Unsichtbar – aber spektakulär

Den Menschen am Rande der Gesellschaft eine Stimme zu geben – dies ist das Ziel des Projektes «Invisible Philosophy» des Künstlerduos Stefan Baltensperger und David Siepert. Seit mehreren Jahren beschäftigen sie sich mit dem Thema Migration; passenderweise stellten sie ihre Arbeit im Rahmen von Zürich Liest im Travel Book Shop vor. Für ihre letztes Werk gingen sie in den Grossraum Peking und stellten für einen Tag lang Wanderarbeiter an – sogenannte «invisible people» -, um sich Gedanken über das Leben zu machen und diese auf Papier zu bringen. Die Bedingung: Sie mussten ernsthaft den ganzen Tag daran arbeiten. Zu ihrem Schutz versprachen ihnen die Künstler strikte Anonymität.

Baltensperger und Siepert haben darauf geachtet, Männer und Frauen aus verschiedenen Altersgruppen für ihr Projekt zu gewinnen. Die Arbeiter schrieben meist über Dinge, die sie persönlich bewegen: Familie, Gesundheit, Ausbildung, Geld und Gesellschaft. Ihre Geschichten sind oft berührend: Eine Frau berichtet davon, wie sie zuhause misshandelt wird und fotografiert am Ende des Tages ihren Text, um ihn ihrer Familie zu zeigen. Aber auch abstraktere Gedankengänge gibt es. «Society is too real» schreibt ein Mann, und ein anderer beklagt den Druck des Geldes, das alles bestimmt – selbst Gott sei nicht allmächtig ohne Geld. Einige kommentieren auch, dass dies das erste Mal seit Langem sei, dass sie sich Gedanken über das Leben machen könnten oder danach gefragt würden. Das Projekt entfaltete somit doppelte Wirkung – für viele der Arbeiter genauso wie für uns Betrachter, die wir mit neuen Perspektiven konfrontiert werden.

Die Künstler sprachen auch über die vielfältigen Schwierigkeiten, mit denen sie umgehen mussten. Viele Arbeiter trauten sich die Arbeit nicht zu. Anderen war das stundenlange Schreiben zu anstrengend. Und dann war da noch das Problem der Übersetzung: Viele Tagesphilosophen schrieben in Dialekt oder in simplifiziertem Chinesisch, dass nur schwer in Mandarin, geschweige denn ins Englische, übersetzt werden kann. Drei Übersetzer brauchten mehrere Durchgänge, um ein zufriedenstellendes Resultat zu erreichen.

Diese Herausforderungen formten die Buch-Form, in der sie das Projekt publizierten. Maschinengeschriebene Übersetzungen in Mandarin und Englisch machen den Kern des Buches aus. Buchstäblich zwischen den Zeilen scheinen die originalen Abdrucke der Handschrift der Arbeiter durch: In japanischer Bindung wurden je zwei Seiten zusammengeklebt und die entstandenen Innenräume mit den Originaltexten bedruckt. Auch formell spiegelt das Buch somit den Facettenreichtum und die Komplexität des Projektes wieder. Die Arbeiter sind abwesend – unsichtbar – und gleichzeitig immer präsent.

Man kann sich dem Projekt «Invisible Philosophy» somit von vielen Seiten nähern. Man kann es als Denkanstoss nehmen, um über das Leben nachzudenken. Man kann darüber nachsinnen, wie sehr die Sorgen von chinesischen Wanderarbeitern den hiesigen ähneln. Und natürlich darüber, wie interessant es ist, den «unsichtbaren Menschen» zuzuhören. Dies ist der Verdienst dieser Arbeit von Baltensperger und Siepert: Sie macht das Unsichtbare sichtbar.