perfekt inszeniert. Die Geschichten selbst sind zwar nicht allzu unheimlich aber dafür urkomisch und voll bissig schwarzem Humor. Vor allem als in Kurzgeschichte Nr. 2 plötzlich ein rachsüchtiges Aschehäufchen Vergeltungspläne gegen seine Mörderin namens Ehefrau ausheckt, gibt es einige Lacher. Das ist umso ironischer, da das Publikum an diesem Abend fast ausschliesslich aus Frauen besteht. Den Grund dafür vermag ich mir nicht wirklich zu erklären – solange an der Sache mit dem Aschehäufchen nicht doch etwas dran ist…

Cabin crew welcomes you on board!

Zwei Damen in blauen Deux-Pièces gleiten durch das Publikum. Sie verteilen Frühstücks-Boxen und Filter-Kaffee. Die Sitzreihen sind eng und die Beinfreiheit eingeschränkt, doch die beiden Damen meistern die Schwierigkeit bravourös, irgendwann hat jeder Gast eine schwarze Schachtel auf den Knien und einen dampfenden Einwegbecher in der Hand.
Neugierig öffnen wir die Box, betrachten das sogenannte Gourmet-Frühstück, und das Flugzeug-Feeling ist perfekt: alles nett arrangiert, drei Brötchen, ein bisschen Käse, ein bisschen Fleisch, Fruchtsalat und ein Müsli-Topf, dessen Zuckergehalt bestimmt dem sonderbaren Geschmackempfinden über den Wolken angepasst ist. Unser Magen macht schon Loopings, doch wenn wir aus dem Fenster schauen, sehen wir nicht die Welt von oben, sondern den Innenhof des Festivalzentrum Karl der Grosse. Wir befinden uns an der Lesung von Pascale Marder zu ihrem neusten Buch «Nelly Diener. Engel der Lüfte».

Die Nelly, erfahren wir dann, die erste Stewardess der Schweiz, sei der ehemaligen Marketing-Mitarbeiterin der Swissair und heutigen Autorin Pascale Marder schon immer durch den Kopf geflogen. Die hübschen Fotos der jungen Dame – mit Serviertablett in der Hand, kokettem Lächeln im Gesicht und vor einem Flugzeug posierend – seien nämlich in den Swissair-Büros überall präsent gewesen. So hat Pascale Marder eines Tages den Entschluss gefasst, mehr über den berühmten Engel der Lüfte herauszufinden und hat nach langen Recherchen Nelly Dieners Biographie verfasst.

Aus dieser liest sie nun vor, während die Besucher sich über ihre Frühstücksboxen hermachen. Leider geht dabei, zumindest für die hinteren Reihen, der Grossteil des Gesagten im plötzlichen Tumult unter, denn die Verpackungen rascheln, die Menschen murmeln («Mmh fein, sogar es Zöpfli»), und die beiden Service-Damen werden immer wieder in die engen Reihen gerufen und nach einem Extra-Rähmli gefragt.

Doch viele Gäste scheint das nicht zu stören, gewisse Turbulenzen gehören beim Fliegen nun mal dazu und wenn man den Kopf etwas reckt, erkennt man immerhin die Bilder auf der Powerpoint-Präsentation. Da sind viele alte Maschinen zu sehen. Pascale Marder, von Haus aus Historikerin, zeichnet einen interessanten Überblick über die Verhältnisse im Flugbetrieb der 1930er Jahren: die Curtis Condor war beispielsweise gar noch aus Holz gezimmert.

Als mit der allgemeinen Sättigung langsam wieder Ruhe einkehrt, können wir endlich wieder besser verstehen, was die Autorin erzählt, doch da ist die Lesung dann  leider auch gleich zu Ende.

Mit vielen neuen Facts zu den Anfängen der Schweizer Flugbranche verlassen wir den Raum und klammern unser kaum gegessenes „Gourmet“-Flugzeug-Frühstück unterm Arm –  irgendein WG-Kollege wird sich daran schon noch köstlich amüsieren.

