«Ich gehe in den Wald und schreie die Bäume an»

Sonntagmittag im Strauhof. 18 erwartungvolle Literaturfreunde haben sich in den Räumen der James-Joyce-Foundation zu einem Workshop eingefunden, um eine Antwort auf die vielgestellte Frage zu bekommen: «Wie können Sie sich so viel Text merken?» Eine Frage, die der Schauspieler und Regisseur Lukas Waldvogel oft zu hören bekommt. Und auf die er den Teilnehmern eine Antwort zu geben versucht. «Rilke auswendig lernen» heisst der Workhop und das passt – im Strauhof ist gerade die Ausstellung «Rilke und Russland» zu sehen.

Waldvogel berichtet von der Kunst des Memorierens im alten Griechenland. Die Verschriftlichung von Texten war nicht alltäglich, Texte mussten daher auswendig gelernt werden. Dafür gab es eine beliebte Technik: Die Redner konstruierten mentale Landschaften, wo sie den Orten bestimmte Themenkomplexe zuordneten. Während des Vortrags liefen sie durch ihre Landschaften und riefen sich so den Inhalt der Rede ins Gedächtnis.

Interaktion beim Workshop

Diesen Tipp gibt Waldvogel auch den Workshop-Teilnehmern: Bauen Sie sich eine Welt mit dem Text, den Sie lernen wollen. Dafür bieten sich starke Bilder an – je stärker, desto besser. Zunächst muss man aber versuchen, den Text zu verstehen. Waldvogel empfiehlt, dabei alles Vorwissen zu «vergessen» und ganz neutral an den Text heranzugehen.

Das erproben die Teilnehmer an Rilkes Gedicht «Abend» und tauschen in der Runde ihre mentalen Landschaften aus. Diese sind sehr unterschiedlich: Die eine Frau sieht einen baumumstandenen See vor sich, ein Mann dagegen einen Garderobenständer mit verschiedenen Mänteln. Eine andere Teilnehmerin denkt ans Theater und die nächste an ganz abstrakte Ortschaften. Waldvogel ermutigt die Gruppe, individuelle Zugänge zum Text zu finden. Schön zu wissen: Dabei gibt es kein Richtig oder Falsch.

Zusammen mit einem Partner erarbeiten sich die Teilnehmer dann Rilkes Gedicht. Sie tragen es sich gegenseitig vor und ergänzen bei jedem Durchgang ein Stück mehr. Am Ende des Workshops schaffen es die meisten, die erste Strophe auswendig zu rezitieren. Für den Rest können sie nun Waldvogels Geheimtipp beherzigen: «Ich gehe in den Wald und schreie die Bäume an.»

Theresa Pyritz, Julien Reimer

Jetzt sind Sie dran, versuchen Sie’s!

Abend

Der Abend wechselt langsam die Gewänder,
die ihm ein Rand von alten Bäumen hält;
du schaust: und von dir scheiden sich die Länder,
ein himmelfahrendes und eins, das fällt;

und lassen dich, zu keinem ganz gehörend,
nicht ganz so dunkel wie das Haus, das schweigt,
nicht ganz so sicher Ewiges beschwörend
wie das, was Stern wird jede Nacht und steigt –

und lassen dir (unsäglich zu entwirrn)
dein Leben bang und riesenhaft und reifend,
so daß es, bald begrenzt und bald begreifend,
abwechselnd Stein in dir wird und Gestirn.

Rainer Maria Rilke

«Hour of Power» für Dorothy Parker mit Nora Gomringer

«Das Herz ist das Organ, um das es geht bei Dorothy Parker» – so startet Nora Gomringer in den Samstagmorgen. Und ist mit viel Herzblut dabei. Das Setting könnte kaum stimmiger sein, im geschichtsträchtigen Café Odeon am Zürcher Bellevue haucht sie der Lyrik Parkers neues Leben ein. Das Odeon präsentiert sich dabei als eine Art Zürcher Pendant zum Algonquin Hotel, in dem Parker einst ein und aus ging und in dem  New Yorks reputable Journalisten damals ihren ersten Feierabend-Martini tranken.
Stilecht hat auch Gomringer einen solchen vor sich stehen und ist ganz im Stile Parkers gekleidet. An der berühmten «round table» haben sie gesessen, die happy few der New Yorker Kunstszene, die ab dem Frühsommer 1919 regelmässig dort anzutreffen waren. Zeitlich knüpft diese Periode unmittelbar an die Blüte der Zürcher Dada-Bewegung an, die sich bekanntlich im Odeon zu formieren begann. Ohnehin hat das Haus eine reiche literarische Tradition. Heute nun fanden diese beiden Welten zusammen.
Umständehalber aus Basel angereist, bringt Gomringer den ganzen Charme der 30ties und 40ties – vor allem aber den ganz individuellen Charme Parkers – mit nach Zürich. Ganz ergriffen ist die Bambergerin vom scharfzüngigen Charme und ironischen Schalk dieser grossen Lyrikerin, die sie mit 16 Jahren für sich entdeckt hat. «Die musst du lesen, die erzieht zur Romantik», sagte die Mutter damals zu ihr. Erst allmählich hat Gomringer erkannt, wie dies zu verstehen war. Heute nun nimmt sie ihr Publikum ein für diese «ehrliche Frau mit der Fähigkeit, mit wenigen Worten viel Witz zu verbreiten».
 

