Geschichten im Schwarzen Raum – Michael Fehr erzählt in der Blinden Kuh

Ein nebliger Sonntagmorgen, die Sinne schlaftrunken – zusammen mit Michelle und Seraphin betrete ich die «Blinde Kuh». Mäntel und Taschen werden eingeschlossen, Notizbuch und Handy abgenommen: festhalten, schreiben und fotografieren, das geht hier nicht – wir werden zu «richtigen» Zuhörerinnen. Obgleich die Dunkelheit der Nacht noch nicht weit zurückliegt, brauchen die Augen Zeit, um sich an das Schwarz zu gewöhnen. Um die süsse Erinnerung an den Schlaf zu bannen, bestelle ich mir einen Kaffee. Irgendwann erlangen die Hände eine Ahnung für den Raum.

Michael Fehr streckt nach eigenen Angaben am Schluss der Geschichte „Welch Einfall“ die Hände weit aus

Das Restaurant füllt sich, lebhafte Gespräche und das Klirren und Klappern der Teller und Gläser erinnern an eine normale Beiz. Die Dunkelheit ist nun nicht mehr beengende Abwesenheit, sondern schärft die Sinne für anderes, auch für Michael Fehrs Stimme, die alsbald den Raum einnehmen wird. Die Süppchen sind leer und die Häppchen weg, als der Lyriker uns mitteilt, dass seine erste Geschichte von Essen handle. Er erzählt von der Königin im Wald, von einer Schlange, die einen alten Mann verspeisen möchte, um ihre stattliche Postur zu bewahren. Sie prahlt ausufernd mit ihrer Schönheit, Grösse und Stärke, die so weit reiche, dass ein Stein von ihrem Biss zu bluten beginne. Der alte Mann verliert ob dieser Selbstinszenierung die Furcht und wagt es, sich von der Schlange zu entfernen. Das Publikum bleibt ratlos zurück, und Michael Fehr verkündet: «So ist die Geschichte fertig».

Er wolle bewusst offen lassen, ob die Schlange lüge oder die Geschichte ein Märchen sei, in der Steine zerbissen werden können. Darin liege gerade das Potential einer Erzählung: die Zuhörer in einem Schwebezustand zu belassen, der Vieldeutigkeit, nicht aber Beliebigkeit bedeute. Denn beliebig ist keine der Geschichten, die uns Michael Fehr an diesem Morgen erzählt. Ihre Sinnkonstruktionen entstehen zwar nicht durch das Abrufen bekannter Muster, aber durch Farben, Bilder, Klänge und Rhythmen.

Um das Publikum zu schonen, habe er mit einer «leichten» Geschichte begonnen, denn andere Texte erzählten expliziter von Gewalt. Ironisierende Distanz zu schaffen, wie er es sich sonst gewöhnt sei – durch Mimik und Gestik seiner zierlichen Statur – gelinge heute nicht. Im Dunkeln sind wir den Worten viel direkter, beinahe schonungslos ausgeliefert.

Doch die «Blindheit» öffnet vielleicht auch einen neuen Zugang zum Raum der Fantasie, für den der Lyriker an diesem Morgen plädiert. Das «westliche Schreiben» sei geprägt vom Psychologisieren und knüpfe an seine Tradition an. Aber vielleicht liege gerade im Mut, sich Neues auszudenken und zu schaffen und dabei das Anknüpfende, Erklärende in den Hintergrund zu rücken, eine wirkliche Kraft. «Ich war schon alt, als ich zu schreiben begann. Ich hatte keinen klaren Platz», sagt Michael Fehr. Durch das Erzählen, vielleicht auch sich selbst erzählen, kann man sich einen Platz schaffen, in Momenten wo man ihn nicht noch zu kennen meint. So brauche es oftmals nur einen kleinen Schritt, um sich zu lösen. Doch liege es in der Natur des Menschen, dass man diesen oft nicht gehen könne – wie der Protagonist in der Erzählung Im Schwarm, der in einer Sommernacht von Mücken zerstochen wird und es nicht schafft, sich aus dem Licht zu begeben.