 

Scriptus resurrectus oder die Metaphysik des Schriftkörpers

Am Anfang war das leere Blatt und der Gedanke war die Schrift und die Schrift war der Gedanke. Und so füllte sich zirkelnd das Blatt. Voll und rund ist auch die Sonntagsmatinée zu «Schreiben als Denken», die in einvernehmlichem Beschluss des Bezugspunktes dieses Gesprächs enden wird: Schreiben ist Denken. Schreibend, denkend, an diesem Vormittag aber vorwiegend im gesprochenen Trialog wird diese Schlaufe in folgender Formation abgeschritten: Christine Lötscher vertritt als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich den akademischen Standpunkt, während Bettina Spörri als Buchautorin und Leiterin des Aargauer Literaturhauses ein eher praxisorientiertes Schlaglicht auf die Thematik wirft. Geleitet wird das Gespräch von Sandro Zanetti, seines Zeichens Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Zürich und Experte für den Schriftkörper.

Der Einstieg in jene Materialität des Schreibens führt über persönliche Schreibreminiszenzen: Lötscher tippte sich die Finger an Mutters Schreibmaschine wund, Spoerri verarbeitete Erinnerungen an das metallische Scheppern des Tastenaufschlags in ihren Erzählungen und Zanetti erinnert schmerzlich an das schweisstreibende Nachzeichnen von Lettern im Schönschreibunterricht. Damit wird die Dialektik der Heiligen Dreifaltigkeit des scribere aufgefächert: Körper, Griffel und Geist. Im Schreiben wird Denken folglich mit einer Materialität unterfüttert, die nicht nur Mittel zum Zweck ist, sondern dieses entscheidend formt – bis zu dem Punkt, wo kein Punkt mehr greift und sich das Denken schreibend selbst schöpft.

Diesen Prozess wiederum können die DiskutantInnen nur mit dem Rückgriff auf eine Semantik der Mystik beschreiben: So kommt es, dass Texte durch die Materialität des Schreibens «wie von Zauberhand» entstünden, meint Bettina Spoerri, und Lötscher schildert, wie sie zu der Erleuchtung kam, dass die Maschinen es sind, die schreiben. Die Materialität des Schreibens scheint beständig bedroht von verhüllenden Mystifizierungen, selbst der körperliche Akt bleibt in den Schilderungen Lötschers und Spoerris ein Martyrium, der Pfad zur Erkenntnis ein Leidensweg. Unwillkürlich liefert Zanetti die Causa dafür sogleich nach: Das Schreiben berge ein Versprechen, das im Sinne einer Zukunftsoffenheit als konstitutives Moment lockt. Der Verheissung einer Anapher – unbekannt, unbewusst, unkontrollierbar – sind alle drei schwerstens verfallen. In einem solchen Ausmass, dass die Frage, inwiefern und in welchem Umfang sich denn genau das Schreiben materialisiert, im metaphysischen Nebel wenig konturreich abdriftet.

Als Abschluss befriedet Lacan, denn der zieht (fast) immer, das weiss auch Zanetti. Jener habe den Abbruch einer Behandlung in sein Methodikinstrumentarium als therapeutische Massnahme einverleibt, die den Reflexionsmotor am Laufen halten solle. So verabschiedet Zanetti das Denken in die Freiheit und wir rattern folgsam weiter.

Shantala Hummler und Fabienne Suter

Von Fruchtdetektiven und der trüben Unterwasserwelt New Yorks

Am Sonntagabend debattierten die NZZ-Redaktoren Claudia Mäder, Martina Läubli und Thomas Ribi mit Literaturprofessor Philipp Theisohn über lesenswerte Bücher der Saison. Beim ausverkauften «Literarischen Terzett» im NZZ-Foyer wurden nicht nur Bücherempfehlungen ausgesprochen, sondern auch grundlegende und durchaus kritische Fragen diskutiert, welche die neuen Bücher betreffen: Wie viel detailliebende Beschreibungen verträgt ein Roman, ohne überladen zu wirken? Was verrät Autorinnen und Autoren, welche ihr Handwerk am Literaturinstitut in Biel gelernt haben? Was ist überhaupt Geschichte? Und ganz allgemein: Was gefällt?