Die für ihr eigenes Werk bereits vielfach preisgekrönte Dichterin liest auf Deutsch und Englisch, erzählt charmante Anekdoten und trägt die Gedichte als traurig-schöne Jazz-Melodien vor. «Wenn Sie sehen könnten was ich sehe, so viele schöne Gedichte!», sagt Gomringer augenzwinkernd zum Publikum. Die Gedichte handeln meist von unglücklicher Liebe, doch nicht nur. Parker befand sich stets in Gesellschaft eines Dackels mit dunklem Fell. Der letzte dieser Art, der sie bis zu ihrem Tod begleitete, trug den sprechenden Namen «C’est tout.» Ihm widmete Parker ein paar besonders witzige Zeilen, welche die innige, aber auch ambivalente Beziehung von Tier und Mensch andeuten. Ein weiterer Text gibt den inneren Dialog einer Walzer tanzenden Frau wieder. «I’d love to waltz with you», beteuert diese noch, während sie ihren Tanzpartner gedanklich bereits in Stücke reist. 

Lauscht man den emphatischen Realisierungen dieser geistreichen Texte, so kann man sich durch Gomringers leidenschaftliche und authentische Einverleibung letztlich nicht erwehren, diese feinfühlige und bissige Künstlerin lieben zu lernen. Parkers Texte ermöglichen diese Zuwendung zu weiten Teilen gerade auch durch ihren zuweilen erfrischenden Gehalt an Selbstironie. Man spürt aus ihnen  ein ambivalentes Verhältnis zum anderen Geschlecht heraus. Gerade diesbezüglich erweisen sich Parkers selbstkritische Reflexionen als wohltuend. Sie versöhnen einen sofort mit diesem mehrfach gebrochenen Herzen. So lautet denn die zweite Strophe von Parkers Gedicht  «On being a woman»:

 

And why with you, my love, my lord,
Am I spectacularly bored,
Yet do you up and eave me – then
I scream to have you back again?

Gomringer performt aber nicht nur überzeugend, sondern reflektiert ihrerseits die Texte sowie den eigenen Umgang damit. So empfindet sie Parkers «Frustration», womit sie den Lyrikmorgen beendet, als ein aus heutiger Perspektive schwieriges Gedicht. Künstlerisch trägt sie dem in so weit Rechnung, als sie das Gedicht gesanglich adaptiert, wodurch dieses eine neue Dynamik bekommt. Gomringer selbst stellt sich in ihrem Vortrag ganz in den Dienst der Sache, erscheint gewissermassen als Medium, durch das der Geist Parkers spricht. So schliesst man sich ihr gerne an, wenn sie zum Schluss auffordert: «Lesen sie Dorothy Parker!» und wünscht sich, dass dieses Plädoyer schon bald ein «superfluous advice» werde.

 

Kurz nachgefragt

 

Bereits vor einem Jahr stand der Name Gomringer gross im Programm von «Zürich liest’16». Die Ausstellung «Gomringer & Gomringer», kuratiert von Gesa Schneider und Rémi Jaccard im Zürcher Museum Strauhof, gab einen sehr persönlichen Einblick in die Dichterleben von Vater und Tochter Gomringer. Wir vom Schweizer Buchjahr wollten von ihr wissen, wie es ist, wieder in Zürich zu sein, und ob sie viele Rückmeldungen zur Ausstellung erhalten hat. «Ich bin ja kaum angekommen», erwidert sie schmunzelt. Und wirklich, die Dichterin kam am Abend zuvor in Basel an und hat es nach einer kleinen Zug-Odyssee just auf den Start ihrer Lesung ins Café Odeon geschafft. Aber nach so viel Stress gibt es dennoch Entwarnung: Ja, sie erhalte noch immer positive Feedbacks zur Ausstellung des letzten Jahres und wünscht sich, diese an anderen Orten erneut zeigen zu können. Wir drücken die Daumen. 
Fabian von Hermann unter Mitarbeit von Carla Peca