Edition Unik: Jenseits des «Weisch no»

«Sie haben noch nicht das Alter», raunt mir meine etwa 75jährige Nebensitzerin zu. «Man weiss ja nie», entgegne ich, «aber meinen Sie, es geht hier vor allem um das Alter?» «Nein, das Interessante ist ja das Konzept. Ich schreibe ja auch schon lange, aber ich brauche ein Konzept.» Und ein Konzept bekommt man hier. Die Edition Unik, 2014 von Martin Heller ins Leben gerufen, gastiert heute im Erkerzimmer des Zentrums Karl der Grosse. Es handelt sich bei der Edition um kein beliebiges Schreibprojekt, keinen Book on demand-Betrieb, keinen Kurs im literarischen Schreiben. Viel eher könnte man von einer Herausforderung sprechen: Wer am Projekt teilnimmt, der stellt sich der Aufgabe, in knapp siebzehn Wochen sein Leben literarisch zu ordnen, vielleicht: es auch literarisch zu verstehen. Mithilfe einer App treten Menschen mit ganz unterschiedlichem Lebenshintergrund in einen Schreibprozess ein – und am Ende steht dann ein Buch, von dem ein Exemplar als Zeitdokument bei der Edition verbleibt, zwei andere in den Besitz der Urheberin oder des Urhebers übergehen. So floriert in der Edition Unik in grossem Stil und erstaunlicher Breite eine Textsorte, die man mit Jean Paul eine «Selbsterlebensbeschreibung» nennen könnte. Und nicht nur von Einzeltext zu Einzeltext, sondern gerade in der Zusammenschau der Autobiographien könnte sich hieraus ein beeindruckendes Archiv des Psychologisch-Privaten für zukünftige Generationen ergeben.

Am heutigen Sonntag sind allerdings erst einmal die Jetzigen zahlreich versammelt, mehrheitlich Angehörige der Generation Ü60, unterwandert von einigen jüngeren Semestern. Auf dem Podium sitzen drei AutorInnen der Edition, namentlich Pia Tschupp, Sonja Casutt und Jürg Vogel, begleitet von Kindern und Enkeln, Jürg Vogel von seinem Vater. Es wird Persönliches, bisweilen Persönlichstes gelesen und deutlich wird, dass «sein Leben schreiben» für jeden etwas ganz anderes heissen kann. Für Pia Tschupp ist es das «Weben eines Teppichs von einem Anfang, an den man sich nicht erinnert, zu einem Ende, von dem man nichts weiss». Ihre Geschichte – die sie mit Tochter und Enkelin vorträgt – führt aus einer katholisch geprägten Jugend in der Innerschweiz über eine lange Tätigkeit als Lehrerin in Ghana zurück ins Fricktal. «Löcher» gibt es, beim Weben darf es die Geben (beim Lismen eben nicht), Briefe werden zitiert und in den Text integriert – da schafft jemand Ordnung.
Ganz anders nutzt Sonja Casutt das Konzept der Edition – nämlich als Protokoll einer strapaziösen Krankengeschichte. Seit dem siebzehnten Lebensjahr leidet Casutt an dissoziativen Krampfanfällen; das Leben mit der Krankheit und ihren Folgeerscheinungen zu schreiben, stellte eine enorm anstrengende, therapeutisch zugleich wichtige Aufgabe dar, verbindet sich mit diesem Krankheitsbild doch auch ein «Ausser-Sich-Sein», mithin ein Zustand, der sich erzählerisch gerade nicht mehr ohne weiteres fassen lässt. Nicht von ungefähr haben an Casutts Text auch ihre Kinder mitgewirkt, die ihrer Geschichte zugleich die Aussensicht stiften.

In humoristischen Anekdoten wiederum versucht Jürg Vogel seine Adoleszenz festzuhalten. Zwischen Skiliftanlage, Zahnarztbesuchen, Erinnerungen an das Kollegium Engelberg wird auch hier eine Vergangenheit erkennbar, die sich zu retten lohnt – und an deren Erzählung nicht nur Vogel, sondern auch sein Vater immer noch erkennbar Freude haben.

Zeuge wird man an diesem Nachmittag von der strukturierenden, ja vielleicht auch rettenden Kraft des Schreibens. Der literarische Anspruch muss und darf hier gerne zurücktreten, er wird an dieser Stelle gerade einmal nicht gebraucht. Die Bedürfnisse, die hier durch die Literatur gedeckt werden, sind vielmehr elementarer Natur. Und das kommt vor allem anderen.