«Mit den Himbeeren stimmte etwas nicht.» Mit diesem Satz beginnt der in naher Zukunft spielende Roman von Eckhart Nickel. In Hysteria wird eine Welt beschrieben, welche durch die starke Rückkehr zur Natur geprägt ist und in welcher «Fruchtdetektive» eine wichtige Funktion einnehmen. Es ist dies ein Roman, welcher auf dem Biomarkt beginnt und da auch endet. Da stellt sich die Frage, inwieweit wir möglicherweise selber schon in dieser näheren, vom Öko-Totalitarismus geprägten Zukunft leben. Die Debattierenden waren sich jedenfalls einig, dass Nickels Roman wahrlich einen Lesegenuss darstellt.

Geteilter Meinung war man hingegen bei Eric Vuillards Die Tagesordnung. Das Buch wurde von den Diskutierenden, ähnlich wie in bisherigen Rezensionen, sehr ambivalent aufgenommen. Auf knapp 120 Seiten unternimmt Vuillard den Versuch, zu erklären, wie es zum Zweiten Weltkrieg kommen konnte. Einzelne Szenen fügen sich zu einer scheinbaren Erklärung des grossen Ganzen zusammen. Die Tagesordnung liest sich bisweilen wie eine Art Geschichtsbuch. Es sind hier allerdings Episoden in Hinterzimmern der grossen Politiker beschrieben, welche die historischen Begebenheiten formen. Dies führte die Diskutierenden zu der Frage, was denn Geschichte überhaupt sei. Aber bei derart bedeutsamen Fragen konnte nicht lange verweilt werden, war die Zeit für die Diskussion doch knapp bemessen.

Mit Gianna Molinaris Hier ist noch alles möglich wurde des Weiteren ein Buch besprochen, welches den Anwesenden womöglich am ehesten ein Begriff war, ist es doch eines der Bücher, welches auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises steht und von den Medien hoch gelobt wurde. Das literarische Terzett befasste sich durchaus kritisch mit dem Roman und der Frage, wie viel Konstruiertheit ein solcher denn verträgt. Zur Sprache kam unter anderem das Literaturinstitut in Biel, wo Molinari ihr Handwerk gelernt hat. Die Frage, ob bei solchen Romanen von «Institutsprosa» gesprochen werden darf, konnte lediglich angeschnitten werden.

Mit Jennifer Egans neustem Roman Manhattan Beach kam ein zweites Mal ein Text zur Sprache, welcher sich mit der Vergangenheit beschäftigt. Der historische Roman ist im New York der Dreissiger- und Vierzigerjahre situiert und vereint unterschiedliche Genres. Thema des Buches ist die Kriegszeit, die Emanzipation der Frauen, die Mafia oder auch, und vor allem, das Tauchen in der trüben Unterwasserwelt des Hafens. Und dies ist noch längst nicht alles. Egan hat gründlich recherchiert und in ihrem Roman eine immense Stoffauswahl verarbeitet. Die Debattierenden waren sich einig, dass Egan womöglich zu viele Details in die Geschichte einzuflechten versucht hat. Mit dem Resultat, dass der Text bisweilen überladen wirkt.

Das Festival Zürich liest ist für dieses Jahr wieder Geschichte. Aber die Zürcherinnen und Zürcher lesen weiter. Nun ist es an den Besuchern des Festivals, sich auf die lesenswerten Bücher der Saison einzulassen und sich selber eine Meinung zu den Werken zu bilden.

