Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Ihre Bewegungen sind unaufgeregt, ruhig. Keine hastig ins Publikum geworfene Worte, als sie die Bühne des neuen Kulturzentrums Kosmos betritt. Kein nervöses Lächeln, als sie sich setzt. Melinda Nadj Abonji nimmt sich Zeit. Behutsam legt sie ihre Brille vor sich aufs Pult, schlägt sie ihr neues Buch auf.

Das erste, was das Publikum zu hören bekommt – nach den zaudernd-einführenden Worten Bruno Deckerts vom Kosmos –, sind die dumpfen Klänge eines Kontrabasses, begleitet vom rhythmischen Spiel auf Perkussionsobjekten aus Konserven, Aludosen und Petflaschen. Mit auf der Bühne sind die beiden Musiker Mich Gerber und Balts Nill.

Der Auftakt zur Buchpremiere im überfüllten Saal ist eine Aufforderung, die Hektik der Langstrasse hinter sich zu lassen, anzukommen. Das Erste, was das Publikum von Melinda Nadj Abonji zu hören bekommt, sind ungarische Worte. Zuerst Worte, die sie begleitend zur Musik ins Mikrofon spricht. Dann Gesang.

Während rund einer Stunde liest die Autorin aus ihrem neuen Roman Der Schildkrötensoldat mit klarer, deutlicher Stimme. Ohne Pause. Im Saal herrscht beinahe andachtsvolle Stille. Die Geschichte von Zoltan Kertesz, dem stotternden Soldaten, der mit seinen himmelblauen Augen voller Poesie auf die Welt blickt, vermag das ausverkaufte Haus zu fesseln. Ihr neues Buch sei aber nicht eigentlich ein Roman – erläutert die Preisträgerin des Deutschen und Schweizer Buchpreises in ihrem Schlusswort –, sondern ein Requiem. Ein Abgesang auf einen verstorbenen Soldaten, der denselben Vornamen trug wie der Titelheld.

Die Premierenlesung von Melinda Nadj Abonjis drittem Roman endet, wie sie begonnen hat: Mit musikalischen Klängen und Sprechgesang. Das Tempo, in dem sich nach dem letzten Satz der Autorin auf einmal alles auflöst, kontrastiert gewaltig mit der geruhsamen Inszenierung der Lesung. Ich für meinen Teil bin noch nicht wieder ganz zurück aus meiner Zuhörertrance, als ich noch rasch mein Handy zücke, um den Moment des Aufbruchs festzuhalten. Bevor Sie gehen: Danke für Ihre Worte, Frau Nadj Abonji!

Für uns bei «Zürich liest»:
Alexandra Wittmer

Im vergangenen Jahr konnte Alexandra Wittmer jeden Samstag an der Theke einer Buchhandlung beobachten, wer in Zürich liest: Da war die junge Frau, die von einer Autorin jeweils in einem Zug das ganze Werk durchnahm, der Gymnasiallehrer, der lange über Literatur sprach, das Reclam-Büchlein aber doch nicht kaufte, oder der Chirurg, der seine «Sternenwurst» im Schutz der Bücherauslagen verzehrte. Davor lebte sie in Berlin und besuchte Vorlesungen an der Humboldt. Gegenwärtig spürt sie im «Schiffbau» als Praktikantin in einer Castorf-Inszenierung den Abgründen in Dostojewskis Erzählungen nach. Sie freut sich, bald mit Melinda Nadj Abonjis «Schildkrötensoldat» und Michael Fehrs «Hörerlebnis in der Blinden Kuh» eine neue Seite des Dialogs mit der Literatur zu öffnen und dabei auf Menschen zu treffen, die schreiben, damit die Limmatstadt lesen kann.