«Keyboard Cat» ist tot. Es lebe die Schadenfreude

Youtube hätte so viel zu bieten: Politische Videos, Raum zum Experimentieren für neue journalistische Formate, Vlogs, How-Tos, wirklich abgefahren merkwürdige Beiträge, Kurzfilme, Serien – die Liste könnte noch ewig weitergehen. Aber.

Der Veranstaltungstitel «NZZ Folio durchforstet Youtube» war jedenfalls denkbar schlecht gewählt. Die Redaktion hat sich entschieden, zwei Themenbereiche abzudecken und dazu je eine Reportage vorzulesen; meine Hoffnung auf eine Vielfalt von Videos aus verschiedensten Sparten wurde sofort enttäuscht. Insbesondere, als klar wurde, womit es losgeht. Eine halbe Stunde lang Katzenvideos, gleich zu Beginn! Wenn man schon beim erstbesten Baum des Waldes Halt macht, kann von durchforsten ja nicht wirklich die Rede sein. Bis man «Grumpy Cat» oder «Keyboard Cat» findet, muss man nun wirklich nicht weit graben. Zugegeben, die Videos dienten eigentlich nur der visuellen Untermalung einer Reportage, die sich in einiger Tiefe mit diesem Urphänomen auf YouTube auseinandersetzt, und die ein paar Informationen zutage führte, die dem im Durchschnitt deutlich über 50-jährigen Publikum noch unbekannt gewesen sein mögen. Beispielsweise wurde berichtet, dass kurioserweise die meisten Onlinekatzen, die sich grosser Popularität erfreuen, unter Krankheiten leiden, die ihr Aussehen besonders drollig erscheinen lassen, oder die dazu führen, dass die armen Tierchen nicht einfach weglaufen, wenn man sie zwecks einer besonders niedlichen Filmaufnahme an irgendeinen lächerlichen Ort setzt. Oder dass die berühmtesten Katzen locker auf eine Milliarde Klicks kommen, eine riesige Fangemeinschaft haben und darum auf einen Manager und auf bis zu vier – menschliche – Bodyguards und ein – tierisches – Stand-in bei Drehs angewiesen sind.

Der zweite, leider kürzere Abschnitt der nur knapp stündigen Veranstaltung widmet sich dann zum Glück einem interessanteren Themenbereich: der Wissenschaft. Speziell einem ganz neuen wissenschaftlichen Ansatz, der das ursprüngliche Konzept hinter Youtube (Unterhaltung) raffiniert unterläuft und die Videos als eine Art Crowdsource-Datenquelle nutzt. So wird zum Beispiel eine Serie von Videos von Menschen, die auf der Strasse hinfallen – «Old people falling» des Users multifanboy101 – neu von Gerontologen genutzt, um festzustellen, ob bei den Fallenden erkannt werden kann, dass ihre geistige Gesundheit beeinträchtigt ist, ob sie verwirrt wirken, oder ob sie von der Strasse abgelenkt waren. Oder – der Reporter verzieht beim Vorlesen keine Miene – die Studie über «The Hydrodynamics of Defecation», die ein universelles mathematisches Modell des Stuhlgangs entworfen hat, aufgrund dutzender Videos von kackenden Tieren auf Youtube.

Zwei typisch menschliche Verhaltensweisen, die Schadenfreude und das Gaffertum, die durch die Möglichkeit, via YouTube schnell Videomaterial zu verbreiten noch einmal massiv an Fahrt gewonnen haben, können durch diesen neuen Zugang nun auch produktiv genutzt werden. Darüber würde man gern noch mehr erfahren.

Die Veranstaltung hat nicht eingehalten, was sie im Programm versprach (auch der Leiter des NZZ Folio sprach noch bei der Anmoderation zunächst noch von einem «gemütlichen Videonachmittag»), aber ein bisschen wohlverpackter Fäkalhumor kann auch der grimmigsten Katze doch noch ein Lächeln aufs Gesicht zaubern.

Für uns bei «Zürich liest»:
Simon Leuthold

Simon Leuthold studiert Zürich und lebt zuweilen in der Deutschen Literatur und Sprache.

Sein kleines ABC: Auster, Boyle, Chomsky, Dürrenmatt, Eggers, Frisch, Goscinny, Herrndorf, Ibsen, Janosch, Kleist (und Kerouac), Lexer, Mitchell, niemand mit N, O’Brien, Poe, Quality Land, Rilke, Seinfeld, Tieck, Unsinnslyrik, Vanitas, Walser (und Wallace), Zürigschnätzletzs.

Aber nageln Sie ihn bitte nicht zu sehr darauf fest. Ein ansehnlicher Teil davon ist nur Angeberei. Genau wie auch seine formschöne Achtzigerjahre-Olivetti.

Im Frühjahr schon beim Blogteam der Solothurner Literaturtage dabei, freut er sich jetzt sehr auf die letzte Oktoberwoche. Wenn ganz Zürich liest, will er wissen, was da alles läuft – und zwar sowohl auf, als auch neben den Bühnen. Besonders gespannt ist er auf den Generationenclash zwischen Franz Hohler und Lara Stoll, sowie auf die Youtube-Session mit dem Feuilleton der NZZ. Er hofft, dass die NZZ die Liste der «Important Videos» kennt.