Schreiben und Denken in der Kunsthalle

Im Rahmen des «Wochenendes über Schrift» findet in der Kunsthalle am Sonntag Nachmittag eine Reihe von Kurzvorträgen über das Verhältnis zwischen Schreiben und Denken statt. Dabei geben WissenschaftlerInnen Einblicke in ihren aktuellen Forschung. Am spannendsten ist der Vortrag der Germanistin Christa Dürscheid über den Einfluss der Schreibwerkzeuge auf das Schreiben im heutigen Zeitalter. Sie erwähnt mit Humor wie die Autokorrektur auf dem Smartphone «dir» durch «Bier» ersetzt und so einen spielerischen Umgang mit der Sprache ermöglicht. Die Linguistin zeigt auch, wie die immer häufigere Verwendung von Emojis anstelle von ganzen Wörtern dazu führt, dass unser digitales Schreiben immer mehr aus Bildern und immer weniger aus Buchstaben besteht. Die Zuhörer sind u.a. auch eingeladen, nach China, Japan, Nordafrika oder noch Indien zeitlich in Gedanken zu reisen. Es stellt sich z.B. heraus, dass Schrift in ihren Anfängen nicht nur der Kommunikation diente, wie man aus heutiger Perspektive annehmen könnte, sondern in den unterschiedlichen Kulturräumen zu rituellen, wirtschaftlichen oder noch verwaltungstechnischen Zwecken eingesetzt wurde. Vieles mehr wird in den 30 minütigen Vorträgen präzise angesprochen, aber es stellt sich die Frage, ob der Fokus nicht mehr auf die Vermittlung hätte gesetzt werden können: Wörter wie «logographisch» oder «phonographisch» – um nur einige zu nennen – hätten eine genauere Erklärung verdient. Es hätte ausserdem auf teilweise komplizierte Detaillierungen zugunsten der besseren Veranschaulichung verzichtet werden können. Nach zwei Stunden ununterbrochener Vorträge ist man froh, sich mit einer klassischen indianischen Performanz erholen zu dürfen. Der nächste Schritt der Veranstaltung ist interaktiv gedacht: An fünf Stationen, die im Saal verteilt sind, darf man selber experimentieren, Ansichtskarten auf japanisch schreiben, Memory spielen und noch viel mehr. Die Wissenschaftler sind sehr zugänglich, beantworten unsere Fragen und lassen sich auf spontane Gespräche ein. Eben: Wissenschaft kann auch Spass machen.

 

 

 

«Ein Drittel NZZ»

Die Bibliothek der Museumsgesellschaft am Limmatquai hortet seit 1834, was Zürichs Bildungsbürgertum liest. In die öffentliche Studierstube mit dem exquisiten Fensterblick und dem noch heute erahnbaren Flair eines Gentlemen‘s Club zog es schon Keller, Joyce, Lenin und Trotzki – ihre Benutzerausweise kursieren heute Nachmittag unter den Besuchern, kommentiert von Bibliotheksleiterin Mirjam Schreiber: «Wir wissen nicht genau, was James Joyce bei uns gemacht hat, aber wir sagen immer, er habe hier den Ulysses geschrieben.»

Die Raritäten, die Schreiber liebevoll mit Anekdoten spickt, umfassen Erstausgaben, Kuriositäten aus dem Schriftverkehr oder das Desiderienbuch für die Leserschaft, das auch mal eine virulente Debatte um die Anschaffung des «Blicks» vor sechzig Jahren dokumentiert. Beschwerden über die Beleuchtung des Lesesaals erhellen die Lebensverhältnisse der bibliophilen – und bereits ebenso eloquent-nörgeligen – Vorgängergenerationen: auf den Gestank der Talgkerzen und die unerträgliche Hitze der Gaslampen folgt der unzumutbare Lärm der Stromgeneratoren, die die ersten Glühbirnen speisen.

Versammlungsort für die Führungsbesucher ist das Debattierzimmer im dritten Stock. Auf den Wandvitrinen stehen ästhetisch verfeinerte Aschenbecher mit Schildchen, die ich zunächst für einen Teil der historischen Reliquien halte – tatsächlich darf hier aber diskutiert, gegessen, geraucht werden. Da weht er noch, der liberale Geist der 1830er Jahre, einer Zeit des Aufbruchs, der Verfassungsänderungen, der Zensuraufhebung für Zeitungen. Gut siebzig Jahre später werden sogar eine Frau und drei Fräuleins in der Leserschaft verbucht, darunter die «erste Schwimmerin Zürichs».

Nach der Einführung flüstern wir durch den Lesesaal, schlängeln in Einerkolonnen vorbei am altehrwürdigen Bücherbestand im Keller. Dass diese Lesegesellschaft als eine von wenigen in der Schweiz noch heute existiert, im Jahr 1999 sogar um das Literaturhaus erweitert werden konnte, verdankt sie auch der vorteilhaften Lage. Miete zu bezahlen wäre hier unmöglich, dank der Geschäfte im Erdgeschoss finanziert sie sich zu guten Teilen selbst. Auch die Mitgliederbeiträge sind annehmbar – falls man zum kulturellen one percent Zürichs gehören möchte, kostet das laut Mirjam Schreiber pro Jahr gerade mal «ein Drittel NZZ». Und die Mitglieder sind treu: «Gottfried Keller ist 1846 beigetreten», hier hält sie andächtig inne, «und als Mitglied gestorben». Ein Angebot, das man nach dieser Inaugenscheinnahme kaum ausschlagen kann.