Als ich die «Blinde Kuh» verlasse, fordert die grelle Sonne eine zweite Gewöhnung, doch die aus Dunkelheit geschaffenen Bilder vertreibt sie nicht. Und mir wird bewusst, dass es weder Stift noch Kamera braucht, um einen Zugang zu gewinnen. In erinnere mich an einen Satz von Kafka: «Die Vorbedingung des Bildes ist das Sehen», sagte Janouch, und Kafka erwiderte: «Man photographiert Dinge, um sie aus dem Sinn zu verscheuchen. Meine Geschichten sind eine Art von Augenschliessen.»

Der Autor ist unsichtbar

«Polonaise» nennt sich die Tanzpraxis, der man sich bedient, um uns in einen völlig verdunkelten Raum zu führen. Das Personal der Blinden Kuh geleitet zu unsichtbaren Tischen, serviert einen kleinen Apéro und steht mit Rat und Tat zur Seite, um sich in diesem verfremdeten epistemischen Zustand zurecht zu finden. Der Raum klingt nicht sehr gross, das Publikum riecht gespannt und das Porzellan in den Händen fühlt sich glatt und weiss an. Man wartet auf Michael Fehr, der hier in der Finsternis bald einige seiner Geschichten aus dem kürzlich erschienenen Band Glanz und Schatten lesen wird – so behauptet man zumindest. Ob der Autor wirklich da ist, bleibt im Dunkeln.

Wie kaum ein anderer erkämpft sich der Berner Autor mit seiner eindringlichen Stimme Präsenz in seinen Texten. Man kennt ihn als den Künstler, der in persona für sein Wort einsteht, umso irritierender ist es, wenn dieser Performer bei seinem Auftritt unsichtbar bleibt. Allerdings macht er das auch nicht zum ersten Mal.

Michael Fehr beim Auftritt (für höhere Auflösung, Augen schliessen)

Eigentlich arbeite er oft mit Gesten und Mimik, wird er uns später in einem kurzen Gespräch erklären, Ausdrucksmöglichkeiten, die im Dunkeln entfallen, alles bliebe an der Stimme zu sagen. Seine letzte Geschichte beendet er sogar mit dem Hinweis, dass er die Arme zu einer beglückwünschenden Geste ausgebreitet habe – natürlich nicht ohne ein unübersehbares ironisches Augenzwinkern.

Wieder einmal beweist ein «Spoken-word»-Künstler, wie unscheinbar und ausdruckslos Wortwiederholungen sind, wenn sie tot auf dem Papier liegen bleiben. Es pulsiert, es lebt. Es ist eine Interaktion mit dem Hörer. Wer Michael Fehrs Texte kennt, dem fällt auf, dass sich der Autor nicht immer ganz an sein Gedrucktes hält. Er ertastet, was in welchem Publikum funktioniert. Da wird eine Phrase wiederholt, die der Text alleine stehen lässt und auch die Mücken in «Im Schwarm» haben heute öfters zugestochen als auch schon.

Für uns bei «Zürich liest»:
Alexandra Wittmer

Im vergangenen Jahr konnte Alexandra Wittmer jeden Samstag an der Theke einer Buchhandlung beobachten, wer in Zürich liest: Da war die junge Frau, die von einer Autorin jeweils in einem Zug das ganze Werk durchnahm, der Gymnasiallehrer, der lange über Literatur sprach, das Reclam-Büchlein aber doch nicht kaufte, oder der Chirurg, der seine «Sternenwurst» im Schutz der Bücherauslagen verzehrte. Davor lebte sie in Berlin und besuchte Vorlesungen an der Humboldt. Gegenwärtig spürt sie im «Schiffbau» als Praktikantin in einer Castorf-Inszenierung den Abgründen in Dostojewskis Erzählungen nach. Sie freut sich, bald mit Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat» und Michael Fehrs «Hörerlebnis in der Blinden Kuh» eine neue Seite des Dialogs mit der Literatur zu öffnen und dabei auf Menschen zu treffen, die schreiben, damit die Limmatstadt lesen kann.