Literatur als Erkältungsbad

Literatur ist eine einsame Angelegenheit, für den Schreibenden wie für den Lesenden. Dennoch weist sie eine soziale Komponente auf, die ebenso wesentlich ist: das Sprechen über sie, das die Leseerfahrung vertieft und – Stichwort Mundpropaganda – ihren Wirkungskreis erweitert. Dieser charmante Vorsatz motiviert am frühen Samstagabend das Blogteam des Schweizer Buchjahrs zur Frage: Wer sitzt da eigentlich auf der Shortlist des Buchpreises? Die Diskussion, geführt von den Studentinnen Selina Widmer und Shantala Hummler, begleitet und eingehegt vom bewährten Kritiker-Duo Steisohn, findet im weiträumigen Ambiente der Kunsthalle statt. «Die Hochhausspringerin», das Debüt der promovierten Filmwissenschaftlerin Julia von Lucadou, spaltet die Runde gleich zu Beginn: Sieht Selina Widmer in der üppigen Metaphorik eine Stärke des Romans, die allerdings auch den Suspense der Geschichte blockiert, und hebt Shantala Hummler die Triftigkeit mancher Details hervor, hält Theisohn dagegen: Zwar sei der Topos der Transparenz eine literarische Mode und der Roman eine Art Schössling von Dave Eggers «The Circle», gleichwohl findet er: «Transparenz macht nur Sinn, wenn es auch etwas zu zeigen gibt.»

Der zweite besprochene Roman, «Die Überwindung der Schwerkraft», Heinz Helles Drittling, ruft dagegen nur wenig Einwände hervor. Zwar erweist sich Hummler als kenntnisreiche Cover-Kritikerin (die Gestaltung des Helle-Romans gelinge mithilfe eines Bildbearbeitungsprogramms «in ein paar Minuten») – inhaltlich und sprachlich ist die Runde durchweg angetan. Theisohn etabliert ein Drei-Stufen-Modell für Helles bisheriges Werk: Erstling «missraten», Nachfolger «solide», vom dritten nun ist er endlich «überzeugt». Steier erläutert die Parallele zu Bärfuss: Der abwesende Koala ist hier der tote Bruder des Erzählers und repräsentiert die Epoche vor den digital natives, stirbt ohne Smartphone, iPad usw: «Das ist noch alte Schule», bilanziert er. Der Roman, finden alle Anwesenden, sei zwar kein «Stream of Consciousness», aber durchgeplaudert, ein Suff-Talk jammernder Männer über die Schrecken des 20. Jahrhunderts («Das 21. Jahrhundert hat ihn nicht so fertiggemacht»).

Auch das dritte besprochene Buch ist ein Debüt-Roman: «Hier ist noch alles möglich», von Gianna Molinari. Hummler stellt den Roman um eine junge Frau und einen Wolf sehr detailliert vor, der in der Tendenz eine eher positive Resonanz erfährt. Durchweg Anerkennung findet Vincenzo Todiscos Roman «Das Eidechsenkind». Todisco, der bislang nur auf Italienisch publiziert hat, schreibt hier erstmals in deutscher Sprache eine, wenn man so will, Secondo-Geschichte. Theisohn beweist seine Marvelisierung, indem er zum «Eidechsenkind» flugs Spiderman assoziiert, Shantala Hummler wiederum erkennt eine vor allem poetologische Nähe Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat». In Verbindung mit Molinaris «Wolf» macht die Vokabel der «Animalisierung» der Schweizer Literatur die Runde, die Theisohn, der sich zu diesem Thema selbst zitiert, mit einem Selbstkommentar beschliesst: «Isso.»

Zuletzt knöpfen sich die Fantastic Four auf der Bühne Peter Stamms neuen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» vor. «Endlich traut er sich mal was», wird würdigend anerkannt, dennoch mündet das Gespräch in ein ernüchtertes Urteil: «Ein typischer Stamm.» Steier erkennt ein «Stimmungssfumato», «von Stamm durch die Fischerorgel gedreht», und Selina Widmer fragt vorsichtig, aber bestimmt: «Ich weiss nicht, wie es euch mit den Frauen ging, aber …» Ihr stossen die idolisierten Frauenfiguren Stamms auf. Die Runde nickt beifällig: Nach Theisohn fehle noch immer «die vulgäre, schlagkräftige Barfrau». Dennoch, lesen könne man das, schliesst Steier, das sei «Literatur als Erkältungsbad».

Fünf Bücher, vier Kritiker – das Missverhältnis erklärt sich durch den kurzfristigen Ausfall Tom Kummers, der der Gruppe, die sich in der Gemeinschaft vom Leiden an schlechter Literatur therapierte, sicher gut getan hätte. Es wurde ein Format, das trotz aller Freiheiten leider in erster Linie für Soliloquys genutzt wurde. Steier, der Barracuda im Aquarium des Schweizer Literaturbetriebs, der nie Luft zu holen scheint, münzte die eigene Lust am Parlieren elegant und selbstkritisch um in eine Deskription von Helles Roman («ein Redestrom wie jetzt meiner»), gelegentlich zärtlich unterbrochen von Philipp Theisohn («Ich will ja nicht stören, aber ..»). Ausgesprochen unterhaltsam, etwas mehr scripted reality käme der Veranstaltung aber doch zugute. Literatur muss nicht zwangsläufig in Einsamkeit münden, jedenfalls nicht für die Lesenden: Gegen Ende drängt Steier zur Bar, das Publikum beugt sich seiner auctoritas.

LEBENSLÄNGLICH

Im Publikum ist weder ein Räuspern noch die geringste Bewegung zu bemerken, als Lisbeth Herger im Sozialarchiv von den Schicksalen der beiden ehemaligen Heimkinder Diana Bach (*1948) und Robi Minder (*1949) erzählt. In höchster Stille hören wir ihren Ausführungen zu und sind dabei fassungslose, traurige und zugleich bewundernde Zuhörer.

Diana Bach und Robi Minder verbrachten ihre Kindheit in den 1950er-Jahren im streng religiös geführten Kinderheim Villa Wiesengrund. Dieser Ort, alles andere als Geborgenheit und Wärme spendend, erschwert das Leben der beiden Protagonisten enorm. Ihr Alltag ist geprägt von Angst, Willkür und Gewalt. Posttraumatische Belastungsstörungen begleiten sie bis heute. Fünf Jahrzehnte später treffen die beiden bei Archivrecherchen wieder aufeinander, beginnen miteinander zu schreiben und beschliessen dann gemeinsam, ihre Vergangenheit nach aussen zu tragen. Sie stossen auf die Autorin Lisbeth Herger, die sich beruflich dem biographischen Schreiben widmet, und bitten Sie, ihre Geschichte auf der Grundlage von zahlreichen Akten, Mailverkehr und mündlichen Erzählungen aufzuschreiben.

Es entsteht ein unglaublich ehrliches, berührendes Buch, in dem in einem ersten Teil von der Vergangenheit berichtet wird und in einem zweiten Teil anhand des heutigen Briefwechsels die lebenslänglichen Folgen aufzeigt sowie Fragen nach Wiedergutmachung verhandelt werden. Es ist bewundernswert, wie die beiden Persönlichkeiten den Schritt nach aussen gewagt haben und ein dunkles Kapitel der Schweizer Vergangenheit sichtbar machen. Bei der Lesung sind auch sie anwesend und bieten den Erzählungen mutig das Gesicht.

Rühmenswert ist auch die Herangehensweise der Autorin, die sich durch Berge von Akten gekämpft und umfangreiche Recherche betrieben hat, um ein möglichst treues Bild der beiden abgeben zu können. Dabei berichtet sie sachlich und bleibt nahe bei den Fakten. Trotzdem schafft sie es mit ihrer ruhigen Sprache, die Grausamkeit, den Schmerz und die Melancholie bemerkenswert nachzuzeichnen, ohne dabei beim Lesenden nur Mitleid erzeugen zu wollen. Lisbet Herger hat eine unglaubliche Gabe, sich in die Geschichten der ehemaligen Heimkinder hineinzuversetzen und ihnen mit grossem Respekt Gehör zu verleihen.